Von Verena Elisabet Eitel
Abstract
Die Bedeutung von 360°/VR– und AR-Technologien im Aufführungskontext nimmt kontinuierlich zu. Digitale Bildpraktiken also, die sich in Hinsicht auf traditionelle Bewegtbild-Anordnungen durch Mobilisierung, Dynamisierung und Interagieren beteiligter Akteur:innen auszeichnen. Diese werden in Wechselbeziehung mit Neuformierungen innerhalb medialer Aufführungen gesetzt. In der Analyse der künstlerischen Projekte „Fluss“ (Kötter/Seidl 2019), „Verrat der Bilder“ (Nico and the Navigators 2019) und „Dear Former Past, …“ (cylixe/ghostrich 2022) wird über den Zugang analoger und virtueller Bewegungskonstellationen eine Praxis der Befragung und Erweiterung des Bewegtbildes mit der seiner Anordnung zusammengelesen. Daraus erschließt sich die Idee einer performativen Statusverschiebung des Bewegtbildes als Augmentation, die jenseits der Pole virtuell und real auf reflexiv-hybride Bildräume setzt.
The importance of 360°/VR and AR technologies in the performance context is constantly increasing. In other words, digital image practices that are characterized by the mobilization, dynamization and interaction of participating actors in relation to traditional moving image arrangements. These are interrelated with new configurations within media performances. In the analysis of the artistic projects “Fluss” (Kötter/Seidl 2019), “Verrat der Bilder” (Nico and the Navigators 2019) and “Dear Former Past, …” (cylixe/ghostrich 2022), a practice of analyzing and expanding the moving image is combined with its arrangement through the access of analog and virtual movement constellations. This gives rise to the idea of a performative shift in the status of the moving image as an augmentation that goes beyond the opposite poles of virtual and real to reflexive-hybrid image spaces.
1. Einleitung
Künstlerische Gebrauchsweisen von VR– und AR-Technologien in den Aufführungskünsten nehmen seit einigen Jahren stetig zu. Das Interesse von Performance und Theater an diesen Entwicklungen lässt sich mit dem Potenzial erklären, Erzähl- und Wahrnehmungsräume um (vermeintlich) beliebig herstellbare, virtuelle Realitäten zu erweitern und durch die digitalen Praktiken neue Darstellungsformen zu ermöglichen. Attraktiv und reizvoll genug für die Raum- und Präsenzkunst Theater, ihrem Publikum das Eintauchen in fremde Welten zu ermöglichen, dem Wunsch nach immersiver Erfahrung mit Bildwelten ferner historischer Zeiten, fremder Länder und Landschaften oder fiktiver Wirklichkeiten zu begegnen.[1] Das ‚Verschwinden‘ größerer Gruppen hinter dem Head-Mounted Display und der VR-Brille oder das Versinken des Blicks der Teilnehmenden im Display des Smartphones lässt solche Aufführungs-Anordnungen von außen betrachtet oft irritierend wirken; die erweiterten Bildwelten als eigentliche Attraktion werden nur sichtbar durch die Abschottung von außen, die Fixierung am technischen Apparat und einer Aufspaltung des Bewegungsvermögens. Muss der physische Raum in der Wahrnehmung zurücktreten, die Ko-Präsenz der Vereinzelung weichen, damit das Virtuelle seine Wirkung entfalten kann? Das ruft schnell Bedenken hervor, es könnte zu einer einseitigen Dominanz des physischen Raums durch den virtuellen führen; zumal die Technologie von Kritiker:innen im Verhältnis zu anderen Anwendungsbereichen häufig noch als unzureichend umsetzbar und in ihrer Wirkung enttäuschend beschrieben wird, um mit den Attributen des analogen Raums überhaupt in Konkurrenz treten zu können.
Diese neuen Praktiken digitaler Bewegtbilder im Rahmen der Spielarten von 360°-Film, VR oder AR im Aufführungskontext gehen in jedem Fall mit sich erweiternden und verlagernden Formen von Mobilität innerhalb des Anordnungsverhältnisses einher. Dies betrifft das Bild, seine Präsentationsweise, den Körper ebenso wie die Bewegungs- und Handlungspotenziale der zuschauenden bzw. teilnehmenden Akteur:innen, was als Konstellation wiederum auf Konstruktion und Wahrnehmung des Bildes zurückwirkt. Die Frage nach dem erweiterten Bewegtbild selbst steht damit in unmittelbarer Wechselbeziehung mit seiner, in Bezug auf unterschiedliche Bewegungspotenziale erweiterten, Anordnung.[2]
Der Kontext dieser Aushandlungen ist eine Theaterlandschaft, die zunehmend die Erweiterungspotenziale des Digitalen in ihre Aufführungspraxis integriert, und dabei von einem (physischen) Realitätsbegriff ausgeht, der so weitreichend mit dem Digitalen verbunden ist, dass in trennenden Kategorien zu denken, nicht mehr produktiv ist. Technikaffin, aber technikkritisch wird nach erweiterten Ko-Präsenzen und Realitäten gefragt. Bei allen Experimenten bleibt für die Aufführungspraxis der analoge Raum wesentliche Referenz – Hybridität und Re-Konfiguration stehen im Zentrum, wenn es darum geht, in Auseinandersetzung mit Realität bzw. Realitäten zu treten.[3] Das Virtuelle wird als medial erzeugt in Unterscheidung zum Physischen, und in diesem Sinne wirksam und interagierend erfahrbar, nicht aber als dichotomisch zum Realen begriffen. Mit der infrastrukturellen und institutionellen Verankerung[4] digitaler Gebrauchsweisen in den Aufführungskünsten, die sich in den letzten Jahren beobachten lässt, geht eine Professionalisierung einher, die nicht die Perfektionierung der Technologien, sondern die forschende Auseinandersetzung in Form künstlerischer Praxis in den Mittelpunkt stellt.
In diesem Beitrag möchte ich die drei künstlerischen Projekte „Fluss (Stadt Land)“ (2019), „Verrat der Bilder“ (2019) und „Dear Former Past, …“ (2022) vorstellen, die 360°-Film in VR und AR-Technologie nutzen, um Wahrnehmungsprinzipien zu befragen und mit deren Voraussetzungen in Aushandlung zu treten. Auch wenn sich die Beispiele auf diese Technologien stützen, ist die Frage nach hybriden und individuellen Formen der Wahrnehmung, die in der Konfrontation virtueller zu anderen Bild- und Wahrnehmungsräumen erfahrbar werden[5], leitend. VR– und AR-Diskussion bleiben als Referenzen[6] im Hintergrund, hier markant unterschieden von Oliver Fahle: „Während die VR auf Immersion setzt, insofern als das Subjekt die Realitätsstufen nicht mehr unterscheiden können soll, setzt die AR auf Partizipation, also auf teilweise Ersetzung der referenziellen Realität durch eine gerechnete.“ (Fahle 2006: 91)
Die Dynamisierung des Verhältnisses von (Bewegt)Bild, räumlicher Anordnung und Akteur:in als Basis eines intermedialen Aufführungsbegriffes wird durch erweiternde Praktiken des digitalen (Bewegt)Bildes katalysiert. Über die künstlerischen Gebrauchsweisen lassen sich die Erweiterung digitaler Bewegtbild-Praktiken im Kontext dispositiver Konstellationen, also der Überlagerung und Überschreitung traditioneller Schau-Anordnungen von Theater, Kino und Ausstellung mit Bezug auf transformierte Konstellationen von Mobilität und Immobilität lesen. Dieses Begriffspaar durchzieht und definiert über eine etablierte Aufführungspraxis alle drei Anordnungsverhältnisse und kann dementsprechend dazu dienen, wesentliche Verschiebungen zu verdeutlichen.
2. Das technische Bewegtbild im Aufführungskontext – Verschiebungen im Verhältnis von Mobilität und Immobilität als konstituierendes Moment
Die Frage, welche Konfigurationen dem Einsatz von Bewegtbildern im Aufführungskontext zugeschrieben werden können, stellt sich nicht erst mit den technischen Potenzialen von 360°-Film, Virtual oder Augmented Reality. Bereits seit dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts sieht sich das Theater mit dem technischen Bewegtbild ‚konfrontiert‘. Ende der 1920er-Jahre verwendet Erwin Piscator, einer der Protagonisten der historischen Theateravantgarden, Film und Bildprojektionen in seinen Theateraufführungen. Dies impliziert eine Verschiebung innerhalb der architektonisch basierten und über die Aufführungspraxis etablierten Theater-Anordnung, die auf dem gezielten Einsatz körperlicher Immobilität des Publikums einhergehend mit einer perspektivischen Ausrichtung auf den Bühnenraum und den sich darin bewegenden, dreidimensionalen Darsteller:innenkörpern beruht. Die zweidimensionalen Projektionen und Filmeinspielungen bringen ihre eigenen Raum- und Zeitkonzeptionen durch Bewegung als (inszeniertem) Ablauf von Handlungen in die Dramaturgie der Aufführung ein.
Die damalige Kritik, der sich Piscator ausgesetzt sieht, unterstellt dem Medium Film im Theater eine ästhetische Unterlegenheit.[7] Diese gilt nicht vorrangig seiner medialen Dynamik, der alternativen perspektivischen Raumkonstruktion in eigenzeitlicher Taktung, die sich über gegenläufige Bewegungsstrukturen ausdrückt. Und doch wird die Unterschiedlichkeit zumindest in Bezug auf ihre gewünschte Nivellierung deutlich: „Das heißt, es galt für Piscator, den Übergang von der Dreidimensionalität räumlichen Bühnengeschehens zur Zweidimensionalität des auf der (Leinwand )Fläche ablaufenden Films möglichst bruchlos zu gestalten.“ (Woll 1984: 30) Aus dem breitgefächerten, politischen und gesellschaftskritischen Impetus Piscators und seiner Mitstreiter, der hinter ihren Experimenten und Neuerungen in Bezug auf den Bühnenraum und dessen technischer Ausstattung steht,[8] möchte ich die Überleitung immobiler in mobile Strukturen als ein übergeordnetes, leitendes Motiv für die weitere Untersuchung festhalten. Dies drückte sich darin aus, die Theater-Anordnung und ihre Praxis kritisch zu befragen, in ihre Elemente zu zerlegen bzw. diese in ein neues Verhältnis zu bringen. Vor allem die Mobilisierung der Zuschauenden, die „[…] Aufhebung der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum zur Aktivierung des Publikums“ (Piscator 1980 (1966): 439) stand dabei im Zentrum.
Nicht nur die Theater-Anordnung ist bedingt und bestimmt durch ihr Verhältnis von Immobilität und Mobilität. Verkürzt gesagt, liegt allen drei traditionellen Kunst-Anordnungen – Theater, Ausstellung und Kino – ein Verhältnis von bewegtem Körper und unbewegten Bild oder unbewegtem Körper und bewegtem Bild zugrunde.
Explizit macht dies das Kino in Form der Institutionalisierung der Beziehung von Bewegtbild und unbewegten Zuschauer:innen, wie der Filmwissenschaftler Sean Cubitt anführt. „Cinema and its associated media merely industrialize the stasis of the audience in the movement of the image.“ Und er schließt direkt an: „Perhaps one day, perhaps soon, there will be an art of moving bodies and moving images.“[9] (Cubitt 2004: 6) Für das klassische Kino liegt der Fokus ganz auf der Bewegung des Bildes, genauer der dem Bild eingeschriebenen Bewegung. Sowohl innerhalb eines Bewegtbildes als auch durch das Editing in der Kombination der (Einzel-)Bilder wird der filmische Bildraum perspektivisch konstruiert und bringt eine eigene, zeitliche Dimension hervor. Cubitt befragt die Konstruktions- und Kompositionsstrukturen bzw. -praktiken des analogen wie digitalen Bewegtbildes auf deren unterschiedliche inhärente Zeitstruktur, die er an ihren technisch-gesellschaftlichen Entstehungskontext rückbindet (vgl. ebd.).
Das Bewegungskonzept des klassischen Kinobildes schließt auch die Betrachter:innenperspektive ein, die involvierende Verortung der Betrachtenden im Bild. Auch wenn die Betrachterin im Kinosaal vor der Leinwand vor dem Bild positioniert ist, wird ihr durch die Konstruktion von Bewegung auf verschiedenen Ebenen ein ‚Ort‘ im Bild zugewiesen, der über die Perspektivführung von Kamera und (Zuschauer:innen)Blick entsteht.[10] Um diese identifizierende Wahrnehmungsposition aber einnehmen zu können, bedarf es der Immobilität der Betrachtenden.
In seiner einschlägigen Studie zu den „New Media“ bezeichnet Lev Manovich die institutionalisierte Immobilität der traditionellen Kino-Anordnung als ‚Preis‘ für den bewegten Blick (vgl. Manovich 2001: 107). Manovich setzt die VR-Anordnung in eine historische Linie der repräsentativen, auf optischen Medien/Apparaten beruhenden Künste, von der Perspektivmalerei über Fotografie und Kino bis zu den neuen Medien.
„[…] for what appears to be a general tendency of the Western screen-based representational apparatus. In this tradition, the body must be fixed in space if the viewer is to see the image at all. From renaissance monocular perspective to modern cinema, from Kepler’s camera obscura to nineteenth-century camera lucida, the body has to remain still.“ (ebd.: 104)
Den Künsten ist dabei gemein, dass sie mithilfe eines auf „screen“ basierten Repräsentationsapparats sowohl den Körper des sehenden Subjekts als auch das dargestellte Objekt – durch die perspektivisch eingreifende Maschine (vgl. ebd.: 105) – in Gefangenschaft nehmen: „[…] imprisonment of the subject and the object of representation“ (ebd.: 106).
Das in dieser Hinsicht durch die Bewegungsoption von VR gewonnene Handlungspotenzial etabliert eine neue Beziehung zwischen dem Körper der Betrachterin und dem Bild, denn nun muss sich die Betrachtende notwendig bewegen, damit sie das sie nun umgebende Bild sehen kann. „It establishes a radically new type of relationship between the body of the viewer and the image.“ (ebd.: 109) Gleichzeitig, so argumentiert Manovich aber, fesselt VR die Betrachterin auf eine Weise an die Maschine, die eine neue Form von Bewegungsbeschränkung mit sich bringt: „The paradox of VR, that it requires the viewer to move in order to see an image and at the same time physically ties her to a machine […].“ (ebd.: 110)
3. Erweiterte Voraussetzungen von Mobilität in medialen Anordnungen – Screen als Interface, Handlungsvermögen und räumliche Überlagerung
Was Manovich hier als Paradox der VR-Technologie als Repräsentationskunst anführt, dass gerade gesteigerte Bewegungsoptionen auf der einen Seite neue Gefangenschaften auf der anderen produzieren, gilt für die erweiterten, medialen Anordnungen der folgenden Beispiele aus der künstlerischen Praxis nur teilweise. Denn zum einen geht es um einen Umgang mit 360°-Film/VR und AR, der die Frage nach Repräsentation gerade zum Hebel künstlerischer Auseinandersetzung macht. Zum anderen lassen sich Bewegungsoptionen auf weiteren Ebenen beschreiben, die jenseits einer strikten Dualität von Mobilität und Immobilität auf den Status des Bildes zurückwirken.
Drei Aspekte machen die Spielarten der in Bewegung gekommenen Körper und Bilder beschreibbar: der Screen betrachtet als Interface, das Handlungspotenzial der Betrachter:innen sowie die Überlagerung und Interaktion von Räumlichkeit.
Wird der Screen als eine flexibel skalierbare und mobile, technische Konfiguration der fixierten Projektionsanordnung in Form von Leinwand und Projektionstechnik im Kino betrachtet, so lässt sich argumentieren, dass dieser nun in Form des Head-Mounted Displays oder Smartphones innerhalb der erweiterten Anordnung in Erscheinung tritt. Am Kopf oder in der Hand tragbar, bringt der Screen technische wie gestaltende Bedingungen ein. Er ermöglicht Mobilität für die Betrachterin und ist zugleich Steuerungstool (vgl. Verhoeff 2012). In Interaktion, durch Bewegung des Körpers, Berührung des Displays, durch Übertragung von Echtzeitdaten aufgrund des Standortes verbinden sich Bewegung und Steuerung in Bezug auf einen performativen Wahrnehmungsprozess des Bildes.
Flanierend, navigierend gewinnt die Betrachterin ein Handlungspotenzial, ebenso wie dadurch ihre eigene Position zum bzw. im Bild zunächst unklarer wird.[11] Durch sich flexibilisierende, virtualisierende Perspektiven und sich entgrenzende, ebenso wie sich verdoppelnde Rahmungen ist ihr Blickpunkt keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern wird zur Aushandlung (durch Handlung).
Die Frage nach Realität schließlich lässt sich nicht jenseits der Gebundenheit an den physischen Raum beantworten (vgl. Giannachi 2004). Daraus folgt für 360°-Film per VR-Brille oder AR-Anordnungen immer eine changierende Überlagerung von Aktion und Handlung als unterschiedliche Ausformungen von Bewegungsmomenten zwischen physischem und virtuellem Raum, die zu einem produktiven Spannungsfeld führen.
Die Projekte „Fluss (Stadt Land)“, „Verrat der Bilder“ und „Dear Former Past, …“ wurden ausgewählt, da sie im Rückgriff auf etablierte Anordnungen jeweils eine explizite Art der Verschiebung einbringen – in Hinsicht auf die Präsentationsorte, den hinzugewonnenen körperlichen Bewegungsradius und zugleich einhergehende Beschränkungen und Abhängigkeiten. Die verantwortlichen Künstler:innen setzen sich weit über diese Projekte hinaus mit Technologien und interdisziplinären Bildsprachen auseinander. Dadurch wird in Hinsicht auf die Frage nach der Ausweitung des Bildes entsprechend der verwendeten Technologie und Anordnung ein Spektrum gegenwärtiger Praxis diskutiert.
Bei „Fluss (Stadt Land)“ steht die Blickperspektive in 360°-Film als räumliche Konstitution und narrative Verortung im Zentrum. Diese wird in Abgrenzung zur Praxis des Kinobildes und mit Kritik an den Einschränkungen von 360°-Film auf ihr reflexives Potenzial hin gelesen, eine eigene Zeit-Dramaturgie für den panoramatischen Bildraum zu erproben und auf technische Vereinzelung mit kollektiven Sinnesräumen zu antworten. Im Kontrast wird bei „Verrat der Bilder“ und „Dear Former Past, …“ herausgearbeitet, inwiefern auf Basis unterschiedlicher AR-Techniken das Bild durch überlagernde und interagierende Bildebenen entsteht und zugleich erweitert wird.
4. „Fluss (Stadt Land)“ – Erkundung neuer Zeitdramaturgien im bewegten Landschaftsbild
Die Produktion „Fluss (Stadt Land)“ nutzt 360°-Film in VR um der Betrachterin einen Landschaftsraum zur eigenzeitlichen Erfahrung zur Verfügung zu stellen. Dabei spielt die Inszenierung perspektivischer Wahrnehmung, die sowohl Involvierung wie Distanzierung produzieren kann, eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wie sich die Betrachtende durch Interaktion von den Vorgaben der Kino-Zuschauerin emanzipiert und ihre Position neu aushandeln muss. Dies beginnt bereits mit der Anordnung in einem Ausstellungsraum in der Akademie der Künste (Hanseatenweg) Berlin. Dort feierte das als VR-Musiktheater ausgewiesene Projekt als abschließender Teil der Trilogie „Stadt Land Fluss“ (2017-2019) von Daniel Kötter und Hannes Seidl 2019 seine Premiere. Die ca. 20 Teilnehmenden nehmen als kollektive Gruppe mittig im Raum auf Drehstühlen Platz, um im nächsten Schritt mit Hilfe von Head-Mounted Displays in eine individuelle ca. 50 minütige 360°-Seherfahrung einzutauchen. Mit dem aufgesetzten VR-Headset kann sich die Teilnehmerin sitzend um sich selbst drehen sowie den Kopf frei bewegen, der zugehörige Datenspeicher ist über das Kabel an der Lehne des Stuhls befestigt. Zudem ist die Gruppe der Teilnehmenden von acht Lautsprechern sowie acht Ventilatoren umgeben, die im Raum rundherum angeordnet sind. An einer Seite befindet sich eine Wand aus Svoboda-Scheinwerfern, außerdem gibt es zwei Nebelmaschinen.
Abbildung 1: Aufführungsansicht „Fluss (Stadt Land)“ © Şafak Velioğlu.
Abbildung 2: Videostill „Fluss (Stadt Land)“ © Daniel Kötter/Hannes Seidl.
Mit Aufsetzen des umschließenden VR-Headsets tritt der physische Raum in seiner Präsenz zunächst zu Gunsten der unmittelbar vor den Augen erscheinenden rundum umgebenden Filmansicht zurück. Das sich zum panoramatischen Bildraum erweiternde Bewegtbild wird durch die Bewegungsoptionen der Teilnehmenden, das Drehen und die Kopfbewegung, erfahren. Gleichzeitig mit dieser Erweiterung geht eine Einschränkung einher, ganz konkret die des Sichtfeldes durch das Headset.[12] Die Voraussetzung zur Erweiterung ist zunächst eine Form der Beschränkung, wie sie an das von Manovich beschriebene Paradox erinnert. Diese Schauanordnung als eine weitreichende Verschiebung zum Kinodispositiv hinsichtlich eines mobilen, aber unmittelbar am Körper fixierten Screens, individualisiert die Seherfahrung ebenso wie sie die Betrachtende vereinzelt.
Der 360°-Film zeigt eine Winterlandschaft in der Morgendämmerung, erst nach und nach wird es im Verlauf der einstündigen Dauer hell. Der Blick kann vom sandigen Ufer auf die breite Flussbiegung des Evros schweifen, ein bedeutender Grenzfluss, der fast vollständig die Grenze zwischen Türkei und Griechenland und damit die EU-Außengrenze bildet. Vom sandigen Untergrund mit vertrockneten Algen und Gräsern, erstreckt sich die Landschaft weiter über Büsche, etwas entfernt stehende, kleinere Bäume, bis zu einer im Hintergrund verlaufenden, bewaldeten Linie. Die einzigen Gegenstände am Ufer sind eine kleine Holzhütte, eine Plastikplane mit Objekten, Reste eines Zauns sowie zwei Scheinwerfer; Zeichen der Inszenierung in einer ansonsten verlassenen, unberührt anmutenden Landschaft. Ein Schäferhund streunt immer wieder durch die Szenerie, Menschen tauchen nicht auf. Im letzten Drittel des Films beginnt die Holzhütte langsam zu brennen und fällt schließlich in sich zusammen. Der Vorgang wird durch einen über die großen Lautsprecher im Raum eingespielten elektronischen Sound bis zum spannungsgeladenen Höhepunkt, dem Einsturz der Hütte, gesteigert. Der von außen eingebrachte Sound ist ein Element wie durch das technische Setting der physische Raum immer wieder interagierend in den virtuellen eingreift und einen hybriden Wahrnehmungsraum und kollektiven Erfahrungsmoment kreiert. Die Wahrnehmung der Bilder vom durch die Bäume streifenden Wind oder dem lodernden Feuer wird durch die Windmaschinen, die Scheinwerfer-Wärme und die Nebelmaschinen sensorisch erweitert.
Das die Betrachterin umgebende, bewegte Bild kann nur durch die benannten Bewegungsoptionen in seiner Gesamtheit erfasst werden, ihr Betrachtungsstandpunkt aber ist fixiert, so dass keine Bewegung in die Tiefe des virtuellen Raums hinein möglich ist. Im Gegensatz zum selbst unbewegten Panorama[13], das flanierend in einem zeitlichen Nacheinander der Betrachtenden beliebig bis ins Detail erfasst werden kann, birgt das umgebende Bewegtbild durch seine eigendynamische zeitliche Verlaufsstruktur gerade das Potenzial, etwas zu verpassen. Bewegtbild und sich bewegender Körper treffen zunächst a-synchron aufeinander. Daraus ergibt sich die Frage, nach welchen ‚Regeln‘ sich Blick bzw. Körper bewegen. Wer oder was steuert die Aufmerksamkeit im Sinne einer Dramaturgie als Ablauf in der Zeit?
In Erweiterung zur Kino-Anordnung kommt nicht nur die Betrachterin in Bewegung, auch Bildabfolge sowie (Blick)Perspektive der Betrachtenden stehen zur Disposition – Bewegungsaspekte, die unmittelbar zur Bildkonstruktion beitragen. Diese basiert auf verschiedenen Formen inszenierter Bewegung: der von Objekten, Menschen usw. im Bild, dem Editing als Strukturverfahren zwischen den Bildern und der Bewegung der Kamera, die ein Zusammenspiel von Kamera- und Blickperspektive der immobilen Zuschauerin als ihre ‚Verortung im Bild‘ erzeugt. Der Bildabfolge als Form der Montagearbeit steht die Körper- und Kopfbewegung der Betrachtenden gegenüber – das Fokussieren von Details, ein Verweilen oder Flanieren des Blicks strukturieren den Bildraum in ein zeitliches Nacheinander.
Matthias Wittmann liest 360°-Film auf die Verbindung hin zu filmischen Montageverfahren ohne Schnitt, also Strukturierungsverfahren, die nicht auf die Kombination zwischen den Bildern, sondern innerhalb einer Einstellung verweisen (vgl. Wittmann 2020: 2). „Somit verhilft der 360°-Film nicht nur der Mise-en-Scène, sondern auch der plansequentiellen Découpage zu einem Re-Entry in die filmischen Bildräume.“ (ebd.) Das filmtheoretisch damit einhergehende Konzept der Flânerie sieht Wittmann für 360°-Film aufgrund der mangelhaften Bildqualität und Bildschärfe nur mit Einschränkungen gegeben (vgl. ebd.). Ebenso grenzt er kritisch die bei 360° häufig angewandte Anleitung der Userin, das Setzen von ‚points of interest‘ usw. als übergriffige „Ökonomisierung des Sichtbaren“ (ebd.) von den Vorbildern filmischer Verfahren ab.
Das panoramatische Bewegtbild birgt eine weitere Verschiebung, die die Verortung der Betrachtenden betrifft. Nicht mehr vor, sondern im Bild positioniert zu sein, muss nicht zwangsläufig eine stärkere Involvierung hervorrufen, wie vielleicht zu erwarten wäre; und dies lässt sich technisch und filmtheoretisch begründen. Die Bewegungsmöglichkeiten von VR-Headsets in Kombination mit 360°-Film sind beschränkt auf Drehbewegungen um sich selbst sowie das Heben oder Senken des Kopfes und damit die Veränderung des Blickwinkels. Nähe und Distanz herzustellen oder eine veränderte Perspektive einzunehmen, ist dagegen nicht möglich. Anders als beim Filmbild oder einer interaktiven VR-Umgebung wird das Bild bei 360° zwar zu einer Rundumschau erweitert, die Betrachterin aber in deren Mitte verortet, indem sie wiederum eine Fixierung erfährt. Der Blick dorthin, wo eigentlich die eigenen Füße bildhaft die Perspektive bestätigen sollten, verschwimmt ins unscharfe Nichts; häufig weisen sogar sichtbare Reste des Kamerastativs noch auf den einstigen Aufnahmevorgang hin. Die Frage nach der eigenen, Anteil nehmenden Perspektive bzw. Rolle innerhalb der Narration bleibt offen bzw. wird nicht über die perspektivische Raumkonstruktion beantwortet. Wittmann argumentiert sogar, dass 360°-Film einer identifizierenden Verortung der Zuschauerin in der „Codierung des klassischen Erzählkinos“ ein Ende setzt und auf eine distanzierte und unbeteiligte Position zurückwirft (vgl. ebd.: 2, 5).
Für die Perspektive des erweiterten Bildraums bei „Fluss“ lassen sich diese Aspekte nochmals anders rahmen, indem man Steuerungsverfahren und Handlungsweisen der Betrachterin weniger auf eine identifizierende als auf eine distanzierte Funktion hin befragt, die die aus Einschränkung resultierenden Optionen in neue Erzähl- und Wahrnehmungsweisen überführt. Die Landschaft in „Fluss“ birgt selbst wenig Aktion. Zu Beginn wird sie mit dem Wissen aufgeladen, dass es sich hier um eine Landesgrenze handelt, die bei Überquerung für Menschen eine neue, ersehnte Zukunft bedeuten kann und zugleich Lebensgefahr birgt.[14] Assoziierte Handlungen in dieser Form werden aber nicht gezeigt. Neben der Bewegung des Flusses, der Bäume, Gräser usw. im Wind, ist nur der immer wieder auftauchende und durch die Szenerie streunende Hund eine Aufforderung einer Handlung im Bild zu folgen. Die wesentlich eindringlichere Aktion ist der Brand der Hütte und ihr Zusammenfall, der die letzten ca. 20 Minuten bestimmt. Diese fokussierten Aktionen ermöglichen der Betrachtenden, die Übersicht zu behalten und dabei selbstbestimmt auszuwählen, wann ihr Blick wohin fällt. Selbstbestimmt nicht nur auf den erweiterten Bewegungsradius ihres Körpers und ihrer Blicke bezogen, sondern indem diese eben nicht wiederum ökonomisiert werden. Die reduzierten Cues navigieren die Betrachterin nicht durch eine spektakelreiche Erzählung, sondern überlassen sie in der Erkundung eines bewegten Landschaftsbildes vielmehr sich selbst und ihren assoziativen Gedanken. Dabei kann es auch um das Spiel mit einer unerfüllten Erwartungshaltung gehen, die aber nicht zu unbeteiligter Distanz, sondern zu einer eigenen Rhythmisierung der Wahrnehmung führen kann. Aus der Diskrepanz der Zeitdimension des Bewegtbildes und der der Betrachtenden, kann diese ein eigenes Handlungsvermögen entwickeln. Das individualisierte Steuerungsverfahren ist nicht nur dafür da, um das umgebende Bild überhaupt sichtbar zu machen, wie Manovich kritisch argumentiert. Die mobilisierte Screen-Anordnung ist auch in dem Sinne Interface, dass sie das paradoxe Handlungspotenzial im Verhältnis zur wahrnehmbaren Aktion reflexiv thematisiert.
Resultierend lässt sich feststellen, dass bei „Fluss“ trotz VR-Technologie eben nicht das bruchlose Eintauchen in die Illusion einer virtuell hergestellten Bildrealität im Vordergrund steht. Dieser Wahrnehmungsanordnung des historischen Panoramas und auch vieler digital basierter Äquivalente in VR stellt das Beispiel durch sein technisches Setting explizite und implizite Diskontinuitäten und Wahrnehmungsmomente der Distanzierung entgegen. Immer wieder ereignen sich in der Überlagerung oder den Übergangen zwischen Bildebene und physischem Raum der Betrachtenden Brüche – wie die sichtbaren Reste des Kamerastativs im Bild oder die kollektiven Wahrnehmungsmomente des Hörens und Fühlens, wenn die umgebenden Lautsprecher, Ventilatoren und Schweinwerfer zum Einsatz kommen. Dieser „Bruch“ ereignet sich zugleich als eine Erweiterung der Bildrealität auf sensorischer Ebene und er kehrt sich gegen die Vereinzelung der abschottenden Erfahrung des Bildraums durch die VR-Brille. Dadurch wird gerade die Abgrenzung zwischen Bildraum und der (räumlichen) Position der Betrachtenden markiert, die bei historischen Anordnungen des Panoramas, oftmals kaschierend gestaltet, z. B. im Übergang von Bildelementen zu realen Bildobjekten gerade unkenntlich gemacht werden sollte, um die Illusion zu intensivieren. Eben nicht Täuschung oder Selbstvergessenheit, sondern neue (körperliche) Bezüge zum physischen Raum werden durch das technische Setting bei „Fluss“ hergestellt (vgl. Höfler/Reinfeld 2022: 2ff.).
5. „Verrat der Bilder“ – Überlagerungseffekte als Gestaltungsprinzipien realer Virtualitäten
Bei der Augmented Reality Performance „Verrat der Bilder“ geht es nicht mehr wie bei „Fluss“ um eine Erweiterung als vollständige Überlagerung des Sichtfeldes durch den virtuellen, umgebenden Bildraum, sondern um Überlagerungseffekte der Realität mit virtuellen Objekten. Auf Basis der AR-Brillen Magic Leap können neue Formen der Interaktion Einzug in die Aufführung halten, die auch live Performer:innen einbeziehen. Durch die Projektion auf das transparente Display der AR-Brille scheint es, als würde nicht der materielle Bildträger optisch um virtuelle Ebenen erweitert, sondern die Realität im Blick der Betrachtenden selbst transformiert. Wie Jens Schröter der AR definierend zuweist, müssen „[…] in Echtzeit […] digital generierte Informationen auf die Bilder oder die Ansichten realer Objekte im Echtraum überlagert werden, sonst wäre eben diese Überlagerung sinnlos.“ (Schröter 2012: 104) Überlagerung als eine erweiternde Bildpraktik betont hier also die Differenz zwischen Referenz und virtueller Erweiterung. Allerdings macht „Verrat der Bilder“ gerade die vermeintlich eindeutige Referenz Realität (vgl. Fahle 2006: 91) selbst zum Aushandlungsort.
2019 hatte die Produktion der Performancegruppe Nico and the Navigators im Rahmen der Feier zum 100-jährigen Jubiläum des Bauhauses Premiere in Dessau. Die Stiftung Bauhaus Dessau verantwortete ein umfangreiches Programm, in dessen Rahmen die Regisseurin Nicola Hümpel und der Szenograf Oliver Proske als Nico and the Navigators das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Projekt „Verrat der Bilder“ als Artists in Residence der Stiftung Bauhaus Dessau realisierte.[15] In einem der von Walter Gropius entworfenen Meisterhäuser, das einst von Georg Muche und Oskar Schlemmer bewohnte Doppelhaus, bewegen sich die maximal 25 Teilnehmenden auf einem geführten Parcours durch das Gebäude und den angrenzenden Garten.[16]
Basierend auf der produkteigenen Software der Magic Leap wurde von Proske und seinem Team ein eigenes Programm entwickelt, das der Aufführung zugrunde liegt und ihren Ablauf vororganisiert[17]. Dafür war ein hoher technischer Wissensstand sowie permanente Anpassung an und Improvisation mit den technischen Bedingungen notwendig.[18] Nach verabredeten Cues wurden die Objekte auf dem Display sichtbar. Wie bei „Fluss“ geht es trotz der Vereinzelung durch das Tragen der AR-Brille um die Synchronität der eingespielten Effekte, die zeitgleich und im richtigen Moment erscheinen müssen. Nur so können Interaktionen der Teilnehmenden wie das Zeichnen an einer virtuellen Staffelei, das mit dem Hand-Controller ein weiteres Steuerungselement einbringt, oder Interaktionen der Performer:innen, die selbst keine Brille tragen, mit der virtuellen Sphäre aufeinander abgestimmt werden.
Abbildung 3: Aufführungsansicht „Verrat der Bilder“ © Oliver Proske/Nico and the Navigators.
Abbildung 4: Aufführungsansicht „Verrat der Bilder“ © Oliver Proske/Nico and the Navigators.
Abbildung 5: Blick durch die AR-Brille „Verrat der Bilder“ © Oliver Proske/Nico and the Navigators.
Die inhaltliche Dramaturgie entspinnt sich entlang der Biografien zahlreicher Protagonist:innen der Bauhaus-Bewegung und ihrer Schule. So schreibt der Dramaturg der Produktion, Andreas Hillger, im Programmheft:
„Auch die Geschichte des Bauhauses wird mit großer Achtung einerseits und ge-botener Skepsis andererseits durchleuchtet. Neben dem hohen Ton der Manifeste kommen auch dunkle Seiten wie die von Johannes Itten praktizierte esoterische Ras¬sen-Theorie des Mazdaznan zur Sprache. Der synästhetischen Harmonisierungs-Lehre der Gertrud Grunow tritt die Gymnastik der Karla Grosch gegenüber … und der Tech¬nokrat Ernst Neufert trifft auf den berühmten Schweinestall, den Walter Gropius nach einer verlorenen Wette für den Porzellan-Fabrikanten Philipp Rosenthal entwarf.“ (Hillger 2019: 3)
Basierend auf Recherchen im Bauhaus-Archiv, Texten und Materialien werden zwischen den Aktionen von vier Performer:innen und den Einblendungen von Texten, Hintergrundskizzen, Grafiken, Porträtbildern von Bauhauskünstler:innen, ikonischen Objekten wie Bauhausmöbel oder an Schlemmer-Figurinen erinnernde, virtuelle Körperbilder[19] auf den transparenten Displays der Brillen narrative Bögen eröffnet. In einer Sequenz agierten die Performer:innen auf zwei aufgebauten Podesten in den Atelierräumen des Meisterhauses, stehend oder auf aufgestellten Hockern sitzend folgten die Teilnehmenden ihren Aktionen. Diese Sequenz wurde von zwei Teilen gesäumt, in denen sich die Teilnehmenden als Gruppe durch das Gebäude und in den Garten bewegten.[20] Minimalistisch gehalten erzählen die erscheinenden Effekte und Bilder keine geschlossene, historische (Bild)Welt; vielmehr geht es um die Konstellation mit den Aktionen im physischen Raum, die erst im Blickfeld der durchgehend getragenen Brille in inhaltliche Auseinandersetzung treten.[21]
Durch die auf dem Kopf getragenen Brillen, dem Hand-Controller sowie einem um den Oberkörper gehängten Taschencomputer erweitert sich der potentielle Bewegungsradius der Teilnehmer:innen enorm. Aber nicht der über den Screen eröffnete 360°-Bildraum um die eigene Körperachse bestimmt hier das spezifische Verhältnis zwischen mobilisiertem Zuschauer:innenkörper und Erweiterung des Bildes, sondern die Überlagerung aus der durch das transparente Display der Brille wahrgenommenen Umwelt und den auf diesem eingespielten und teilweise selbst steuerbaren Objekten. Wohingegen Blick und virtuelle Bilder durch die AR-Brille in ihrer Position fixiert sind, ist es der physische Raum, in dem nun Fokuspunkte und Aufmerksamkeiten geschaffen werden. Denn hinzu kommen die Spielhandlungen der Performer:innen. Nicht als zwei konkurrierende Bewegungsformen stehen hier das Bewegtbild und die live agierenden Performer:innenkörper ‚nebeneinander‘, wie es Piscator als grundlegende Neuerung der Aufführungspraxis einführte. Virtuelle und physische Bewegungen legen sich übereinander, vielmehr noch treten in Interaktion, wenn die Performenden, sich auf einen (im Display) eingeblendeten Stuhl setzen (siehe Abb. 5) oder über den Controller gesteuert mit virtuellen Objekten beworfen werden können. Mobiler Zuschauer:innenkörper, virtuelles Bewegtbild und die ebenfalls aus der perspektivischen Anordnung der Theaterbühne gelösten Performer:innen-Körper gehen stets neue Konstellationen ein. Das Bild setzt sich aus diesen interaktiv agierenden Bildebenen zusammen, die sich in Echtzeit transformieren und immer wieder neu verbinden. Der Blick durch die Brille wird zum Ausgangspunkt dieses Bildes.
Die digitale Schicht, die sich auf die (vermeintliche) Realität des physischen Raums legt, transformiert diese und weist sie als vermittelt aus. Es geht nicht um Optimierung oder Funktionalisierung durch „Anreicherung“ des Bildes mit Informationen wie bei anderen Nutzungsformen der AR (vgl. Schröter 2012: 109), vielmehr wird der Blick auf die Realität als verlässliche Referenz in Frage gestellt, die vermeintlich strikte Trennung von Physischem und Virtuellem ins Schwingen gebracht. Dadurch steht die Auseinandersetzung mit Gestaltungs- und Wahrnehmungsprinzipien nicht nur auf inhaltlicher Ebene im Zentrum: beispielhaft begonnen mit den in der ersten Sequenz der Aufführung als virtuelle Objekte umherrollenden geometrischen Grundformen der Designschule Bauhaus. Zugleich wird mit den Gestaltungsmitteln neuester Technik die Anordnung im Gesamten zur Rahmung der live interagierenden Bildebenen in Form eines spielerischen Erforschens der Bildrealität als ein Anteil des Bildes selbst – oder andersherum, um die virtuellen Anteile der Realität, die hier erst durch das Bild sichtbar werden.
6. „Dear Former Past, …“ – Wie die umhüllende Haut der Stadt im Bild sichtbar wird
Für das letzte Beispiel, den Augmented Reality-Audiowalk „Dear Former Past, …“, steht die Bewegung der Teilnehmenden durch den öffentlichen Raum im Zentrum. Auch hier wird das Bild maßgeblich durch den Einbezug digitaler Information realisiert. Diese ist nun aber gezielt an eine standortgebundene Übertragung durch die körperliche Bewegung durch den Stadtraum geknüpft. Lev Manovichs Konzept des „Augmented Space“ geht von einer permanenten Überlagerung des physischen Raums durch Information aus. „[…] augmented space is the physical space overlaid with dynamically changing information. This information is likely to be in multimedia form and it is often localized for each user.“ (Manovich 2002/2005: 1ff.) Vor dieser Annahme wird die Frage nach zeitlicher und örtlicher Positionierung als Steuerungselement umso relevanter, um das ausweitende Moment des Bildes zu bestimmen.
„Dear Former Past, …“[22] entstand als erste Zusammenarbeit der Künstlerinnen cylixe (Medienkünstlerin und Filmemacherin) und ghostrich (Technology Tinkererin) während einer Residenz am HAU4, der digitalen Bühne des Produktionshauses Hebbel am Ufer Berlin. Offiziell konnte man den Augmented Reality-Audiowalk im Rahmen des Festivals „Spy on Me #4 – New Companions“ 2022 am HAU – diese Version steht hier im Zentrum – sowie darauf beim fluctoplasma Festival 2022 in Hamburg erleben.
Abbildung 6: Aufführungsansicht „Dear Former Past, …“ © cylixe & ghostrich.
Abbildung 7: Aufführungsansicht „Dear Former Past, …“ © cylixe & ghostrich.
Abbildung 8: Displayansicht „Dear Former Past, …“ © cylixe & ghostrich.
Das Projekt, in der eine Zeitreisende zurück in die Vergangenheit reist und aus dieser Perspektive auf die Gegenwart schaut, geht auf das Buch Ulterior Flux (2018)[23] von cylixe zurück. Die Berichte und Beobachtungen der Zeitreisenden begleiten die Teilnehmenden als Audiospur über Kopfhörer bei ihrem Walk durch die Nachbarschaft der Produktionsstätte HAU im Berliner Stadtteil Kreuzberg. In einer Gruppe von circa 25 Teilnehmenden begab man sich ausgestattet mit Smartphone oder Tablet auf den Weg. Geleitet wurde die Tour durch eine Karte, die Teil des Programms ist, das jede:r vorab herunterladen musste und mit dessen Installation, die Erlaubnis zum Zugriff auf die gerätinterne Kamera sowie das GPS-Tracking einhergeht. Trat man in den 20 Meter Radius der auf der Karte verzeichneten GPS Points ein, so wurde auf der Audioebene ein neues Kapitel als Audiotrack gestartet. Diese Verortung im geografischen Raum lässt das Projekt auch den sogenannten „Locative Arts“ zuordnen, „[…] künstlerische Arbeiten, die mit Locative Media operieren oder Verortungsmethoden zum Thema machen. […] Der bisher ‚ortlose‘ Datenraum wird, so Hemment, Teil des geografischen Raums (Hemment 2004).“ (Popplow/Scherffig 2014: 277) Dadurch wird das Steuerungsvermögen auf Basis von Bewegung verlagert. Wesentlich unmittelbarer als durch die direkte Bewegung von Kopf und Körper in Verbindung mit den Head-Mounted Displays bei den vorigen Projekten weitet sich der Ansatz des hier eingesetzten Interfaces[24] aus. Nahe der Alltags-Anwendung des Smartphones werden verfügbare Daten empfangen und verarbeitet. Hieran lässt sich auch der Gebrauch der geräteinternen Kamera anschließen. Über die durchgehend aktivierte Kamera zeigte das Display permanent ein Bild des umgebenden Außenraums, individuelle Ausschnitte, die auf das Gehen und die Handbewegung der Teilnehmenden zurückgehen, die sich als Gruppe fortbewegten. Gleichzeitig suggeriert der Blick auf das Display Transparenz, als würde man durch es hindurch auf einen Ausschnitt des realen Raums schauen. Aus dem umgebenden Außenraum wird ein Ab/Bild der Realität, gerahmt durch das Display des Smartphones oder Pads. Erzählte Beobachtungen auf der Audioebene korrespondieren assoziativ mit der Umgebung, mit Architekturen, Plätzen usw., zurückgehend auf die Verbindung der Echtzeit-Standortermittlung und vorproduziertem Erzähltrack. Als ein weiterer Layer treten 3D- sowie flächige, illustrierte Objekte und optische Effekte auf, die sich ähnlich wie bei „Verrat der Bilder“ überlagernd auf das aufgenommene Abbild der Umgebung legen. Funktionell über die Kamerafunktion gesteuert, erscheinen assoziativ aus den Erzählungen der Zeitreisenden abgeleitete Bilder oder Objekte, frei schwebend im Raum oder konkret platziert wie z. B. ein Baum am Straßenrand. Ein rot blinkendes Signal verweist auf die temporär eingeblendeten Effekte, denn teilweise müssen diese erst nach einer Art trial and error-Methode durch suchende Bewegungen mit dem Gerät ins Blickfeld rücken. Die Teilnehmenden wechseln zwischen dem individuellem Umgang mit Smartphone und Tablet und der gleichzeitigen fortwährenden Beobachtung der anderen Gruppenmitglieder:innen, deren suchender oder findender Bewegungen, um keinen Effekt zu verpassen, kein Objekt auszulassen.
Mit jedem erscheinenden Objekt wird erneut eruiert, dass es sich um ein mit der Kamera aufgenommenes Bild handelt und nicht um den direkten, unverstellten Blick auf den Umraum. Dieses Bild der umgebenden Realität wird doppelt als digitales Abbild ausgewiesen: zum einen durch die zeitgleiche Aufnahme und Widergabe der Kamera und zum anderen durch den Rahmen, mit dem das Smartphone oder Tablet es umgibt. Dadurch ergibt sich ähnlich wie bei „Verrat der Bilder“ – nun aber verortet auf dem Display – ein in Echtzeit aus interagierenden Bildebenen hervorgehendes Bild im Zusammenspiel von Rahmung und Erweiterung. Der schweifende Blick zwischen Display und Umgebung als ein Realitätsabgleich kommt spielerisch dem alltäglichen Umgang mit erweiternden Bildeffekten standortbasierter Apps etc. nahe. Die Anordnung von „Dear Former Past, …“, die einer Suche nach „virtuelle[n] Installationen, Hörerlebnisse[n] und Bilder[n] aus der Zukunft, die wie eine neue Haut die heutige Stadt umhüllen“[25] gleichkommt, reflektiert auch auf Manovichs Ansatz des „Augmented Space“, für den er Erweiterung (‚augmentation‘) als Idee sowie kulturelle und ästhetische Praxis auch jenseits der technologischen Sphäre proklamiert (vgl. Manovich 2002/2005: 2). Wird das Bild (als Abbild) der Realität jedoch permanent im Spannungsfeld seiner Erweiterung wahrgenommen, so wirkt dies zurück auf das, was wir als die Realität wahrnehmen.
7. Zusammenfassung
Ausgehend von der Annahme, dass in aktuellen Spielarten der Aufführungskünste mit 360°/VR– und AR-Technologien erweiternde Bildpraktiken nicht ausschließlich auf Illusion oder Repräsentation im Virtuellen gerichtet sind, konnte die besondere Bedeutung des technischen Settings gegenwärtiger Screen/Bewegtbild basierter Konstellationen dargelegt werden. Der theoretische Diskurs von Immobilität und Mobilität als Hintergrund für die künstlerischen Beispiele hat gezeigt, wie Anordnung und Status des digitalen Bildes sich bedingen. In den Beschreibungen wurde deutlich, welche Interaktionen stattfinden, wo und durch welche technischen und gestaltenden Funktionen Schnittstellen auftreten, die an der Hervorbringung des Bildes beteiligt sind. Unter der Perspektive einer medialen Anordnung, lassen sich die Transformationen innerhalb traditioneller Bild-Anordnungen durch Dynamisierung, Mobilisierung, Umverteilung von Aktions- und Handlungspotenzialen in Wechselbeziehung mit sich ebenfalls dynamisierenden Bildpraktiken als Formen der Augmentation des Bildes fassen. Diese Formen beziehen sich auf die Konzeption, Konstruktion sowie die Wahrnehmung von Bildräumen, die essentiell auf interagierenden Handlungsweisen beruhen. Die Beispiele haben dabei Referenzen zu erweiternden Bild(raum)praktiken aufgerufen und durchstrichen und gerade durch diese Diskrepanzen, neue Bildräume erprobt, die sich nicht dichotomisch, sondern graduell zwischen virtuell und real einordnen lassen. Mit Fokus auf das technische Setting der Anordnungen und den Zugang über unterschiedliche Bewegungsformen – analog und medial – konnten die Verschränkungen verschiedener Zeit- und Raumkonzepte, die Verteilung von Handlungs- und Aufmerksamkeitspotenzialen ebenso wie ein Changieren zwischen individualisierten und kollektiven Erfahrungsmomenten hin zu hybriden Wahrnehmungsräumen nachvollzogen werden.
Der Status des digitalen Bildes als rein virtuelle Dimension wird durch die interagierenden Bildebenen und die Neu-Verortung der Perspektive infrage gestellt. Gleichzeitig werden über die durch Handlung performativ entstehenden Bildräume die virtuellen Anteile der physischen Realität verdeutlicht, nicht als sinnestäuschende Effekte, sondern als gegebene Anteile unserer Wahrnehmung. Erst in dem, was als Bild zur Aushandlung steht, werden diese Aspekte – durch und in Bewegung – sicht- und greifbar.
Literaturverzeichnis
Monografien
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Cubitt, Sean: The Cinema Effect. Cambridge (Massachusetts), London (England) 2004
Giannachi, Gabriella: Virtual Theatres. An Introduction. London 2004
Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge (Massachusetts), London (England) 2001
Verhoeff, Nana: Mobile Screens: The Visual Regime of Navigation. Amsterdam 2012
Woll, Stefan: Das Totaltheater. Ein Projekt von Walter Gropius und Erwin Piscator. Berlin 1984
Beiträge aus Sammelbänden
Fahle, Oliver: Augmented Reality – Das partizipierende Auge. In: Neitzel, Britta; Rolf F. Nohr (Hrsg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Marburg 2006, S. 91–103
Haberer, Lilian: Prothetische Screens? Modi der verkörperten Wahrnehmung in virtuellen und 3D-Raumerfahrungen. In: Höfler/Reinfeld 2022, S. 177–209
Höfler, Carolin; Philipp Reinfeld: Virtuelle Realitäten entwerfen. Zur Einführung. In: Höfler, Carolin; Philipp Reinfeld (Hrsg.): Mit weit geschlossenen Augen. Virtuelle Welten entwerfen. Paderborn 2022, S. 1–11
Pantenburg, Volker: Black Box/White Cube. Kino und zeitgenössische Kunst. In: Groß, Bernhard; Thomas Morsch (Hrsg.): Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden 2021, S. 687–704
Piscator, Erwin: Totaltheater und totales Theater (1966). In: Ders.: Theater Film Politik. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Berlin 1980, S. 439–441
Piscator, Erwin: Theater und Kino (1933). In: Ders.: Theater Film Politik. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Berlin 1980, S. 107–111
Richterich, Annika; Gabriele Schabacher: Raum als Interface. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Raum als Interface. Siegen 2011, S. 7–19
Ritter, Franziska; Pablo Dornhege: Hybride Realitäten. Virtuelle Theater-Architekturen und kokreative Performance-Räume. In: Nakas, Kassandra; Philipp Reinfeld (Hrsg.): Bildhafte Räume, begehbare Bilder. Virtuelle Architekturen interdisziplinär. Paderborn 2023, S. 83–104
Schröter, Jens: Echtzeit und Echtraum. Zur Medialität und Ästhetik von Augmented Reality-Applikationen. In: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft – Bilder in Echtzeit. Medialität und Ästhetik des digitalen Bewegtbildes, 51, 2012, S. 104–120
Popplow, Laura; Lasse Scherffig: Locative Arts – neue Erzählung des Raums? In: Buschauer, Regine; Katharine S. Willis (Hrsg.): Locative Media. Medialität und Räumlichkeit – Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien. Bielefeld 2014, S. 277–296
Sonstige Artikel/Broschuren aus dem Internet
Hillger, Andreas: Vorkurs im Unsichtbaren. In: Nico and the Navigators GBR (Hrsg.): Programmheft „Verrat der Bilder“. Berlin 2019, S. 3
Manovich, Lev: The Poetics of Augmented Space, 2002/2005. http://manovich.net/content/04-projects/034-the-poetics-of-augmented-space/31_article_2002.pdf (15.08.2023)
Proske, Oliver; Birgit Wiens: „Auf dem Weg in ein szenografisches Zeitalter“. AR-Technologien in den darstellenden Künsten als Herausforderung und Chance. Oliver Proske (Nico and the Navigators) im Gespräch mit Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens, 2022. http://labore-fuer-digitale-szenografie.de/auf-dem-weg-in-ein-szenografisches-zeitalter/ (13.08.2023)
Wittmann, Matthias: Vom Ende der Suture. Zeit und Raumformen im 360°-Film, January 2020. https://www.360storytelling.org/de/zeit-und-raumformen-im-360-film (11.08.2023)
Fussnoten
1 Tatsächlich arbeiten viele Projekte mit 360°-Film kombiniert mit VR-Technologie in Unterscheidung zu interaktiven Virtual Reality-Anordnungen.
2 Auch Oliver Fahle spricht über eine AR-Anwendung für ein Gemälde als eine Erweiterung des Dispositivs Malerei (vgl. FAHLE 2006: 96).
3 Wie z. B. das von Franziska Ritter und Pablo Dornhege als „Hybride Realitäten“ beschriebene Aufführungs-Projekt (vgl. Dornhege/Ritter 2023).
4 Hier lassen sich u. a. folgende Theater/Produktionshäuser und ihre Programme nennen: das HAU4 als digitale Bühne (Plattform, Produktionen, Residenzprogramm) des HAU Hebbel am Ufer Berlin seit 2020; die Akademie für Theater und Digitalität Dortmund seit 2019 und ihr zugehöriges Stipendien-Programm zu künstlerischer Forschung; das Digitaltheater als eigene Sparte am Staatstheater Augsburg seit 2020; seit Juni 2023 das Extended Reality Theater als eine digitale Spielstätte am Staatstheater Nürnberg, die Digitalkunst und analoges Schauspiel programmatisch verbinden möchte.
5 Auch Carolin Höfler und Philipp Reinfeld gehen in ihrer Einleitung darauf ein, welche Fragen an Realitätsdarstellung die digitalen Bildräume im Vergleich aufwerfen können: „Bis heute gilt die realitätsgetreue Darstellung als Ausweis gelungener Virtual-Reality-Umgebungen. Doch von welchen real-virtuellen Realitäten ist hier die Rede, was zeichnet sie aus, und worin unterscheiden sie sich von herkömmlichen perspektivischen Bildräumen?“ (Höfler/Reinfeld 2022: 1).
6 Zur historisch eingebetteten Unterscheidung von VR und AR siehe z. B. Schröter 2012.
7 Piscator schreibt in „Theater und Kino“: „Ein großes Geschrei erhob sich darob, das sei nicht künstlerisch, lebender Mensch und Film seien zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun hätten (auf meine Frage, was denn die alte perspektivische Kulisse usw. gewesen sei, erhielt ich nie eine Antwort), kurz, ich war ein Kunstbanause und kein Kunstästhet.“ (Piscator 1980 [1933]: 109)
8 Auch Piscator ging es bei einer technischen Ausstattung des Theaters darum, Einheit von Bühne und Zuschauerraum herzustellen (vgl. Piscator 1980 (1933): 111) – das zeigt auch seine Initiative um das von Walter Gropius entworfene, aber nie realisierte Totaltheater als architektonischen Theaterbau. Der Zuschauer sollte sich als Raummittelpunkt von der Bühne umgeben mitten im szenischen Geschehen befinden (vgl. Piscator 1980 (1966): 440ff.).
9 Eine Verschiebung im Verhältnis von bewegtem Körper und Bewegtbilder lässt sich nicht nur auf die Anordnung von VR und AR übertragen. Auch die seit den 1990er-Jahren sich im Ausstellungskontext etablierten Bewegtbild-Installationen bringen eine solche dispositive Verschiebung und entsprechende Diskurse mit sich (vgl. u. a. Pantenburg 2016; Balsom 2013).
10 Manovich verdeutlicht dies am Übergang der „‚primitive‘ to ‚classical‘ film language“ (MANOVICH 2001: 107). Zur Zeit des ‚frühen‘ Kinos nahm die Zuschauerin eine psychologische Distanz zur virtuellen Welt der filmischen Narration ein, was auch auf der noch wesentlich offeneren Anordnung beruhte. Anders dann im „classical“ Kino: „In contrast, classical film addressed each viewer as a separate individual and positioned him inside its virtual world narrative.“ (ders.: 107ff.)
11 Z. B. wie Höfler/Reinfeld es aufgrund der fehlenden Distanznahme bei VR beschreiben: „Das physische Bild, das durch Träger und Rahmung nach außen abgegrenzt wird, stellt eine Distanz zwischen Bild und Betrachter*in her. Durch das sprichwörtliche Begreifen eines physischen Bildes kann zwischen der visuellen Konstitution und dem materiellen Objekt differenziert werden. Die Wahrnehmung mit einer VR-Brille erschwert hingegen solche Unterscheidungen.“ (Höfler/Reinfeld 2011: 1ff.)
12 Zum Verweis auf die Diskrepanz von Einschränkung und Erweiterung in Bezug auf den Einsatz von Head-Mounted Displays im Ausstellungsrahmen im Begriffskontext von Dispositiv und Display vgl. Frohne/Haberer/Urban 2019: 26.
13 Bezug genommen wird hier auf (historische) Panorama-Anordnungen, bei denen sich die Betrachtenden mittig auf einer Fläche umgeben vom 360°-Bild bewegen. Nochmals anders verhält es sich bei verschiedenen historischen Formen bewegter Panoramas wie u. a. dem „moving panorama“ vgl. Haberer 2022: 193ff.
14 Siehe auch Projektbeschreibung auf der Website von Daniel Kötter: http://www.danielkoetter.de/projekte/fluss-stadt-land (15.08.2023).
15 Oliver Proske/Nico and the Navigators setzen sich schon seit langer Zeit in ihren künstlerischen Arbeiten umfassend mit AR und erweiterten Bildpraktiken auseinander, siehe z. B. auch das Projekt „Du musst dein Leben rendern“ (2022): https://navigators.de/ (16.08.23).
16 Es gab zwei weitere Spielorte: „Im 1928/29 erbauten Berliner Atelier von Georg Kolbe, der als Bildhauer auch mit den Bauhaus-Direktoren Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe zusammenarbeitete. Und in der Brüsseler Landesvertretung von Sachsen-Anhalt, die 1969 vom Bauhaus-Schüler Franz Ehrlich als DDR-Botschaft gestaltet wurde und formal auf die historische Hochschule für Gestaltung verweist.“ (Hillger 2019: 3)
17 Diese digitalen Gestaltungspraktiken können als eine Form erweiterter Szenografie gefasst werden. Siehe zu dieser Diskussion auch Wiens/Proske 2022.
18 „Für das Projekt in Dessau haben wir mit AR-Brillen der US-amerikanischen Firma Magic Leap gearbeitet. In die Firma wurde enorm viel Risiko-Kapital investiert, doch als die ‚Magic Leap One‘ 2017 herauskam, wurden die selbst geweckten, hohen Erwartungen nicht erfüllt. […] Und damit das Publikum synchron die gleichen Inhalte sah, mussten wir die Software aufwändig kalibrieren. Das Betriebssystem war 2019 noch nicht sehr entwickelt und die Brille ist – bis heute spürbar – in der Pilotphase.“ (Proske in: Wiens/Proske 2022) Informationen zum Produktionsprozess und zum Ablauf gehen auch auf ein Gespräch mit Oliver Proske im Juli 2023 zurück.
19 l. die Beschreibungen der erscheinenden Objekte durch Wiens in: Wiens/Proske 2022.
20 Bei den Spielorten im Georg Kolbe Museum in Berlin und in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in Brüssel wurde jeweils in einem großen Raum gespielt. Die Aufführungen wurden dementsprechend auch inhaltlich angepasst.
21 „Die Szenen und Bilder, die aus Original-Texten von Bauhaus-Meistern und -Schülern entwickelt wurden, stehen stellvertretend für viele Biografien und zahllose Entwürfe und Objekte, die in den 14 Jahren zwischen 1919 und 1933 am Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin entstanden.“ (Hillger 2019: 3)
22 Ergänzende Informationen zu Entstehung und Hintergrund des Projektes stammen aus einem Gespräch mit den Künstlerinnen im Juli 2023. Weitere Informationen finden sich auch auf der projekteigenen Website: https://ulteriorflux.com/ (15.08.2023).
23 Dies entstand im Rahmen einer Residenz an der Akademie der Künste.
24 Zum erweiterten Ansatz von Interface bezogen auf den Raum siehe z. B. Richterich/Schabacher 2011.
25 Siehe Beschreibung auf der projekteigenen Website: https://ulteriorflux.com/ (15.08.2023).
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Citation
Verena Elisabet Eitel: In Bewegung begriffen – Bewegtbild und erweiterte Aufführungs-Anordnungen. AR und 360°-Film/VR in der künstlerischen Praxis. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 39, 20. Jg., (1)2024, S. 126-148
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2024-16223
First published online
März/2024