Von Anna Schober
Abstract
In diesem Beitrag werden künstlerische Arbeiten der in der Türkei und in Österreich lebenden bildenden Künstlerin Nilbar Güreș in Hinblick auf den in ihnen erfolgenden Gebrauch der Ironie und der Parodie untersucht. In ihrem Werk, das unter anderem aus Performances, Fotografien und Zeichnungen besteht, bezieht sich die Künstlerin auf Bildtraditionen und Diskurse, die sich häufig mit dem Erscheinungsbild weiblicher Körper in der Öffentlichkeit und der Faszination für körperliche Aktivitäten, insbesondere im Sport und in alltäglichen Praktiken, auseinandersetzen. Anhand der künstlerischen Arbeiten von Nilbar Güreș wird aufgezeigt, in welcher Form Ironie und Parodie visuell dargeboten werden. Dabei kommt auch zur Sprache auf welche Weise die Künstlerin eine Formensprache entwickelt, die Bedeutung kalkuliert und rahmende Entscheidungen wie die Wahl des künstlerischen Mediums oder des Aufführungsortes trifft, aber auch, wie sie Alltägliches und Unkalkuliertes in ihre Kunst integriert. Der Aufsatz geht dementsprechend den Fragen nach, inwiefern und in welcher Weise der Einsatz von Ironie in ihrem Werk mit Kontingenz verbunden ist, d. h. wie Zufall, Absicht, Intuition und Improvisation in ihrer Kunst zusammenwirken und wie Ironie als kontingentes Wahrnehmungsereignis Polarisierungen in der Gesellschaft entgegentreten und/oder befördern kann.
This article examines the artistic works of Nilbar Güreș, a visual artist living in Turkey and Austria. The focus is on the use of irony and parody in her art, which often addresses the appearance of female bodies in public and the fascination with physical action, particularly in sports and everyday practices. The artistic work of Nilbar Güreș, which consists of performances, photographs and drawings, among other things, is used to demonstrate in what form irony and parody are displayed visually. The way in which the artist develops a formal language, calculates meaning and makes framing decisions such as the choice of artistic medium or performance venue, but also how she integrates the everyday and the uncalculated into her art, is also discussed. Accordingly, the article explores how and in what ways the use of irony in her work is related to contingency, i.e. how chance, intention, intuition, and improvisation interact in her art, and how irony, as a contingent perceptual event, can counter and/or promote polarizations in society.
1. Einleitung
Das transmediale Werk der unter anderem in der Türkei und Österreich lebenden bildenden Künstlerin Nilbar Güreș besteht aus Performances, Skulpturen, fotografisch festgehaltenen kollektiven Darbietungen und Zeichnungen, in denen vielfach die ästhetischen Taktiken der Ironie und Parodie eingesetzt werden. In ihren Arbeiten bezieht sie sich häufig auf Bildtraditionen und Diskurse, die den weiblichen Körper und wie dieser in der Öffentlichkeit präsent ist, re-inszenieren und thematisieren sowie – damit verbunden – auch auf eine Faszination für körperliches Handeln, wie sie gegenwärtig im Sport und im Zuge von Körperpraktiken wie Fitness oder Yoga zu Tage tritt. Ein weiteres Thema ist das Nutzen und Aneignen von Inszenierungen des Sports in zeitgenössischer (populistischer) Politik. Anhand der künstlerischen Arbeiten von Nilbar Güreș wird untersucht, in welcher Form Ironie und Parodie visuell dargeboten werden können Dabei kommen verschiedene Traditionen, den künstlerischen Einsatz von Ironie zu evaluieren und zu bewerten, zur Sprache: eine, in der Ironie vor allem als Taktik, das Bestehende subversiv zu unterlaufen und herauszufordern, verstanden wird sowie eine weitere, in der Darbietungen von Ironie als Mittel der Kontrolle und Überwachung, zum Beispiel in Form eines Lächerlich-Machens von Neuerungen in einer Gesellschaft, eingesetzt werden. In dem Zusammenhang geht der Text auch der Frage nach, inwiefern bzw. in welcher Weise der Gebrauch von Ironie im Werk von Nilbar Güreș an Kontingenz gebunden ist und wie Zufall, Absicht, Intuition und Improvisation in ihrer Kunst zusammenwirken. Schließlich wird die Frage gestellt, inwiefern Ironie und Parodie mit Akten der Wahrnehmung zu haben und als kontingente Ereignisse Polarisierungen in der Gesellschaft befördern und/oder herausfordern?
2. Der Gebrauch von Ironie in der Serie Unknown Sports – Public Space
Ein Beispiel für den Zugang von Nilbar Güreș ist die – aus Performances, inszenierten Fotoarbeiten und eigenständigen Zeichnungen und Collagen in Mixed-Media Technik bestehende – Serie Unknown Sports. Public Space. In dieser legt sie den Fokus darauf, wie der Körper von Frauen zum Gegenstand visueller Darbietungen und Diskurse wird und wie dieser in Auseinandersetzungen in Bezug auf gesellschaftliche Richtungsentscheidungen, etwa in Zusammenhang mit Modernisierung, Urbanisierung oder Nationalismus, je in ganz eigener, sich historisch stark verändernder Weise dargeboten und inszeniert wird. Zu dieser Serie zählen mehrere Performances, die Güreș im Sommer 2008 in verschiedenen Stadtvierteln in Istanbul (im tendenziell eher säkularen, sozialdemokratisch dominierten und kosmopolitischen Kadıköy Bezirk, im konservativeren, streng-religiösen Fatih-Viertel, im Einkaufs- und Geschäftsviertel Besiktas sowie im strenger religiösen Bezirk Üsküdar) durchführte und mit denen sich die Künstlerin selbst mit ihrem Körper dem Blick, Urteil und zum Teil auch der Zusammenarbeit mit dem Publikum aussetzte. Zur Serie gehört aber auch eine theatrale Inszenierung in einem Turnsaal der Sportakademie in Istanbul (2009), für die Nilbar Güreș den inszenatorischen Rahmen vorgab und die sie fotografisch festhielt, die aber im Kern von Frauen aus ihrem Umfeld, die sie dazu eingeladen hatte, vor Ort gestaltet wurde. Diese performativen Arbeiten werden durch eine Reihe von eigenständigen zeichnerischen Arbeiten bzw. Collagen in Mixed-Media Technik ergänzt. In all diesen individuellen und kollektiven Performances, Fotoarbeiten und Zeichnungen werden Verhaltensweisen sowie gruppenspezifische Praktiken der körperbezogenen Selbststilisierung von Frauen und des damit verbundenen Ausagierens von Begehren und Differenz-Managements reinszeniert. Die Künstlerin greift dabei – zum Teil im Verein mit ihren Mitspielerinnen – Handlungen und Objekte aus der Welt des Sports und des Alltagslebens von Frauen auf und inszeniert deren Darbietung unter Einsatz von Taktiken der Montage, der Ironie und der Parodie in einer Weise, dass die Inszenierung des Sozialen, in das sie mit ihren Gestaltungen eingreift, selbst der kritischen Reflexion zugeführt wird. Es gibt, mit Adorno (1967: 189) gesprochen, einen „Griff der Gebilde nach der außer-ästhetischen Realität“. Dies störte den Sinn des Kunstwerks durch „eine seiner Gesetzlichkeiten entzogene Invasion von Bruchstücken der empirischen Realität (… und strafte ihn) dadurch Lügen“ (ebd.).
Als Hintergrund und Motivation für diese Interventionen spricht Güreș[1] widersprüchliche Rollenanforderungen an Frauen in der Türkei an, die ihrer Meinung nach der Selbstbestimmung zuwiderlaufen: Einerseits beobachtet sie eine Erwartungshaltung, in der davon ausgegangen wird, dass Frauen diszipliniert auftreten und ihre Körper bedeckt halten, andererseits, dass in Bezug auf Frauen, zum Beispiel wenn sie als Sportlerinnen eine Nation repräsentieren, plötzlich vieles erlaubt ist, etwa, dass sie ganz kurze Hosen tragen oder öffentlich Raum einnehmen. Als Ausgangspunkte für ihre performativen, choreographischen und zeichnerischen Interventionen fungieren dementsprechend „Uniformen“ für Frau-Sein, Sportlerin-Sein oder Braut-Sein, sowie alltägliche gesellschaftlich verbreitete Praktiken und gruppenspezifische Routinen und Inszenierungsstile, die sie künstlerisch zur Wiederaufführung bzw. zur Darstellung bringt.
„Ironie“ wird von ihr dabei nicht einfach in der landläufigen Bedeutung von etwas Ungesagtem oder einem Gegenteil des Gesagten verwendet, sondern als eine Bedeutungsverschiebung verstanden, die etwas Anderes und mehr als das Gezeigte und Gesagte hervorruft. Diese Ironie macht das Dargestellte komplexer und steigert seine Ambivalenz. Sie wird „poduziert und erkennbar gemacht“, indem künstlerische Taktiken wie Wiederholung, Mimikry, ästhetische Korrelationen, Übertreibung oder Nicht-Kohärenz eingesetzt werden (vgl. Hutcheon 1994: 12f. und 154f.).
Dabei ist der Zugang von Güreș nicht in erster Linie von einer Intention zur Subversion, im Sinne eines binären Gegensatzes zur Affirmation (Güres 2020) geleitet, sondern eher von einem Sich-Auseinandersetzen und einem Operieren mit Ambivalenzen, die in Zusammenhang mit alltäglichen Praktiken von Frauen auftreten. Eine zentrale ästhetische Taktik ist dabei die Wiederholung, die – in Verbindung mit Ironie und Parodie – übertreibt und übersteigert, was – so die zu überprüfende Hypothese – irritiert und dabei Tabuisiertes und gesellschaftlich Verstecktes greifbar zu machen vermag, bestehende Polarsierungen aber auch affirmiert und so weiter zirkuliert.
3. Sport, Politik und Kunst
Das enge Verhältnis von Sport und Ästhetik – im Sinne einer Lehre der Wahrnehmung und des Schönen in Kultur und Natur – stellt historisch eine jüngere Entwicklung dar. In der Antike und noch im 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert wurde der Sport als ethisch relevante Tätigkeit geschätzt – etwa im Zusammenhang mit der Charakterbildung, der Moral oder dem Schaffen eines Gemeinschaftsgefühls. (Welsch 2004: 64f.) Mit der Kunst der Moderne und vor allem seit dem historischen Umbruch in den ausgehenden 1960er-Jahren (Schober 2009: 148-187) näherten sich Kunst und Sport jedoch einander an. Eine treibende Kraft dafür waren Avantgarde-Bewegungen wie zunächst der Surrealismus und Dadaismus, später dann die Neodada-Bewegungen oder die Aktions- und Körperkunst um 1968, die je mit dem Anspruch antraten, Kunst ins Leben überführen zu wollen und dabei bereits Bruchstücke aus der Welt des Sports in die Kunst integriert hatten (Schober 2009: 217).
Gleichzeitig erfuhren die Wahrnehmungen und Handlungen des Publikums sowohl in den Bereichen Sport und Politik als auch in der Wissenschaft und in der Kunst eine Aufwertung – sie wurden diskursiv verhandelt[2] und auf diese Weise neu bewertet und thematisiert. Dies zeigt sich in jüngerer Zeit auch daran, dass in der medialen Inszenierung im Sport – wie auch in der Politik und in der Kunst – das Publikum und insbesondere dessen eigenständiges und affektgeladenes Verhalten häufig in die bildhafte Repräsentation hineingeholt und zu einem Teil der Inszenierung wird. Auch Nilbar Güreș bezieht das Publikum vielfach in ihre Performances ein: Sie macht das Handeln und Wahrnehmen des Publikums zum Teil ihrer Arbeit bzw. thematisiert dies in performativen Installationen – zum Beispiel jener in der Istanbuler Sportakademie (2009), auf die ich weiter unten noch ausführlich eingehen werde und die kontingent sich ergebende Aufführungen von Mitspielerinnen integriert –, das Verhältnis von Aufführung und Zuschauerschaft. Zugleich nimmt sie Fotografien, auf denen Zuschauer und Zuschauerinnen – in konfrontativer oder interagierender Begegnung mit der Künstlerin – zu sehen sind, in Kataloge und andere Dokumentationen ihrer Arbeiten auf.
In der Moderne wurde Sport in vielen Ländern und insbesondere auch in der Türkei politisiert, indem er seit etwa dem 18. Jahrhundert wiederholt und von unterschiedlichen Agenten zum Instrument für den sozialen Wandel und die Konstituierung einer neuen, republikanischen Nation eingesetzt wurde. Dabei gerieten nicht nur die Körper von Jugendlichen, sondern vor allem auch die der Frauen ins Visier der für die Reformen zuständigen “Erneuerer” und “Erneuererinnen”. Sport wurde einerseits zu einem kultivierenden und zivilisatorischen Projekt, andererseits und als Reaktion darauf wird er aber auch mit Dekadenz und Degeneration in Verbindung gebracht. (Sehlikoglu 2021: 33f. und 45) In den letzten Jahrzehnten verstärkte sich diese Nähe und Verstrickung von Sport, Ästhetik und Politik.
Gegenwärtig werden zeitgenössische Weisen der Selbstinszenierung sowohl in der Politik als auch im Alltag der Mehrheit der Bevölkerung von einer Semantik des Sports und des Wettbewerbs beherrscht. Selbstinszenierungen sind auf einen Wettkampf hin orientiert und treten mit Praktiken der Meisterschaft und Selbstsicherung verschränkt auf. Dies impliziert, dass die seit etwa den 1990er-Jahren in großen Teilen der westlichen Welt dominante und auch in Ländern wie der Türkei stark präsente Modellierung der Subjekte auf Steigerung, inneres Wachstum und Expressivität hin ausgerichtet ist und sich darüber auch Meisterschaft und ein Anspruch auf eine Kontrolle von Öffentlichkeit artikulieren. Durchhaltevermögen, geschmeidige Routine, Kreativität und unternehmerische Initiative stehen im Vordergrund (Reckwitz 2010: 532f.). Über körperorientiertes, personengebundenes Handeln wird eine Art Alternativerlebnis zu einer wahrgenommenen Anonymität, Intransparenz, Komplexität, Durchrationalisierung und Virtualisierung von Öffentlichkeit stilisiert. Aufsehenerregende Sportereignisse, die an künstlerische Happenings erinnern, stellen zudem eine spektakuläre Unterbrechung des Alltags dar. Die auf ihnen getätigten, körperbezogenen Handlungen signalisieren Abenteuer und Selbstermächtigung, schaffen eine physisch wahrnehmbare Distinktion und peilen eine Resonanz des Publikums an, die von sensorischer Empathie getragen ist (Bette 2004: 93 und 108f.).
Die transmedialen künstlerischen Interventionen von Nilbar Güreș setzen an dieser Verschränkung von Sport, Ästhetik und Politik sowie an einer politischen Kultur an, die von einer Tendenz zur Körperaufwertung sowie von Prozessen der Personalisierung und gesellschaftlichen Polarisierung geprägt ist. Dabei sind es insbesondere drei gegenwärtige gesellschaftliche und ästhetische Tendenzen, zu denen sich Güreș mit dieser Serie und verwandten künstlerischen Arbeiten, etwa Headstanding Totem (2014), ironisch äußert:
Sie bezieht ihre Interventionen zunächst auf populistische Diskurse, die Anfang des neuen Jahrtausends in der westlichen Welt und in der Türkei (hier etwa Diskurse, die auf den Politiker Recep Tayyip Erdoğan rekurieren) Sport in Zusammenhang mit einer Personalisierung des Politischen und der Neuausrichtung von Parteien in Richtung von „Bewegungen“ und einer damit verbundenen expliziteren Einbeziehung des Publikums verstärkt aufgegriffen haben. Dies zeigte sich in Städten wie Istanbul zum Beispiel daran, dass sich die Stadtverwaltung den Wunsch vieler Frauen, durch körperliche Betätigung urbaner und mobiler zu werden, zunutze machte, indem sie vermehrt Sportgeräte in öffentlichen Parks aufstellte. In diesen Diskursen wurden frühere Auffassungen von Sport als kultivierendes und zivilisierendes Ritual (Sehlikoglu 2021: 33f.) aufgegriffen, wie sie zum Beispiel in der Epoche des türkischen republikanischen Projektes (etwa 1923-1950) zum Zweck der Kontrolle und Transformation von Öffentlichkeit umgesetzt wurden. Im Unterschied zu damals wurde Sport nun jedoch nicht mehr nur für die Frauen der Eliten, sondern „für alle“, d. h. vor allem auch für Frauen aus mittleren und unteren sozialen Schichten propagiert.
Parallel dazu verbreitet sich sowohl in westlichen Ländern wie auch im Nahen Osten eine weitere Tendenz, die von neuen sozialen Medien geprägt ist, deren Kommunikationsformate verstärkt auch in einflussreiche nationale Medienkanäle wie das öffentliche Fernsehen eingehen, neben dem vermehrt auch private Sender als Anbieter auftreten. Auf all diesen Kanälen begannen Ärzte, Physiotherapeutinnen und Gesundheitsapostel diverser Ausrichtung, die Verbesserung des körperlichen (und nationalen) Wohlbefindens und Lebensstils durch Sport zu predigen. Über neue soziale Medien und die in ihnen präsenten Diskurse entstanden „Echokammern“, in denen sich Gruppen rund um zum Teil ideologisch prononciert artikulierte Ausrichtungen zusammenfinden – was eine von Ressentiment und Empörung gekennzeichnete Polarisierung der Gesellschaft mit hervorbrachte (Schober 2021).
Dazu gesellte sich als eine dritte Tendenz eine neue Sichtbarkeit von religiös und spirituell motivierten Diskursen – ebenfalls sowohl in einer zunehmend von der AKP unter Erdoğans Führung dominierten Türkei als auch in westlichen Ländern wie Deutschland oder Österreich. Die Anwesenheit von Frauen, die in der Öffentlichkeit Sport treiben, stellte zunächst für traditionalistische islamische Sichtweisen eine Art Provokation dar, die seit den 1970er-Jahren immer wieder zu Fatwas geführt hat, mit denen versucht wurde, die körperlichen Praktiken von Frauen im Zusammenhang mit Sport in der Öffentlichkeit zu regulieren. Mit der angeführten Tendenz im Zuge derer Frauen in der Öffentlichkeit vermehrt Arenen für körperliche Betätigung aufsuchen, beteiligen sich jedoch vermehrt auch fromme Musliminnen an solchen Debatten. Körperliche Ertüchtigung wurde dabei nicht mehr allein als neoliberales Konsumverhalten kritisiert, sondern zu einem Mittel stilisiert, das körperliche Ganzheit zu erhalten und den rasanten Rhythmus des modernen Lebens zu überwinden vermag. (Sehlikoglu 2021: 46 und 232f.) Dieser Wandel, im Zuge dessen auf die eine oder andere Weise je eine Nähe von Sport, Ästhetik und Politik deutlich wird, brachten ein kollektives Muster der Selbstkultur, aber auch ein affektives Gedächtnis hervor, mit denen und mit den Widersprüchen, die diesen Entwicklungen innewohnen, künstlerische Arbeiten wie die Serie Unknown Sports von Nilbar Güreș in Auseinandersetzung treten.
Über ein Zur-Schau-Stellen des Körpers und über ein Betonen der Erotik des Körpers traten auch im Sport in den letzten Jahrzehnten die ästhetischen und symbolischen Dimensionen verstärkt in den Vordergrund. Hier wurde ähnlich wie im Theater oder in der bildenden Kunst die „dramatische Regie von Körpern“ (Welsch 2004: 75) und das Ereignis der Aufführungen zentral. Eine Nähe von Sport und Kunst zeigt sich somit auch daran, dass im Sport wie in der Kunst die Grenzen von verschiedenen avantgardistischen Akteurinnen und Akteuren immer wieder neu gezogen werden. Ähnlich wie gewisse Artefakte oder eine Intervention erst durch Zuschreibung zu Kunst werden, so kann eine Form des körperbezogenen Spiels zum Sport deklariert werden – wobei „seit der Industrialisierung … ständig neue Bewegungs-, Geschicklichkeits- und Spielformen entstehen, deren sportlicher Status zunächst oft restlos ungeklärt“ (Orzessek 2016) ist. Mit dem Titel der Serie „Unknown Sports“ weist Nilbar Güreș auf solche Grenzverschiebungen und die Möglichkeit hin, körperliche Darbietungen per Setzung als Kunst bzw. neue Sportart zu deklarieren.
4. Ironisch-parodistische Aneignungen von Praktiken körperlicher Ertüchtigung
Die Rolle von Ironie und Parodie in der Serie Unknown Sports. Public Space wird prominent an einer fotografisch dokumentierten Kollektiv-Performance an der Militärakademie in Istanbul (2009, Abb. 1) sowie an den ebenfalls zur Serie gehörenden eigenständigen zeichnerischen Arbeiten bzw. Collagen in Mixed-Media Technik deutlich. In Zusammenhang mit Ersterer lud Güreș Frauen verschiedener Generationen und weltanschaulich-religiöser Ausrichtungen in den Turnsaal der Militärakademie in Istanbul ein, miteinander und mit den aufgestellten Sportgeräten zu interagieren. Das Setting orientierte sich an den in der Türkei beliebten Wachspartys, bei denen Frauen sich treffen, um mittels Wachs Körperhaare zu entfernen. (Güres 2020) Die Künstlerin verlegte dieses private, unter Frauen durchgeführte Ritual jedoch in den Raum einer öffentlichen Sportakademie, die für gewöhnlich mit betont maskulinen Trainingspraktiken und Seilschaften unter Männern assoziiert wird.
Abb. 1: Nilbar Güreş, BALANCE BOARD, GIRL’S PARALLEL BAR and POMMEL HORSE (Performance in der Militärakademie in Istanbul) aus der Serie Unknown Sports. Public Space, 2009, © Nilbar Güreş, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Güreș wählte diesen Raum für die Performance aus und adaptierte ihn in Form einer großen Installation. Sie forderte Frauen, die ihr oder ihrem Umfeld weitläufig bekannt waren, auf, Alltagshandlungen und Rituale nachzustellen und sie produzierte und editierte die Fotos, die von der Aktion Zeugnis ablegen. Ihr Anspruch war dabei nicht, die Performance vorab detailliert zu choreographieren[3] oder anderweitig festzulegen, sondern sie arrangierte eine offene Installation, in der die Frauen zueinander in Beziehung treten, aber auch einzeln kleine Performances präsentieren konnten. Während der Aufführung trugen die Frauen ihre mitgebrachte Kleidung und speisten ihren je eigenen – eher modern-urbanen oder traditionell-ruralen – Stil der Selbstaufführung in das Geschehen ein. Der Umstand, dass mehrere der mitwirkenden Frauen mit der Künstlerin, zum Teil vermittelt durch Dritte (weitläufige Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Arbeitsbeziehungen) bereits in loser Verbindung standen, erleichterte die Interaktion der Frauen während der Performance. Güreș integrierte damit herkömmlich als kontingent geltende Handlungsabfolgen und körperliche Aufführungspraktiken in ein prozessual und interaktiv gestaltetes Kunstwerk, für das sie nichtsdestotrotz eine formale Rahmung definierte und das sie selbst als Fotografin dokumentierte. Kontingenz steht hier demnach einer „auktorial gesetzte(n), kalkulierte(n) und beherrschte(n)“ (Majetschak 2013: 18) Form entgegen. Kontingente Momente und Erscheinungen des Alltags werden zugleich plakativ über die Aufführungen und Interaktionen der eingeladenen Frauen in das Werk hineingenommen – durch die Anordnung der Turngeräte im Raum oder durch ihre Präsenz als Fotografin kann die Künstlerin das Verhalten ihrer Mitakteurinnen zwar anregen und lenken, jedoch nicht beherrschen.[4]
Während der Performance interagierten die Frauen allein oder miteinander und mit verschiedenen Haushaltsgegenständen wie einem Kochtopf oder einem Bügelbrett, aber auch mit Bällen, Bändern und Schuhen. Die Kleidung der Frauen variierte zwischen eher unauffälliger und schriller erotischer, spektakulärer Aufmachung. Dabei vollführten sie sportliche, aber auch erotisch aufgeladene Bewegungen und brachten Fragmente von Routinen ein, über die ihre Körper im Alltag natürlich und normal erscheinen und die mit tendenziell „weiblich“ kodierten Tätigkeiten wie Sich-Pflegen, Kochen oder Putzen verbunden sind. Unkalkulierte und unkalkulierbare Handlungen, Interaktionen, Selbstsaufführungsstile, Kleidungsweisen, Gestik und Mimik gingen demnach innerhalb des künstlerisch inszenierten Rahmens in das Werk ein.
Die von Güreș hergestellten Fotografien, die diese Performance dokumentieren, zeigen jüngere, modern und westlich auftretende Frauen, aber auch ältere, sportlich in Pullover und Hose oder mit Kopftuch und weitem, langem Rock gekleidet. Eine der Protagonistinnen balancierte in Alltagskleidung mit Kopftuch auf einem Turn-Pferd, während eine andere sich ihr mit einer Art Stoffbinde näherte, um Haare zu entfernen. Andere Frauen machen beschwingte, tänzerische Bewegungen oder Übungen im Stand, die an Gymnastikaufgaben erinnern. Eine Frau turnte auf einem Barren, während eine andere versuchte, ihr die Achselharre zu entfernen. Das in der Türkei traditionell verbreitete rote Fruchtbarkeitsband wurde dabei zu einer Art Schaukel umfunktioniert. In einer anderen Szene inszenierte sich eine der Frauen vor einigen der restlichen Teilnehmerinnen, die auf einer Zuschauertribüne versammelt waren, indem sie auf einem mit Spitzenstoff verzierten Schwebebalken, auf dem ein Kochtopf aufgestellt war, balancierte. Sie trat in einer Art Trikot gekleidet auf, über das sie einen BH verkehrt herum angezogen trug, und hielt einen roten, hochhackigen Damenschuh in einer Hand. Mit den durch die Montage der körperlichen Verrichtungen zueinander sich ergebenden Lücken zwischen den einzelnen Darbietungen und den ungewöhnlichen ironisch-parodistischen Kombinationen von Objekten und Handlungen erwecken diese Aufführungen den Eindruck des Grotesken. Geschlechts-spezifische Selbstdarstellungspraktiken erscheinen als ein einziges großes, sich körperlich verausgabendes Theater.
Dabei sind es vor allem das ironisch-parodistische Zu- und Gegeneinander von Handlungen und die ungewöhnlichen Objektnutzungen, die Verunsicherung provozieren und dem Publikum die Welt in ihrer Ambivalenz (oder anders gewendet: in ihrer Zweischneidigkeit) vor Augen führen. Die solcherart eingesetzt Ironie soll jedoch nicht zu einem Konzept erklärt und auf diese Weise erneut kontrolliert werden. Denn sie kann auch als ein Angreifen und Lächerlich-Machen verstanden werden (Hutcheon 1994: 14f.). Dabei existiert, wie an dieser Arbeit besonders deutlich wird, auch eine Beziehung zwischen Ironie und Parodie – die Selbstaufführungsakte können auch als Parodien, das Unzusammenhängende kann als Lächerliches wahrgenommen werden. Ironie funktioniert demnach – wie unter anderem Linda Hutcheon (2000: 54) festgehalten hat – auf einer mikrokosmischen (semantischen) Ebene genauso wie die Parodie auf einer makrokosmischen (textlichen) Ebene. Denn auch die Parodie markiert Differenz durch Überlagerung – diesmal jedoch von textlichen und nicht von semantischen Kontexten.
Über den vielfältigen Einsatz von Alltagshandlungen und -objekten sowie über die ästhetische Praxis des Reenactment in Verbindung mit Taktiken der Ironie und Parodie wird von Güreș in der Tradition kritischer Kunstpraxis der Moderne (wie dem Dadaismus oder dem Surrealismus) versucht, das Publikum dazu zu bringen, sein Augenmerk auch auf die Modalitäten der Herstellung des Sozialen und Politischen außerhalb des Turnsaals der Sportakademie in Istanbul zu legen. Die montage-förmige, wiederholt ironisierte Inszenierung verschiedener Aufführungsstile macht verschiedene Selbstkulturen vergleichbar und lesbar, auch wenn diese zugleich verwirrt werden. Die Elemente von Wirklichkeit, die in das Kunstwerk Eingang finden – verschiedenen Handlungsabläufe, aber auch Objekte wie Wachsbinden, ein Kochtopf, verschiedene Stoffe oder das rote Fruchtbarkeitsband –, sind auf diese Weise einem neuen Sinnzusammenhang oder genauer: einem absurden Zusammenhang, der zwischen Sinn und seiner Negation schwankt, zugeschlagen, wobei der traditionelle Sinn von Kunstwerken zugleich zurückgewiesen wird (Adorno 1967: 189f.).
Für den politisch-gesellschaftlichen Anspruch, den Güreș (2020) mit der Performance verbindet, ist zentral, dass sie Frauen unterschiedlicher religiöser Ausrichtung – zum Beispiel Kopftuchträgerinnen und säkular gekleidete Frauen – an einem Ort zusammenbrachte. Im Zu- und Gegeneinander der Körper in der Turnhalle in Istanbul wird dementsprechend auch eine Lust an der Vermischung von ansonsten im öffentlichen Leben und insbesondere in der Türkei zunehmend eher getrennt auftretenden Gruppen greifbar. Die Künstlerin peilte damit an, Entwicklungen wie sie in jüngerer Zeit in Zusammenhang mit der Sichtbarkeit von Religion und mit der Digitalisierung und dem Aufkommen neuer sozialer Medien zu beobachten sind, zu durchbrechen. In erster Linie spielt sie auf die damit einhergehende Polarisierung der Öffentlichkeit in Form von sozialen Kreisen bzw. Filterblasen (Sunstein 2017: 114f.) an, die in sich relativ homogen sind und kaum mehr Vermischung oder die Artikulation von divergierenden Weltanschauungen und Meinungen zulassen.
In den eigenständigen Zeichnungen in Mixed-Media Technik, die zur Serie Unknown Sports. Public Space gehören, ist dieser ironisch-parodistische Charakter noch stärker präsent. Auf Werken aus dieser Serie wie Balance Beam (2009, 152 x 225 cm), Red Thread (2009, 50 x 70 cm), The Art of the Rolling Bin (2010, 115 x 152 cm), Jump (2011, 113 x 156 cm) oder Catch (2010, 113 × 156 cm) sind ebenfalls ausschließlich Frauen zeichnerisch repräsentiert. Diese interagieren miteinander und mit Haushaltsgeräten wie Nähmaschinen, Kochtöpfen, Kochplatten oder Bügelbrettern, aber auch mit einem Fußball, mit elastischen Stoffbinden, Teetassen, Stoffbändern und hochhackigen Schuhen. Ihre Aufmachung geht – stärker als in den anderen Arbeiten der Serie Unknown Sports – weg von Alltagskleidung und hin zu schriller, spektakulär-ungewöhnlicher und erotischer Performance: Die dargestellten Frauen sind oft bis auf einen BH und ein Tuch, das um die Hüften geschlungen ist, nackt oder tragen einen farbigen Badeanzug, Strapse oder gemusterte Strümpfe. Sie kombinieren dies mit einem hochhackigen roten Schuh oder einem Handschuh, einem extravaganten Federkopfschmuck, aber auch mit bunt gemusterten Kopftüchern oder einer weiten Pluderhose. In dieser Aufmachung führen die Frauen Bewegungen aus, die zwischen sportlichen und erotisch-lasziven oszillieren – allein oder miteinander und in Interaktionen mit den Objekten.
Die Objekte, die auf den Zeichnungen repräsentiert sind, werden auf diese Weise stets fantasievoll umfunktioniert und zum Teil fetischisiert. Manchmal verschmelzen verschiedene Dinge miteinander, sodass opak wird, worauf das Dargestellte verweist. So macht zum Beispiel in Red Thread (2009: Abb. 2) eine der dargestellten Frauen Balanceübungen auf einem Turnbock, der zugleich ein Bügelbrett mit bunt gemustertem Überzug ist.
Abb. 2: Nilbar Güreş, Red Thread aus der Serie Unknown Sports. Public Space, 2009, © Nilbar Güreş, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Um den Oberschenkel hat sie einen Dildo geschnallt. Ihr gegenüber ist ezine zweite Frau unter Nutzung einer als Gymnastikband umfunktionierten Trikotschlaufe mit tänzerischen Dehnungsübungen beschäftigt. Die beiden sind über die Blicke und die körperliche Ausrichtung aufeinander bezogen, aber auch durch ein rotes Band verbunden, das ein Gymnastikband sein könnte, aber auch wieder an das rotes Jungfräulichkeitsband erinnert, das in mehreren Arbeiten von Nilbar Güreș zum Einsatz kommt.
Diese zeichnerischen Arbeiten rühren in noch stärkerem Ausmaß als die Performances und Fotoarbeiten an Tabus. Der Erotik und der Sexualität, die in Zusammenhang mit dem Agieren von Frauen untereinander, etwa in homosozialen Räumen, für gewöhnlich ausgeblendet oder sogar tabuisiert werden, wird in ihnen in vielfältiger und plakativer Weise visuelle Präsenz verliehen. Die Frauen bewegen sich miteinander und mit den Objekten, wobei sie all die Tätigkeiten wie Kochen oder Bügeln unter anderem zu sexuellen Zwecken umfunktionieren und die dabei eingesetzten Objekte dementsprechend nutzen. Auf diese Weise wird die „empirische Wirklichkeit“ (Adorno 1967: 191) von Frauen schockhaft parodiert – etwa, wenn diese neben dem erotischen Spektakel mit Nähmaschine und spektakulär balanciertem Teeglas auch Fußball spielen oder auf dem Bügelbrett mit einem Dildo operieren. Die liebevoll und sorgfältig gezeichneten Details, die diese Zeichnungen charakterisieren und die etwa eine in den Stöckelschuh gesteckte Blume, geblümte Strümpfe, die oberhalb des Knies enden, eine behaarte Scham oder einen Griff an die Brüste zeigen, akzentuieren das Sexuelle, das manchmal ins Fetischhafte übergeht.
Für dieses Parodieren, Umfunktionieren, Zweckentfremden, Verschieben und Verwirren von Bedeutungen wählt die Künstlerin den Begriff queer. Über Unknown Sports hielt sie 2008 fest: „When we feed each other fancy cakes on the slippery satin sofa or want to taste the aunt’s breast milk who has freshly delivered, there is something queer to it. Also, in cleaning, in being a slave there is big potential for a sports career. We could have been high jumpers instead of mop window cleaners. Sprinters instead of shop runners, shot-putting instead of holding our siblings in our arms. There are sports and sports arenas you don’t know of. The living room holds the possibility of suddenly turning into a hippodrome, the bedroom may unexpectedly become a fighting ring“ (zitiert nach: Achola/ Bobadilla/Dimiztova/Güres/Del Sordo 2010: 113).
Die hier angesprochene Dimension des Sexuellen und Queeren vermag die Authentizität der dargebotenen Interaktionen zu steigern. Sie vermittelt ein „Hereinbrechen des Wirklichen in eine Welt des Scheins“ (Seel 2003: 299) und ist daraufhin kalkuliert, leiblich zu berühren und dabei „eine Wirklichkeit [zu] entfalten, die sich von der Normalität des Daseins ebenso abhebt wie andere Grenzfälle des Lebens.“ (Seel 2003: 301)
Sowohl über die von der Künstlerin inszenatorisch gerahmten Kollektiv-Performance in der Militärakademie in Istanbul als auch über die zeichnerischen Mixed-Media-Arbeiten vermittelt sich aber auch, gesteigert durch das Absurde und Paradoxe der dargestellten körperlichen Aufmachungen und Handlungen, auch die die Erfahrung eines Mangels an einem befriedigendem Selbst-, Kommunikations- und Welterleben generell. Darüber hinaus wird der Blick ironisch auf gegenwärtige Praktiken der Selbstoptimierung gelenkt und es wird die Frage aufgeworfen, welche politischen Machtapparaturen durch die im Privaten oder in informellen öffentlichen Bereichen ausgeführten Verrichtungen von Frauen in welcher Form affirmiert werden. Zugleich führt die der Arbeit der Künstlerin insgesamt eigene Ironie zu einem konfrontativen Adressieren des Publikums. Denn Ironie fordert ein Evaluieren des Publikums heraus (Hutcheon 1994: 30f.; Schober 2009: 198f.) und erweist sich dabei stets als ein sehr zweischneidiges Schwert. Ihr wohnt eine „trans-ideologischen Dualität“ (Hutcheon 1994: 30f.) inne, die dafür verantwortlich ist, dass sich in Zusammenhang mit Ironie in besonderer Weise zeigt, wie kontingent die Rezeption eines Werkes ausfallen kann: Denn, ob eine Handlung oder eine dargebotene, über den Körper laufende Bezugnahme als ironisch wahrgenommen wird oder nicht, liegt im Auge der Betrachterin oder des Betrachters. Tritt Ironie ein, d. h. werden die auf einem Bild dargestellten Handlungen oder wird eine Performance als ironisch wahrgenommen, dann provoziert dies eine emotionale Verbindung zwischen all jenen, die eine solche Ironie verstehen. Ironie übernimmt demnach nicht allein eine subversive, d. h. gewöhnliche Bedeutungen unterminierende Rolle, wie sie in einer vor allem seit den 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts erstarkten Tradition der Konzeptualisierung (künstlerischen) Protests und der Neoavantgarde (Schober 2009: 196) oft vorausgesetzt wird. Sie kann genauso Komplizenschaft herbeiführen und vermag, momenthaft einen Zusammenhang herzustellen, wirkt jedoch gerade dadurch auch ausschließend und kann auf diese Weise brüskieren oder sogar beleidigen. Über Ironie stellt sich dementsprechend innerhalb des Publikums eine Differenzierung her: Wenn sie verunsichert und Bedeutungen unterminiert bezeugt sie die Zugehörigkeit zu einer, die Ironie affektiv verstehen könnenden Augenblicksgemeinschaft, einer In-Group. Wird Ironie dagegen nicht nachvollzogen oder verstanden, erzeugt sie ein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins oder der Ratlosigkeit. Auf diese Weise polarisiert Ironie, kann aber auch als Mittel der Kontrolle, etwa von diskursiven Neuerungen in einem Gesellschaftsgefüge, fungieren (Schober 2009: 189).
Auch der Verwendung von Ironie in den Arbeiten der Serie Unknown Sports von Nilbar Güreș wohnt eine solche differenzierende und oft auch polarisierende Wirkmacht inne. Diese Arbeiten schließen auf zwiespältige Weise an Debatten und Auseinandersetzungen in den diversen Kontexten, in denen sie rezeptiert werden, an: etwa an diejenige, in denen Frauen mittleren Alters über Medien und verschiedene städtische Agenten zu körperlicher Betätigung und zu einem Beitrag zur Aufrechterhaltung der Gesundheit der Bevölkerung – und darüber der Nation – aufgefordert werden. Korrelationen ergeben sich aber zu Darstellungen dieser Frauen in den sozialen Medien, in denen diese in ihrer Sportausübung unter dem Spitznamen „sportliche Tanten“ (Sehlikoglu 2021: 5) zum Objekt von Spott und Ironie werden.[5] Die Arbeiten von Nilbar Güreș nehmen darüber hinaus in einem gegenwärtigen „öffentlichen Erscheinungsraum“ (Arendt 1998: 31) Platz, in dem Religionen und insbesondere der Islam verstärkt öffentlich sichtbar werden und einen „Imaginationsraum“ (Wunenburger 2003) sowohl besetzen als auch schaffen. Dieser Imaginationsraum ist ebenfalls eng an den Körper und alltägliche Bedeutungsproduktionen gebunden. In Verbindung damit werden in den öffentlichen Sphären mancher Milieus die Ausdrucksmöglichkeiten und die Handlungsspielräume von Frauen – wieder von großen regionalen Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet – auf unterschiedliche Weise neu kategorisiert, bewertet, aber auch eingeschränkt (Güres 2020). Mit der teilweise orgiastisch anmutenden, dabei stets auch ironisch polemisierenden und burlesken Darstellung der Interaktion von Frauen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung greift Güreș solche Tendenzen auf und versucht, ihnen einen neuen – zwischen Sinn und Nicht-Sinn changierenden – Sinn zu verleihen. Die in der Arbeit eingebrachte „queere“, nicht leicht klassifizierbare Erotik artikuliert zudem Wut bezüglich der Praktiken, die Frauen beschränken und einen „gleichfreien“ (Balibar 2012: 37f.) Zugang zu Erfahrungen im Privaten wie im Öffentlichen, insbesondere im Bereich der Sexualität, verunmöglichen.
5. Das kontingente Sich-Ergeben von Ironie
Um zu vertiefen, wie Ironie und Parodie im Werk von Nilbar Güreș auf kontingente Weise visuell wahrnehmbar werden, kann neben der Serie Unknown Sports. Public Space auch noch eine weitere Arbeit herangezogen werden: Headstanding Totem (2014, Abb. 3). Auch in dieser großformatigen Fotoarbeit, die mit einer im Raum davor platzierten Skulptur zu einer Installation wird, bezieht sich die Künstlerin auf gegenwärtige Erscheinungsweisen kreativer, postmoderner Selbstkultur und die damit verbundenen Praktiken der sportlichen Ertüchtigung. Güreș gibt uns auf der Fotografie zunächst zwei Körper zu sehen: einen großen, kräftigen Baum und einen weiblichen Körper, der daneben auf einem Stück Stoff, das am Boden ausgebreitet ist, einen Kopfstand macht, wie wir ihn von Yoga-Praktiken her kennen. Während der Baum massiv, fest verwurzelt und ungeschmückt vor uns steht, ist der Körper der Frau zu einem totemartigen Gebilde umgestaltet, wobei gegensätzliche Objekte und Gesten zeitgenössischer Selbstkultur in verwirrende Verbindungen zueinander gesetzt sind.
Abb.3: Nilbar Güreş, Headstanding Totem, 2014, © Nilbar Güreş, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Der Kopfstand und die dazugehörige trikotartige Kleidung stammen aus dem zeitgenössischen Yogamilieu. Zugleich finden auch Kleidungselemente aus diversen sozialen Kreisen der globalisierten Welt Verwendung: um die Körpermitte ist ein aus Fransen bestehender Rock gezogen, wie er von indigenen Gruppen im brasilianischen Amazonas getragen wird, wobei in der gewählten Körperhaltung die Fransen über den Oberkörper der kopfstehenden Frau fallen. Die Füße stecken in dicken, hellen, kurdischen Socken; über beide ist ein bunt gemustertes Kopftuch gebunden, wodurch aus den Socken eine Art Gesicht wird. Ein zweiter, ausführlicher Blick auf diese Körper-Objektmontage ergibt das Bild einer stehenden verschleierten Frauenfigur, wobei – wie in verschiedenen anderen Arbeiten der Künstlerin – Augen, Nase und Mund in dem „Gesicht“ der Gestalt fehlen. Der yogapraktizierende Körper im Freien, inmitten von grünem Blätterwerk und neben dem mächtigen Stamm eines Baumes erinnert zudem an die Hippiesubkultur der 1960er-Jahre, was ein keck um einen Oberschenkel geschlungenes buntes Stoffband unterstreicht. Auf dem Foto werden demnach neben aktuellen Erscheinungsformen von Religiosität und Spiritualität im öffentlichen Raum auch längere Traditionslinien aufgerufen, wie sie sich in Yogapraktiken seit den 196oer-Jahren oder im mehrfach abgeschafften bzw. wieder-aufgenommenen Kopftuchtragen muslimischer Frauen äußern.
Diese Fotografie ist wie erwähnt mit einer weiteren gestalterischen Setzung verbunden: Denn im Ausstellungsraum ist sie mit der kleinen Skulptur Double Headed Snake: Queer Desire is Wild (2015) kombiniert, die auf zwei Steinen auf dem Boden davor platziert ist. Sie besteht aus einem textilen, handgefertigten, leuchtend buntem längerem Gürtel, der in der Form einer Schlange präsentiert ist. Über die Kombination von großformatiger Fotografie und kleiner Skulptur entsteht ein Raum, der Textilien, die aus verschiedensten Weltgegenden (dem globalisierter „Westen“, Indien, Türkei und Brasilien etc.) stammen, beherbergt und uns als Betrachterinnen und Betrachter stärker einschließt, als es durch die alleinige Präsentation des Fotos geschehen würde. Die bunte Schlange wird im Titel der Skulptur als Symbol der Verführung und der Sexualität erneut mit dem Begriff „queer“ sowie mit Begehren und Wildheit verbunden, was in ironischer Spannung zum „Kopfstand-Totem“, jedoch in Korrespondenz zur vitalen, grünen Szenerie des auf der Fotografie repräsentierten „Dschungels“ tritt.
Diese Inszenierung bietet uns viele wahrnehmbare Details, die sich zu lesbaren Figurationen fügen; sich jedoch zugleich wechselseitig ablenken und ironisch in Schwebe setzen. Erscheinungsformen neuer und älterer Religiosität bzw. Spiritualität und das Basteln diesbezüglicher Lebensstile, die Zugehörigkeit markieren, sind als eine Art „Totem“ der Gegenwartsgesellschaft exponiert. Zugleich ist in dieser Installation vieles an Sehnsüchten in Bezug auf Körper und Sexualität artikuliert, was im Alltag computerisierter Netzwerkgesellschaften einen Mangel darzustellen scheint. Im von Symbolen und Details beladenen Körper kommt zudem eine Überforderung angesichts gegenwärtiger Sinnangebote im Bereich neuer Religiosität und Spiritualität zum Ausdruck. Dementsprechend stellen sich angesichts dieser, von ästhetischen Entsprechungen, Nicht-Kohärenz und Ironie gleichermaßen gekennzeichneten, Arbeit eine Reihe von Fragen, die sich um die Stabilität des Selbst, das Finden vielfältiger Anschlusspunkte oder die Verdrängung von Sexualität neben oder trotz ihrer vielfältigen Beanspruchung drehen.
Dies verweist auf ein erstes, zentrales Merkmal von Ironie: Die ironische Bedeutung ist nicht einfach die Substitution einer buchstäblichen Bedeutung, sondern vielmehr ein Oszillieren zwischen zwei oder mehreren Bedeutungen. Ironie ist demnach nichts Festes, sondern etwas Fließendes und kann nicht in binären Kategorien des „Entweder-oder“ gelesen werden. Sie ist an einen aktiven Prozess des Wahrnehmens gebunden und damit kontingent. Zugleich kann Ironie nicht mit Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit gleichgesetzt werden. Denn Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit „does not depend on the simultaneous and edgy playing off of one meaning against another in a relational, inclusive and differential way like this; irony does“ (Hutcheon 1994: 70).
Ob sich Ironie angesichts von Arbeiten wie jenen der Serie Unknown Sports. Public Space oder Headstanding Totem einstellt oder nicht, hängt vor allem davon ab, welchen Kollektiven die Betrachter und Betrachterinnen angehören. Denn es sind Gemeinschaften, die möglich machen, dass sich Ironie kontingent ergibt – was impliziert, dass diese vor allem in relativ geschlossenen Gruppen unmittelbar „verstanden“ wird (Hutcheon 1994: 89f.). Dementsprechend kann als weiteres Merkmal von Ironie festgehalten werden, dass sie nicht universell zugänglich ist, sondern kontextuell und situativ entsteht. Dies ist besonders wichtig in Bezug auf eine Künstlerin wie Nilbar Güreș, die international und in einem globalisierten Kunstbetrieb arbeitet. Die ironische Bedeutung ihrer Werke ist demnach nicht einfach und nicht für alle zu erkennen, was den Arbeiten unter Umständen einen Eindruck von Undurchsichtigkeit verleiht. Innerhalb des westlichen Rezeptionskontextes können zum Beispiel Merkmale wie das wiederholte Zitieren hier „fremdländisch“ wirkender textiler Elemente eher als exotisch denn als ironisch verstanden werden.
„Markierungen“ von Ironie wie Wiederholung, Mimikry, ästhetische Entsprechungen bzw. Korrelation, Übertreibung oder Nicht-Kohärenz sind sowohl in Headstanding Totem als auch in den Performances und zeichnerischen Arbeiten der Serie Unknown Sports. Public Space präsent. Die dadurch erzeugte Opazität hebt die Arbeiten von Nilbar Güreș von anderen Kunstwerken ab, die Ironie in einer pointierteren, d. h. leichter lesbaren Art und Weise einsetzen. Als Beispiel dafür kann The Impossible Dream von Laila Shawa (1988)[6] angeführt werden – ein populäres Kunstwerk, das beispielsweise in einem türkischen Airlines Magazin abgebildet war (Sehlikoglu 2021: 254) und heute in mehreren Versionen als „on demand“ gedrucktes Poster angeboten wird. In ihm wird Ironie benutzt, um das Tragen des Hijabs, das sich Ende der 1980er-Jahre, als das Bild entstand, in Palästina – dem Geburtsort der Künstlerin – stärker zu verbreiten begann, ins Lächerliche zu ziehen. Das Acryl-Gemälde zeigt eine Gruppe von zehn Frauen in farbigem Hijabs, die je versuchen, eine Tüte Eiscreme zu verspeisen. Bis auf die Augenpartie und die Hände sind alle Frauen vollkommen verschleiert. Die mit einem dicken Strich schwarz umrandeten Augenlider stellen dabei ein dominantes Bildelement dar – auch wenn die Augen aller Frauen stets nach unten, Richtung Boden gewandt sind, sodass die Pupillen nicht sichtbar werden. Das Bild ist sehr bunt, wobei die Farben der Ganzkörperschleier mit denen der Eiskugeln, die in den Tüten platziert sind, korrespondieren. Auch dieses Bild ist von Korrespondenzen und einer starken Inkongruenz geprägt, was seine Ironie ausmacht. Letztere besteht darin, dass die Frauen das Eis begehrend in ihren Händen halten, dieses Begehren jedoch nicht befriedigen können. Denn die Verschleierung, die auch den Mund bedeckt, verunmöglicht es ihnen, die Eiscreme zu essen. Das Bild stellt auf diese Weise – wie auch sein Titel festhält – einen Traum dar, der unmöglich ist. Sich verschleiernde Frauen sind in ihm als von ihrem Begehren abgeschnitten charakterisiert (Sehlikoglu 2021: 254f.). Durch Ironie wird diese Darstellung zu einer Kritik, die daran beteiligt ist, das – in der damaligen Welt nach einer ersten Welle der Entschleierung in der Nachkriegszeit – „neuartige“ Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit zu hinterfragen und dieses dadurch zu kontrollieren.
Diese Analyse führt zu einem dritten Merkmal von Ironie: Sie erzielt eine differenzierende und manchmal sogar eine polarisierende Wirkung. Ironie findet sich – wie Paul de Man (1969: 192) aufgezeigt hat, dort wo ein Zeichen auf etwas verweist, das sich von seiner wörtlichen Bedeutung unterscheidet, wobei seine Funktion dann darin besteht, diese Differenz zu thematisieren. Eine solche, über Ironie erzeugte Unterscheidung impliziert jedoch, dass sie mit einer emotionalen Verbindung zwischen all jenen, die der Ironie folgen können einhergeht und zugleich all jene ausschließt, die sie nicht verstehen. Auf diese Weise können über das Einsetzen von Ironie neuartige Erscheinungen oder Sichtweisen, die unter Umständen als unerwartet oder unerwünscht angesehen werden, der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Was in einem bestimmten Milieu sichtbar gemacht werden darf oder als sagbar gilt, kann über Ironie auch kontrolliert werden. Ironie kann demnach nicht nur eine herausfordernde, provozierende und problematisierende, sondern unter Umständen auch eine überwachende und konservative Wirkung erzielen. Auch Roland Barthes (1994: 49f.) und Julia Kristeva (1969) haben gezeigt, dass Parodie genutzt werden kann, um den common sense durch ein Verspotten von Neuerungen und ein „Reinigen“ des Sprechens und Zeigens zu verteidigen[7]. Diese „konservative“ (Dentith 2000: 26f.; vgl. Schober 2009: 110) Funktion von Ironie wird in der Moderne und Postmoderne meist weniger ausgeprägt wahrgenommen, da die Tradition, mit der sie verknüpft wird, in diesen historischen Zeitabschnitten gegenüber jener, in der die subversive Wirkung von Ironie betont und manchmal zu einem Konzept erklärt wird, in der Hintergrund getreten ist. Die politische Richtung, in die ein ironisch-parodistischer Eingriff ausschlägt, kann demnach nicht vorab als entschieden angenommen werden, sondern wird immer von der je konkreten, historischen Situation des Darbietens und Wahrnehmens bestimmt sein.
Wie bereits dargelegt zeigt sich eine solche Zwiespältigkeit auch an den Arbeiten von Nilbar Güreș. Denn einerseits schließen diese an Diskurse an, im Zuge derer Frauen öffentlich ermutigt werden, sich unter Berufung auf Gesundheit, die Nation oder Spiritualität körperlich zu ertüchtigen – was in den Kunstwerken jedoch ironisiert und damit thematisiert wird. Andererseits ergeben sich auch Korrespondenzen zu verspottenden Darstellungen sport-treibender „Tanten“ auf sozialen Medien. Darüber hinaus machen die Fotografien und vor allem die Zeichnungen durch die spielerische Vielfalt an Objekten und Gesten, die auf ungewöhnliche Weise kombiniert und deren Bedeutungen wiederholt ironisch abgelenkt und dabei erotisiert werden, ein tabuisiertes Begehren zwischen Frauen visuell präsent und verwirren herkömmliche Trennungen zwischen Frauen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung.
Ironie ist also – und dies ist eines ihrer zentralen Merkmale – ein kontingentes Ereignis. Das bedeutet, dass Künstlerinnen und Künstler Ironie zwar anpeilen, jedoch in keiner Weise festlegen können, welche Rezeptionsleistungen ihr Werk in Gang setzt. Dieses Verständnis von Ironie geht auf Friedrich Schlegel (1967: 173; Schober 2009: 113) zurück, für den Ironie eine stets existente Möglichkeit der literarischen Rede darstellt. Er sieht in ihr ein Potential, das stets vorhanden ist und von keinem System kontrolliert werden kann[8]. Indem Schlegel auf diese Weise an der „Permanenz“ der Möglichkeit von Ironie festhält, macht er sie zum Paradefall für eine immer mögliche, augenblickshafte Unterbrechung und Ablenkung des Verstehens im Allgemeinen und hält ihre beweglichen, überraschenden Züge offen.
Im 20. Jahrhundert knüpfte insbesondere Paul de Man (1996) an dieses Verständnis von Ironie als unkontrollierbare Unterbrechung an. Dies steht in Gegensatz zu einer Vielzahl von literarischen, künstlerischen und kulturtheoretischen Positionen, die vor allem seit den 1980er-Jahren erstarkt sind (Schober 2009: 195f.) und die der Ironie in vielerlei Hinsicht die Spitze abbrachen, indem sie diese zu einem Konzept erklärten – womit diese ihre Beweglichkeit und Zweischneidigkeit verlor und immer schon auf der „richtigen“ Seite dessen, was die Kunstschaffenden oder Aktivistinnen und Aktivisten intendierten, festgezurrt wurde.
Auch Nilbar Güreș Einsatz der Ironie ist von einem Willen zur Gesellschaftskritik gleitet[9]. Ihre künstlerischen Arbeiten sind jedoch von einem beständigen in Fluss gehaltenen Verunsichern von Bedeutung charakterisiert. Denn diese sind so angelegt, dass die im Wahrnehmen entstehenden Figurationen sich wechselseitig wiederholt ironisch ablenken, wodurch sie sich entziehen und neuen kontingent sich einstellenden Bezügen Platz machen. Angesichts dieser Werke sind wir im Publikum auf uns selbst als zentrale Instanz der Interpretation zurückgeworfen, wobei wir unter anderem auf die komplexen eigenen Verstrickungen in eine von Prozeduren des Sports geborgte wetteifernde Selbstgestaltung hingeführt werden sowie auf die fetischartige Bedeutsamkeit, die Praktiken gruppenspezifischen Lebensstils und der Selbstmodellierung heute generell zukommt. Dabei ist es in erster Linie der Körper, der gegenwartsbasiert und an eine leiblich-praktische Zeitlichkeit gebunden, in den individuellen oder kollektiven Performances wie in den Zeichnungen als Medium der Differenzierung innerhalb einer von Trennung und Polarisierung gekennzeichneten Öffentlichkeit aufgerufen wird. Ins Absurde und Groteske gewandt fungiert er als Mittel der Bezugnahme und der Abgrenzung. Zugleich bringen die von Güreș geschaffenen Bilder besonders eindrücklich die sexuelle, erotische und burleske Dimension von Interaktion, die gängiger Weise hinter den Codes von Anstand und Schicklichkeit verborgen ist, in Anschlag. Güreș wendet sich mit ihrer Kunst gegen bestimmte Erscheinungen der Gegenwart und versucht, diese über Ironie und Parodie zu unterminieren bzw. unter Kontrolle zu bringen. Zugleich ermöglichen ihre Arbeiten Akte der Anschlusskommunikation, die in verschiedene Richtungen ausschlagen können. Sie übernehmen dabei immer wieder vor allem eine Rolle: eine Welt zu provozieren, „die sehr egoistisch geworden ist“ (Güres 2020).
6. Fazit
Was kann abschließend in Bezug auf visuell dargebotene Ironie von diesen künstlerischen Arbeiten abgeleitet werden? Künstlerische Performances, Fotoarbeiten, Installationen oder Zeichnungen wie jene von Nilbar Güreș sind „Darbietungen“ (Seel 2003: 258), die Formen und Konfigurationen einsetzen, die auf zeitgenössische Erscheinungen in Bereichen des Sports und der Politik verweisen. Indem sie unter anderem mit Ähnlichkeit und Korrespondenzen operieren, können sie Evidenz hervorrufen, aber auch Sinnzusammenhänge und Bezüge verunsichern und verwirren und so ein „Geschehen der Präsentation“ (Seel 2003: 271) vor Augen führen. Hier kommt die Ironie ins Spiel: Denn ein solches Verunsichern und Verwirren geschieht zum Beispiel, indem ein ironisches Oszillieren zwischen mehreren Bedeutungen erzeugt wird – wofür, wie bereits erwähnt, nicht allein Ähnlichkeit und Korrespondenzen, sondern auch Wiederholung, Mimikry, ästhetische Entsprechungen oder Korrelation, Übertreibungen und Nicht-Kohärenz verantwortlich sind.
Ob die Ironie eines Kunstwerks wahrgenommen wird, ist kontingent und hängt von den Kontexten, der Situation sowie den Gemeinschaften ab, denen die Betrachter und Betrachterinnen zugehörig sind. Ironie ist demnach nie ein fixer, universell zugänglicher Bestandteil von Kunstwerken, sondern entsteht, wenn sie sich denn einstellt, auf relationale Art und Weise.
Parodie und Ironie rufen Figurationen und Formen in Erinnerung, um sie zu disfigurieren und etwas anderes greifbar zu machen bzw. um das Zeigbare und Sagbare innerhalb eines Milieus zu überwachen und zu kontrollieren (Schober 2009: 316). Die Richtung, die eine Rezeption annimmt, kann dabei von keiner der dabei beteiligten Instanzen im Vorhinein festgelegt werden. Vorherrschend bleibt letztlich oft das Wahrnehmen einer Fülle von Details, die sich für die Betrachterin oder den Betrachter manchmal zu plakativ und deutlich erkennbaren Figurationen fügen, manchmal aber nicht einfach zu entwirren ist – oft nur durch längeres Sich-Auseinandersetzen mit einem Werk.
Ironie wird häufig mit einer Intention der Kritik, des Aufzeigens und des Lenkens des Blicks des Publikums eingesetzt. Diese Intention kann dasjenige, das ein Werk in Gang setzt, jedoch nicht kontrollieren. Diese ästhetische Taktik erzielt auf kontingente Weise je eine differenzierende und oft auch polarisierende Wirkung. Der Einsatz des menschlichen Körpers begünstigt eine auf ein Antwortgeschehen ausgerichtete Ansprache des Publikums. Ironie bedeutet dann aber auch: körperliche Einbeziehung, körperlichen Ausschluss bzw. ein Oszillieren dazwischen.
Literatur
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Güres Nilbar: BALANCE BOARD, GIRL’S PARALLEL BAR and POMMEL HORSE (Performance in der Militärakademie in Istanbul) aus der Serie Unknown Sports. Public Space, 2009, © Nilbar Güreș, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Abb. 2: Güres Nilbar: Red Thread aus der Serie Unknown Sports. Public Space, 2009, © Nilbar Güreș, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Abb.3: Güres Nilbar: Headstanding Totem, 2014, © Nilbar Güreș, Dank an die Galerie Martin Janda in Wien.
Über die Autorin
Anna Schober is Professor of Visual Culture at Klagenfurt University. She previously worked at the Justus Liebig University Giessen, the University of Vienna, the TU Vienna and the University of Verona. She gained her habilitation at Vienna
University and was a fellow at various academic institutions, for instance the International Research Centre for Cultural Studies/Vienna; the Centre for Theoretical Studies in the Humanities and Social Sciences, University of Essex, or the Jan Van Eyck Academy (Maastricht). Her research focuses on political iconology, the public life of image, the history and aesthetics of avantgarde and cinema movements, images as mediators of difference and visual media as agents of popularisation and populism. Her publications include: Ironie, Montage, Verfremdung (Wilhelm Fink 2009); The Cinema Makers (Intellect Books 2013); Popularisation and Populism in the Visual Arts (Routledge 2019).
Fussnoten
1 In einem Interview mit der Autorin, geführt am 14.02.2020 in Wien (im Folgenden zitiert als: GÜREs, 2020).
2 Als ein Beispiel kann hier die Theorie von Alltagspraktiken der Konsumenten und Konsumentinnen genannt werden, die MICHEL DE CERTEAU (1988) entwickelt hat.
3 In dieser Hinsicht ähneln ihre Arbeiten jenen des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica (SCHOBER 2004), der ebenfalls davon ausging, dass Performen nicht mit einem Prä-formieren einhergehen soll, sondern von gleichzeitigen prozesshaften Handlungen gekennzeichnet sein soll.
4 Das Herstellen eines Kunstwerks kann unter Bezug auf JEAN-LUC NANCY (1997: 17) insgesamt als ein Anpeilen und Kalkulieren eines prinzipiell nicht-kalkulierbaren Sinns verstanden werden.
5 Ein Beispiel für eine verspottende Darstellung (veröffentlicht: 10.10.2013) von sport-treibenden Frauen in einem Park in Istanbul finden sich hier: https://sporcusuleguner.blogspot.com/2013/10/teyze-80-yl-once-cimnastikci-miydin.html?view=snapshot (letzter Zugriff: 10.04.2023).
6 https://www.middleeastmonitor.com/20190402-the-life-and-work-of-palestinian-islamo-pop-artist-laila-shawa/ (letzter Zugriff: 4.04.2023).
7 Siehe BARTHES 1994: insbes. 49f.; KRISTEVA 1969.
8 Wie er in den Athenäums-Fragmenten darlegt, ist es für SCHLEGEL (1967: 173) überhaupt „gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“
9 Dies legt die Künstlerin in einem Telefongespräch (11.04.2023) mit der Autorin dar.
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Citation
Anna Schober: Visuelle Ironie und Kontingenz:. Aneignungen von Praktiken des (politisierten) Sports im künstlerischen Werk von Nilbar Güreş. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 41, 8. Jg., (1)2025, S. 25-47
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2025-16544
First published online
April/2025