Von Zhuofei Wang und Christiane Wagner
Kontingenz ist ein ambivalentes Konzept: Sie verweist auf Möglichkeiten jenseits des Determinierten, auf ein offenes Feld, in dem Bilder nicht nur reproduzieren, sondern auch neue visuelle Wirklichkeiten erschaffen. Sie ist ein Prinzip, das sich in der Kunst, den Medien und der Politik unterschiedlich manifestiert – von der Dada-Montage über surrealistische Automatismen bis hin zu algorithmischen Bildprozessen der Gegenwart. IMAGE 41 widmet sich dem Thema Kontingenz in globalen Bildpraktiken und untersucht, wie das Unvorhersehbare, das Zufällige und das nicht vollständig Berechenbare die Produktion, Wahrnehmung und Bedeutung von Bildern prägen. Sie zielt darauf ab, zu beleuchten, wie Künstler*innen und Theoretiker*innen mit Kontingenz arbeiten, sie reflektieren und herausfordern. Die sechs ausgewählten Beiträge beleuchten, wie das Unvorhersehbare, das Zufällige und das Kontextuelle die ästhetische und politische Dimension von Bildern formen. Die visuelle Kultur ist in ständiger Bewegung, geformt durch technologische Innovationen, soziale Transformationen und politische Dynamiken.
Zeitgenössische Medienbilder, die zu einem großen Teil auf den Prinzipien digitaler Technologie basieren, beeinflussen nicht nur nahezu jeden Aspekt unserer Alltagserfahrung, sondern transformieren und rekonfigurieren im Rahmen einer ästhetischen Politisierung auch kollektive und individuelle moralische und ästhetische Werte mit ihren ideologischen Kräften. Vor dem Hintergrund globaler medialer Einflüsse bietet Christiane Wagners Beitrag “Kontingenz des Medienbildes und Politisierung der Ästhetik” einen fundierten Einblick in das komplexe Zusammenspiel von Medienbildern, ästhetischer Politisierung und gesellschaftlichen Werten. Ihre Analyse der Kontingenz von Medienbildern ist besonders in einer Zeit relevant, in der digitale Technologien die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zunehmend verschwimmen lassen. Im Zentrum steht die Reflexion über die Symbolik hinter der Darstellung und Reproduktion von Medienbildern (insbesondere politisch instrumentalisierter Bilder) und deren Diskrepanz zum Anspruch authentischer Wirklichkeit. Indem sie die ästhetische und politische Dimension von Medienbildern in den Kontext gesellschaftlicher Wertvorstellungen stellt, analysiert Wagner den Beitrag der Kontingenz von Medienbildern, die zwischen Imagination und Fantasie, Wahrheit und Lüge oszillieren, zur Erfüllung der Erwartungen an demokratische Ideale.
Der Beitrag „Visuelle Ironie und Kontingenz: Aneignungen von Praktiken des (politisierten) Sports im künstlerischen Werk von Nilbar Güreș“ von Anna Schober analysiert die Charakteristika der künstlerischen Arbeiten der in der Türkei und in Österreich tätigen bildenden Künstlerin Nilbar Güreș und verbindet diese Untersuchung mit grundsätzlichen Fragen zur Verwendung und Interpretation von Ironie und Parodie. Darüber hinaus reflektiert die Autorin Themenkomplexe, die den weiblichen Körper betreffen, insbesondere im Kontext von Alltagsaktivitäten und sportlicher Betätigung. Im Zuge dieser Analyse wird die Einbettung kontingenter situativer Ereignisse näher beleuchtet, wobei sowohl die beteiligten Akteur*innen als auch die Betrachter*innen in den Blick genommen werden.
Als eine Art rebellische Ideologie, deren Ursprünge im Dadaismus verankert sind, hat die surrealistische Bewegung ein breites Spektrum künstlerischer Bereiche beeinflusst, darunter Malerei, Literatur, Musik und Theater. Der Beitrag „From Automatism to Bricolage: Exploring Contingency in Surrealist Painting“ von Haiyu Yuan konzentriert sich auf den surrealistischen Ansatz in der Malerei anhand einer Reihe von künstlerischen Fallstudien. Entlang der Zeitachse der surrealistischen Entwicklung untersucht er die auf Kontingenz basierenden Methoden der Bildorganisation und -aneignung in der surrealistischen Malereipraxis seit dem frühen 20. Jahrhundert und analysiert die Interaktion dieser Methoden mit einer Vielzahl von technologischen Medien, Materialien und Räumen sowie deren Auswirkungen auf die Transformation zeitgenössischer visueller Kunstformen, insbesondere der figurativen Malerei.
In „Dada-Montage: kontingent und komplex unter dem Einfluss Nietzsches“ beschreibt Hanne Bergius, wie die Dadaist*innen in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche mit radikaler Skepsis auf die Welt reagierten. Ihre Collagen und Montagen waren nicht nur ästhetische Experimente, sondern auch Ausdruck eines tiefgehenden Misstrauens gegenüber etablierten Strukturen. Durch den Einfluss Nietzsches entwickelte Dada eine Philosophie der „polar ambivalenten“ Widersprüchlichkeit, die sich in der Kunst als Widerstand gegen jede Form dogmatischer Wahrheiten manifestierte. Die dadaistische Ästhetik der Fragmentierung und des Zufalls wurde so zu einer Strategie, um die „brutale Realität“ der Moderne zu reflektieren und gleichzeitig neue kreative Freiräume zu eröffnen.
Yu Shang führt mit „Das unvorhersehbare Selbst: Algorithmische Kontingenz in der digitalen Porträtmalerei“ die Diskussion über Kontingenz in der digitalen Ära und analysiert die Rolle algorithmischer Prozesse in der zeitgenössischen Porträtmalerei. Die Untersuchung zeigt, dass Algorithmen keine rein neutralen Werkzeuge sind, sondern durch inhärente Unvorhersehbarkeit neue ästhetische Möglichkeiten eröffnen. Digitale Selbstbilder, die durch KI generiert werden, unterliegen zufälligen Fehlern, die jedoch nicht als Defekte, sondern als kreative Elemente verstanden werden können. Diese neue Art der Kontingenz stellt die traditionelle Vorstellung von künstlerischer Kontrolle infrage und führt zu einer hybriden Form visueller Ausdrucksweise, in der Mensch und Maschine in einem unvorhersehbaren kreativen Prozess verschmelzen.
Vanessa Seves Deister de Sousa beschließt die Ausgabe mit ihrem Beitrag „Zähne, Seife und Kristalle: Überlegungen zur Kontingenz in der Poesie des brasilianischen Künstlers Tunga“, in dem sie die poetische Materialität in den Werken des brasilianischen Künstlers Tunga untersucht. In seinen Skulpturen, Installationen und Performances spielt Tunga mit der Zeitlichkeit und Körperlichkeit der Materialien. Die Untersuchung der Materialität als kontingenter Prozess zeigt, wie Kunst nicht nur durch Konzepte, sondern auch durch die Eigenlogik des Materials bestimmt wird. In Tungas Werk wird die ästhetische Kontingenz zum Ausdruck einer poetischen Suche nach Formen und Bedeutungen, die sich durch ihr eigenes Werden definieren.
Die in dieser Ausgabe versammelten Diskussionen zeigen, dass Kontingenz weit mehr ist als ein zufälliges Element der Bildproduktion. Sie ist ein fundamentales Prinzip, das sich durch Kunstgeschichte, Medientheorie und zeitgenössische Bildpraktiken zieht. Die Fragen, die sich daraus ergeben, sind zentral für die aktuelle Bildwissenschaft: Wie beeinflusst Kontingenz die Art und Weise, wie wir Bilder wahrnehmen, analysieren und interpretieren? Inwiefern kann das Unvorhersehbare eine Strategie sein, um künstlerische Freiheit und gesellschaftliche Reflexion zu ermöglichen? Welche Rolle spielt Kontingenz in der Auseinandersetzung mit globaler Bildhegemonie und kulturellen Transformationen?
IMAGE 41 lädt dazu ein, sich diesen Fragen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Die Beiträge dieser Ausgabe zeigen, dass Kontingenz nicht nur eine theoretische Herausforderung ist, sondern auch ein kreatives Potenzial birgt – ein Widerstand gegen starre Bedeutungen, eine Einladung zum offenen Dialog und eine Chance, neue visuelle Wirklichkeiten zu schaffen.
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Citation
Zhuofei Wang; Christiane Wagner: Einleitung. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 41, 8. Jg., (1)2025, S. 2-4
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2025-16540
First published online
April/2025