Von Katrin Brümmer
Abstrakt
Der vorliegende Beitrag widmet sich der kartografischen Darstellung von Räumen als Instrument sozialer Konstruktion und Macht. Er hinterfragt, ob Karten lediglich neutrale Abbildungen geographischer Realitäten sind, oder aktiv menschliche Intentionen und soziale Dynamiken beeinflussen. Basierend auf der kritischen Kartografie beleuchtet der Beitrag die enge Verflechtung von Macht und Wissen in kartografischen Diskursen. Dabei liegt der Fokus auf der Nutzung von Karten als Mittel zur Kontrolle und Reproduktion sozialer Hierarchien. Besonders im globalen Kontext erscheint diese Verbindung relevant, da Karten nicht nur Informationen vermitteln, sondern auch aktiv Einfluss auf Wahrnehmungen nehmen können. Die Auswirkungen der digitalen Technologie auf die Kartenerstellung und die Fülle an verfügbaren Geodaten werden dabei besonders berücksichtigt. Können Karten tatsächlich als bloße Orientierungshilfen betrachtet werden, oder spielen sie eine tiefgreifendere Rolle bei der Lenkung von Meinungen und Macht in der Gesellschaft?
This paper focuses on the cartographic representation of spaces as instruments of social construction and power. It questions whether maps are merely neutral depictions of geographical realities or actively influence human intentions and social dynamics. Based on critical cartography, the article highlights the close interplay of power and knowledge within cartographic discourses. The emphasis is on the use of maps as means of controlling and reproducing social hierarchies. Particularly in the global context, this connection seems relevant as maps not only convey information but also actively shape perceptions. The impact of digital technology on map creation and the abundance of available geodata are given special consideration. Can maps truly be seen as mere tools for orientation, or do they play a more profound role in shaping opinions and power dynamics in society?
Einleitung
Abbildung 1: Die Mercator-Projektion stammt aus dem Jahr 1569, Pbardocz, Dreamstime.com, https://de.dreamstime.com/bunte-weltpolitische-karte-mit-der-kennzeichnung-den-offenbar-beschrifteten-getrennten-schichten-auch-im-corel-abgehobenen-betrag-image141298159
Karten sind mehr als nur nützliche Werkzeuge zur Orientierung in der geografischen Welt. Karten bilden die Grundlage jedes Abenteuers. Sie repräsentieren vielfältige Möglichkeiten und motivieren uns, unsere Routen zu planen. Nahezu jedes Abenteuer stützt sich auf eine Art von Karte, sei es ein inspirierender Atlas, der uns mit neuen Ideen versorgt, ein detailliertes Raster, das das Terrain abbildet, oder eine Skizze, die uns den Weg zum Schatz zeigt. Karten dienen als wertvolle Informationsquelle, auf die wir uns verlassen und denen wir vertrauen.
Es besteht die Versuchung, Karten – möglicherweise mit Ausnahme von Schatzkarten – als objektive und exakte Darstellungen der tatsächlichen Gegebenheiten unserer Welt zu betrachten. Jedoch ist dies eine trügerische Vorstellung. Obwohl Karten bestimmte Fakten und Informationen enthalten mögen, sind sie auch immer soziale Konstrukte des Raums: Das Ergebnis von bewussten Entscheidungen, selektiven Auslassungen und etablierten Konventionen, die maßgeblich darauf Einfluss nehmen, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und interpretieren. Somit sind Karten weit entfernt von neutralen und objektiven Darstellungen und sollten als Produkte menschlicher Gestaltung und subjektiver Interpretation betrachtet werden.
Der folgende Beitrag soll zum einen die Darstellung von Karten als Machtinstrumente und zum anderen das Erstellen von Karten als eine kritische Form der Darstellung betrachten und konzentriert sich hierbei auf die Strategien der Gegenkartierung, des sogenannten Counter-Mappings, die die traditionellen räumlichen und zeitlichen Grenzen von Macht und Kontrolle in Frage stellen. Darüber hinaus soll gezeigt werden, wie die Praxis des Mappings, als kulturelle Produktion auch als eine Praxis der Raumproduktion verstanden werden kann.
Kritische Kartografie
Der Begriff der kritischen Kartographie beschreibt die Untersuchung der sozialen und politischen Aspekte von Karten, Kartierung und Kartografie. Es handelt sich dabei um eine dualistische Herangehensweise, die sowohl theoretische Kritik als auch kritische Praxis einschließt. (vgl. Glasze 2009: 181).
Die politische Dimension der Kartografie:
Wie Karten soziale Machtverhältnisse abbilden
In den 1960er-Jahren entwickelte sich in der Kartographie eine neue Strömung, die das etablierte, rein rationale und aufgeklärte Verständnis von Gesellschaft kritisch betrachtete. Die bisherige Annahme, dass Karten ausschließlich objektive Darstellungen der Realität lieferten, wurde zunehmend infrage gestellt. (vgl. Wood, 1992; Harley, 1998).
In diesem Kontext war der Künstler und Kartograf Denis Wood maßgeblich von den Ideen des Philosophen Roland Barthes beeinflusst. Wood erkannte, dass es bei der Erstellung einer neuen Karte äußerst schwierig sei, sämtliche Merkmale eines zu kartierenden Gebiets in ihrer vollen Komplexität darzustellen (vgl. Wood 1992: 76). Die Notwendigkeit, den Maßstab anzupassen und die Übersichtlichkeit zu wahren, führt zwangsläufig zu einer Generalisierung und Vereinfachung der Informationen. Dabei bleibt nicht nur die soziale Prägung des kartierenden Individuums nicht unberücksichtigt, sondern es werden auch unbewusst gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen in den Kartographierungsprozess eingebracht, was zur Beeinflussung der vermeintlichen Neutralität der Kartenproduktion führen kann sowie zur Reproduktion bestehender Normensysteme (vgl. Glasze 2009: 184ff.).
Die fertige Karte selbst gibt keinerlei Aufschluss über den Entstehungsprozess, der zu ihrer Gestaltung geführt hat. Stattdessen steht die betrachtende Person vor einer komplexen Verknüpfung von Text und Bildern, bei der zahlreiche, heterogene Elemente gleichzeitig und räumlich miteinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. Glasze 2009: 184).
In Anlehnung an Roland Barthes’ Konzept des Mythos als sekundäres semiologisches System können Karten nach Wood ebenso als Mythen betrachtet werden, da sie eine vermeintlich natürliche Ordnung vortäuschen und gleichzeitig eine Konstruktion sind, die bestimmte soziale und politische Zwecke erfüllt. Die Elemente auf einer Karte mögen zwar in Bezug auf die Realität stimmig sein, aber die Auswahl und Darstellung dieser Elemente erfolgt aufgrund bestimmter Entscheidungen und Interessen (vgl. Wood 1992: 104ff.).
Karten sind daher mehr als bloße sachliche Repräsentationen von Fakten. Vielmehr fungieren sie als kulturelle und soziale Darstellungen des Raumes, geprägt von menschlichen Entscheidungen, Auslassungen und Konventionen, die einen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie die Welt wahrgenommen und interpretiert wird. Infolgedessen wird das klassische Paradigma der objektiven Kartographie infrage gestellt und die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Kontext von Karten deutlich.
Brian Harley’s Auseinandersetzung mit den Ideen von Michel Foucault und Jacques Derrida führt zu einem tieferen Verständnis der sozialen Dimension von Karten. Er erkannte, dass Karten nicht nur die räumliche Realität abbilden, sondern auch implizite Regeln sozialer Ordnung transportieren, die zu dem Zeitpunkt und am Ort ihrer Entstehung existieren. Diese externe Macht hinter den Karten zeigt, dass sie nicht nur einfache Werkzeuge der Orientierung und Information sind, sondern auch Instrumente der Macht und Kontrolle. Hinter den meisten Karten stehen mächtige Auftraggeber*innen, die spezifische Interessen verfolgen und ihre Vorstellungen von Raum und Territorium durch die Kartografie verfestigen (vgl. Glasze 2009: 186ff.).
Karten sind daher nicht nur Abbilder sozialer Strukturen, sondern auch aktive Produzenten sozialer Machtverhältnisse. Sie formen das Verständnis und die Wahrnehmung von Räumen und Territorien und beeinflussen so die Art und Weise, wie Menschen den Raum organisieren und interpretieren. Karten sind somit nicht nur neutrale Werkzeuge der Darstellung, sondern auch Mittel der ideologischen Formung und politischen Kontrolle. Ihr Einfluss reicht weit über die reine Visualisierung von Informationen hinaus und prägt maßgeblich die soziale und kulturelle Wahrnehmung von Raum und Territorium.
Macht und Kartografie: Wie Karten soziale Verhältnisse produzieren
Die Erkenntnisse von Wood und Harley verdeutlichen die komplexe Natur von Karten als visuelle Repräsentationen von Raum. Karten werden nicht nur als statische Abbilder betrachtet, sondern als dynamische Konstruktionen, die soziale und politische Machtverhältnisse widerspiegeln und gleichzeitig aktiv an ihrer Gestaltung und Definition mitwirken.
Die Idee, dass Karten als Mythos interpretiert werden können, lenkt die Aufmerksamkeit auf die verborgenen Ideologien und die Machtstrukturen, die in ihnen eingebettet sind.
Die Konstruktion einer Karte erfordert eine Auswahl von Informationen und Symbolen, die in bestimmten Kontexten ihre Bedeutung und Relevanz haben. Denis Wood verdeutlicht dies anhand der Legende einer Straßenkarte von North Carolina (Edition 1978-1979).
Abbildung 2: North Carolina Straßenkarte von 1978, Nachweis durch: J.D. Lewis, 2019 , Link: https://www.carolana.com/NC/Transportation/roads/nc_road_map_1978.html
Die Auswahl der Symbole und Informationen in der Legende ist keineswegs neutral, sondern wird von den Interessen und Absichten der Kartografen und Auftraggeber geprägt. So wird eine vermeintlich objektive Darstellung der Realität zu einem Instrument der Betonung und Hervorhebung bestimmter Aspekte, sei es aus politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Gründen (vgl. Wood 1992: 2).
Darüber hinaus betonen Wood und Harley, dass Karten nicht nur Repräsentationen der Welt sind, sondern aktiv an der Schaffung neuer Realitäten beteiligt sind. Durch ihre Fähigkeit, Informationen zu selektieren, zu betonen oder auszulassen, können Karten ein bestimmtes Bild der Welt prägen und soziale Ordnungen und Machtverhältnisse unterstützen oder herausfordern (vgl. Wood 1992; vgl. Harley 1989). Die Karte wird somit zu einem Werkzeug der sozialen Konstruktion, die subjektive Wahrnehmungen beeinflusst und neue soziale Realitäten schafft.
Die Betrachtung von Karten als Produzenten sozialer Machtverhältnisse eröffnet einen neuen Blick auf ihre Rolle in der Gesellschaft. Sie sind nicht nur passive Darstellungen der Realität, sondern aktive Akteure, die soziale Normen und Hierarchien mitgestalten. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung für die kritische Kartographie und die reflexive Auseinandersetzung mit Karten als Mittel der sozialen Kontrolle und Macht (vgl. Wood, 1992: 23). Es ermutigt dazu, Karten nicht einfach als gegebene Tatsachen hinzunehmen, sondern ihre Entstehungskontexte, Ideologien und Auswirkungen kritisch zu hinterfragen.
Kritisches Kartieren
Die kritische Kartographie stellt die traditionelle Auffassung von Karten als objektive und neutrale Darstellungen der Realität in Frage. Stattdessen betont sie, dass Karten immer von menschlichen Entscheidungen, Interessen und Machtstrukturen geprägt sind. Dabei geht es nicht nur um die bewusste Einbindung politischer Ideologien in die Kartenerstellung, sondern auch um subtile Einflüsse, die sich in den Auswahlkriterien, Darstellungsmethoden und symbolischen Entscheidungen manifestieren (vgl. Glasze 2009: 182).
Ein zentrales Anliegen der kritischen Kartographie besteht darin, hegemoniale Narrative und Machtverhältnisse zu entlarven, die in konventionellen Karten oft unreflektiert reproduziert werden. Sie hinterfragt, wer die Autorität hat, Karten zu erstellen, welche Interessen und Perspektiven priorisiert werden und welche Stimmen und Realitäten ausgeblendet werden. Damit zielt die kritische Kartographie darauf ab, alternative, inklusive und gerechtere Darstellungen von Raum und Gesellschaft zu schaffen (vgl. Wood 1992: 25).
Eine der Herausforderungen für das kritische Kartieren besteht darin, die verborgenen ideologischen und kulturellen Voreingenommenheiten in den kartographischen Praktiken zu erkennen und zu dekonstruieren. Dazu bedienen sich kritische Kartograf*innen einer Vielzahl von Methoden, die von sozialwissenschaftlichen Analysen bis hin zu künstlerischen und partizipativen Ansätzen reichen.
Harley schlägt in seinem Aufsatz Deconstructing the Map vor, Karten als Diskurse zu betrachten und den Fokus auf die konstituierenden Effekte des Kartierens selbst zu legen (Glaze 2009: 184). Dies hat zu einem Blickpunktwechsel in der kritischen Kartographie geführt. Harleys Erkenntnisse eröffnen neue Möglichkeiten, die Machtverhältnisse und Ideologien zu untersuchen, die in Karten eingebettet sind und die Konstruktion von Raum und Territorien beeinflussen.
Indem Karten als sprachliche Ausdrucksformen betrachtet werden, wird ihre vermeintliche Neutralität und Objektivität in Frage gestellt. Sie werden zu Instrumenten, die bestimmte Narrative und Weltanschauungen vermitteln und somit einen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Gesellschaften und Kulturen die Welt wahrnehmen und interpretieren. Die diskurstheoretische Analyse ermöglicht es, die verborgenen Strukturen und Mechanismen der Macht zu erkennen, die in den scheinbar harmlosen Kartendarstellungen wirken (vgl. Glaze 2009: 182).
Harley’s Betonung der Hierarchien in der Darstellung von Karten weist auf die selektive Natur der Kartographie hin. Das, was auf der Karte dargestellt wird, wird durch bewusste Entscheidungen der Kartograph*innen ausgewählt, während andere Aspekte absichtlich ausgelassen werden. Dies führt zu einer Verzerrung der Realität und zur Betonung bestimmter Elemente, die oft von den Interessen und Zielen der Auftraggeber*innen geprägt sind.
Die von Harley beschriebene interne Macht der Karten zeigt, dass sie nicht nur Abbilder einer vorgegebenen Realität sind, sondern aktiv an der Konstruktion neuer Realitäten beteiligt sind. Karten sind nicht nur passive Repräsentationen, sondern aktive Akteure in sozialen und politischen Prozessen, die die Realität mitgestalten und beeinflussen (Harley 1989: 68).
Kartographie und Kartieren kann in diesem Sinne also als Praxis verstanden werden. Die Einbeziehung der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour kann das Verständnis der kritischen Kartographie erweitern. Die Betrachtung von Karten als Teil eines Netzwerks von Akteuren ermöglicht es, die Wechselwirkungen und Verbindungen zwischen Karten, Kartograph*innen, Auftraggeber*innen und anderen Akteuren zu untersuchen. Dadurch wird deutlich, dass Karten nicht isoliert existieren, sondern in komplexe soziale und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind (vgl. Latour 2007: 253).
Dabei steht nicht so sehr im Vordergrund, wie genau das Kartographieren technisch funktioniert und welche Karte dabei entsteht. Vielmehr geht es um das Kartieren als menschliche Handlung, die Orientierung in der geografischen Realität geben soll.
Counter Mapping
Counter Mapping ist ein Ansatz in der Kartographie, bei dem Karten als Mittel des Widerstands gegen hegemoniale Machtstrukturen und dominante Darstellungen von Raum und Territorium eingesetzt werden. Statt lediglich Informationen zu repräsentieren, zielt das Counter Mapping darauf ab, alternative Perspektiven, unterrepräsentierte Stimmen und kritische Analysen zu fördern (vgl. Wood 1992).
Ein Beispiel für die vielfältige Anwendung von Counter-Mappings ist die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen und postkolonialen Kartierungspraktiken. In vielen Fällen dienten koloniale Karten als Instrumente der Macht und Kontrolle, um Territorien zu erfassen und zu beherrschen. Durch die Produktion von Gegenkarten und alternativen Repräsentationen versuchen postkoloniale Gemeinschaften, ihre eigene Geschichte, Kultur und Beziehung zum Land wiederherzustellen und zu betonen. Ein Beispiel ist der Maya-Atlas, der in Nicaragua und Belize von indigenen Bevölkerungsgruppen erstellt wurde, um ihre Landrechte geltend zu machen. Das Cover selbst stellte eine Karte da – die Taschen repräsentieren den südlichen Teil von Belize und der darunter liegende Stein die Karibik.
Die Karte rückt die Perspektive und die Bedürfnisse der Maya-Gemeinschaften in den Mittelpunkt und stellt somit die hegemoniale Kartenrepräsentation in Frage.
Abbildung 3: Maya Atlas, 1997, https://nawimaps.com/maps/maya-atlas/
Im Bereich der urbanen Planung und Stadtentwicklung werden Counter-Mappings häufig als Mittel eingesetzt, um soziale Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungen in städtischen Räumen aufzudecken. Durch partizipative Kartierungsprojekte werden oft marginalisierte Gemeinschaften befähigt, ihre eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse zu dokumentieren und sichtbar zu machen. Ein Beispiel zeigt die Gruppe Surveillance Camera Players.
Die Aktivist*innen erstellen Karten mit den Standorten öffentlicher Überwachungskameras in New York City und deckten dadurch die zunehmende Überwachung im städtischen Raum auf. Diese Form des Counter-Mappings zielt darauf ab, das Bewusstsein für die wachsende Überwachung in der Stadt zu schärfen und zur Debatte über Privatsphäre und Sicherheit beizutragen.
Abbildung 4: Karte von öffentlich installierten Überwachungskameras in New York City, 2002, Surveillance Camera Players, https://www.notbored.org/timessquare-map.jpg
Diese Beispiele verdeutlichen, wie Counter-Mapping als Werkzeug eingesetzt wird, um bestehende Machtstrukturen in Bezug auf Raum, Überwachung und Landrechte zu hinterfragen und zu widerlegen. Die bewusste Kartierung von alternativen Informationen ermöglicht es, die hegemonialen Narrative zu durchbrechen und neue Perspektiven einzunehmen. Durch diese aktivistischen Kartierungspraktiken können Gemeinschaften und Individuen ihre Rechte stärken und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen. Counter-Mapping wird somit zu einer kraftvollen Form des Widerstands und der Ermächtigung gegenüber der dominierenden Kartographie und den damit verbundenen Machtstrukturen.
Der Begriff Counter-Mapping wurde erstmals geprägt, um die Idee der Rückeroberung von Territorien zu beschreiben (Dammann/Michel 2022: 10ff.). Im Laufe der Zeit hat dieser Begriff verschiedene Bedeutungen angenommen und wird in unterschiedlichen kulturellen, geografischen und medialen Kontexten angewendet. Er bezieht sich auf die Produktion von Karten durch Gemeinschaften, die versuchen, die von staatlichen Institutionen, Verwaltungsbehörden oder kommerziellen Unternehmen produzierten und verwendeten Karten in Frage zu stellen. Dabei verfolgt Counter-Mapping teilweise den Anspruch, durch Irritation das Bewusstsein von der Welt und deren Darstellung zu verändern (Dammann/Michel 2022: 12).
Die historische Entwicklung von politischen Praktiken wie Counter-Mapping kann auch im Zusammenhang mit der Situationistischen Internationale betrachtet werden (Gryl/Michel 2021: 29).
Die Arbeiten der Situationistischen Internationale zeichneten sich in vielerlei Hinsicht durch eine grundlegende Abkehr von herkömmlichen kartographischen Konventionen aus. Ihr Ansatz war stark von den Erkenntnissen prominenter Soziologen wie Paul-Henry Chombart de Lauwe und Henri Lefèbvre geprägt, die die traditionelle Vorstellung von Stadt und Raum als neutral und statisch ablehnten. Stattdessen befürworteten sie eine dynamische Auffassung von Raum als lebendiges Wissen und sich ständig verändernde Aktivität.
Für die Situationisten war das Kartieren mehr als nur eine mechanische Repräsentation geografischer Merkmale. Es war eine künstlerische und subversive Praxis, die die gewohnten Grenzen und Hierarchien von Raum und Territorium herausforderte. Anstelle einer festgelegten Route oder eines vordefinierten Ziels praktizierten sie das Dérive – das Umherschweifen. Dabei ließen sie sich von Intuition und Zufall leiten und durchstreiften die Stadt ohne vorgegebene Route oder Dauer. Diese Umherschweifenden Rituale waren für sie ein Befreiungsschlag gegen das instrumentelle und effiziente Leben (Debord 1990: 28).
Indem sie die traditionelle Kartographie dekonstruierten und mit ihrer eigenen Sichtweise auf den Raum experimentierten, setzten die Situationisten ein starkes Statement gegen die hegemoniale Vorherrschaft von Karten, die oft von staatlichen oder kommerziellen Institutionen erstellt wurden. Ihre Karten waren Ausdruck einer alternativen Wahrnehmung der Welt und eine Provokation gegen etablierte Normen und Ordnungen.
Ein exemplarisches Beispiel für diese Verschiebung ist die Surrealistische Weltkarte, die 1929 in der belgischen Zeitschrift Variétés veröffentlicht wurde (Abb. 5). Diese Karte dekonstruiert die eurozentrierte Kartographie, indem der pazifische Ozean in das Zentrum des Bildes gerückt wird und die Proportionen der Länder und Inseln je nach künstlerischer Relevanz für die Surrealisten verändert werden. Die Landkarte spielt bewusst mit den Größenverhältnissen und den konventionellen Techniken der kartographischen Repräsentation, wie zum Beispiel der winkeltreuen Mercator-Projektion (Abb. 1). In dieser Hinsicht kann sie als Stellungnahme zur konstruierten Natur von Weltbildern verstanden werden, die immer nur eine von vielen möglichen Weltsichten zulassen. Durch diese künstlerische Darstellung wird die Eurozentrizität der traditionellen Karten in Frage gestellt und alternative Perspektiven aufgezeigt.
Abbildung 5: Surrealistische Weltkarte, Variétés. Le Surréalisme en 1929, Anonym, 1929
Die Situationistische Internationale legte so den Grundstein für das Konzept des Counter-mappings oder Kartierens als Widerstand. Ziel war es, durch Irritation und subversive Praktiken das Bewusstsein von Raum und Territorium zu verändern und neue Perspektiven zu eröffnen. Dazu gehört unter anderem das Hervorheben von marginalisierten Orten und die Sichtbarmachung von sozialen Konflikten und Ungerechtigkeiten (vgl. Gryl/Michel 2021: 32f.).
Ein weiteres Beispiel für das Counter-Mapping ist das Projekt The Naked City von Guy Debord aus dem Jahr 1957. Die Karte rückt den Ereignis-Raum in den Fokus und zeigt psychogeografische Konturen von Städten mit ihren Strömungen und Wirbeln. Hierbei werden die konventionellen Techniken der kartographischen Repräsentation bewusst umgangen, um alternative Sichtweisen auf den Raum zu ermöglichen.
Abbildung 6: The Naked City, Guy Debord, 1957, Guy Debord, https://onlineexhibits.library.yale.edu/s/hogarths-topographies/item/17486#?c=&m=&s=&cv=&xywh=-2381%2C-1%2C13236%2C5879
Auch Denis Wood, ein wichtiger Vertreter der kritischen Kartographie, zeigt mit seinem Atlas Dancing and Singing: Ein narrativer Atlas von Boylan Heights[1] die Möglichkeiten des Counter-Mappings auf. Die Karte Police Calls stellt die Anrufe bei der Notrufnummer 911 in einem bestimmten Zeitraum dar und zeigt, wie bestimmte Gebiete mit häufigen Anrufen gekennzeichnet sind. Diese Karte bringt soziale Probleme und Ungleichheiten im städtischen Raum zum Ausdruck, die anhand herkömmlicher Karten oft unsichtbar bleiben.
Abbildung 7: Police calls, A Narrative Atlas of Boylan Heights, Denis Wood, Denis Wood, Siglio Press, https://makingmaps.net/2008/01/10/denis-wood-a-narrative-atlas-of-boylan-heights/
Counter Mapping
Counter-Maps sollen verdeutlichen, wie offizielle Karten oft bewusst wichtige Informationen auslassen, um bestimmte politische Handlungen zu legitimieren. Diese alternative Form der Kartografie nutzt eine Vielzahl nicht-traditioneller Darstellungsweisen, um neue Räume zu schaffen und hegemoniale Wissenssysteme zu dekonstruieren. Counter-Mapping erkennt subalterne Stimmen an und beschäftigt sich mit historischen und aktuellen Themen wie Expansionismus, ungleicher Entwicklung und aufkommenden Realitäten.
Die Zielsetzung von Counter-Maps ist es, nicht statische Zustände, sondern Ereignisse, Aktionen, Energien und Ströme einzufangen. Das Terrain, das sie sichtbar machen, wird als ein Komplex von Ein- und Ausgängen, durchbrochenen Grenzen, Übergriffen, Fluchten und Eskapaden verstanden. Da dieses Territorium als vielfältig, reichhaltig, heterogen und vielschichtig wahrgenommen wird, profitieren Counter-Maps von kollektiver oder gemeinschaftlicher Zusammenarbeit und öffentlicher Debatte (vgl. Dammann/Michel 2022: 17).
Obwohl viele Counter-Maps, die seit 1995 erstellt wurden, auf computergestützte und algorithmische Verfahren zur Datenkodierung, Präsentation, Verteilung und Analyse zurückgreifen, sind sie am besten als humanistische Dokumente zu verstehen. Gemäß der Kulturkritikerin Johanna Druckers haben sie Vorrang für Interpretation, Mehrdeutigkeit, Schlussfolgerungen und qualitative Bewertungen, anstatt sich ausschließlich auf quantitative Darstellungen von Fakten zu stützen (vgl. Dammann/Michel 2022: 21).
Ein Beispiel für ein solches Projekt ist Berlin besetzt das die Geschichte von Haus- und Platzbesetzungen in Berlin aufzeigt.[2] Es zeigt die Selbstermächtigung von Protestbewegungen im Stadtraum und Stadtleben. Dieses interaktive Online-Stadtplan und digitale Archiv zielt darauf ab, kollektive und selbstverwaltete Räume in der Stadt sichtbar zu machen und den Berliner Stadtraum als Ergebnis von Aneignungskämpfen darzustellen, wobei Hausbesetzungen einen bedeutenden Anteil haben. Durch solche Projekte wird die Macht der Counter-Maps deutlich, die konventionelle kartografische Darstellungen in Frage stellen und eine alternative Perspektive auf den Raum und seine sozialen Beziehungen bieten.
Abbildung 8: Berlin Besetzt, Illustrierte Karte in Berlin 1970, Screenshot, Berlin Besetzt
How to counter
Für die Kritische Kartographie und das kritische Kartografieren können nun also vier Hauptaussagen festgehalten werden:
1. Die Kombination von Wissen und Macht in Karten prägt gesellschaftliche Normen und Identitäten: Kartographisches Wissen entsteht durch die komplexe Interaktion sozialer, ökonomischer und historischer Faktoren und ist untrennbar mit Macht verbunden (Macht/Wissen). Infolgedessen weist jede Karte eine grundlegend politische Dimension auf.
2. Kritische Kartographien hinterfragen dominante Narrative und können alternative Perspektiven aufzeigen: Die Kritische Kartographie birgt einen aktivistischen und emanzipatorischen Charakter. Sie enthüllt die räumlichen und zeitlichen Begrenzungen des Wissens und eröffnet somit die Möglichkeit, hegemoniale Strukturen in Frage zu stellen.
3. Die Karte ist das Werkzeug: Karten dienen als nützliche Werkzeuge zur Produktion und Einordnung von Wissen. Dennoch sind sie auch von unsichtbaren, einschränkenden Kategorien geprägt, die es kritisch zu hinterfragen gilt.
4. Auf den Kontext kommt es an: Eine Herangehensweise, um diese begrenzenden Kategorien kritisch zu untersuchen, besteht darin, Karten in einen historischen Kontext einzubetten. Durch die Einordnung in die Entwicklung der Kartographie im Laufe der Zeit wird deutlich, dass Wissen und Erkenntnis eine zeitliche Dimension besitzen. Dies eröffnet die Möglichkeit, neue Blickwinkel auf das jeweilige Forschungsobjekt zu gewinnen.
Zusätzlich soll betont werden, dass das Wissen über Karten und die Interpretation von Kartographie eine tiefe räumliche Dimension aufweist. Diese Erkenntnis unterstreicht die Bedeutung der räumlichen Aspekte bei der Analyse und Nutzung von Kartenmaterialien.
Raumproduktion
Gemäß den Ansichten von Henri Lefebvre sind Gesellschaften selbst aktiv daran beteiligt, Raum zu produzieren. Raum ist kein neutraler Hintergrund, sondern ein Ergebnis sozialer Prozesse (vgl. Lefebvre 2021: 331). In diesem Zusammenhang kann das Kartieren als eine räumliche Praxis verstanden werden, bei der Menschen nicht einfach bestehende Geografien aufzeichnen, sondern diese aktiv erschaffen. Die Karte ist demnach kein statisches Artefakt, sondern ein sich ständig entwickelndes und entfaltendes Konstrukt.
Strategien des Counter-Mappings zielen häufig darauf ab, die Lücken und Auslassungen in den hegemonialen Wissenssystemen historischer Karten aufzudecken. Gleichzeitig ermöglichen sie die Verbindung von materiellen und kulturellen Aspekten. Die Counter-Mapping-Prozesse verdeutlichen den Betrachtenden, dass physische Karten als Repräsentationen virtueller und zeitlicher Räume fungieren, die in ihrer strukturellen und räumlichen Zusammensetzung nicht wirklich existieren. Die Karten dokumentieren von Menschen geschaffene Erinnerungs- und kulturelle Abgrenzungsräume, deren Grenzen durch Zwischenräume und Objekte artikuliert werden.
Für Lefebvre ist Raum ein Werkzeug des Denkens und Handelns. Er dient als Mittel zur Kontrolle, Beherrschung und Ausübung von Macht (vgl. Lefebvre 2006: 333). Im erweiterten Sinne fungieren Karten als Werkzeuge für den Erwerb und die Aufrechterhaltung dieser Macht. Die Fähigkeit und Ressourcen, eine Region oder ein Territorium zu kartieren, ermöglichen es, ein gewisses Maß an Kontrolle über seine geografischen Formen und Bewohner*innen auszuüben. In dieser Hinsicht haben Karten eine intrinsische Darstellungsfunktion als Vermittler von visuellem Wissen. Sie informieren darüber, was Gesellschaften wissen, gestalten subjektive Wirklichkeiten und können auf dieser Grundlage neue soziale Räume produzieren.
Zu den vier genannten Kategorien kann nun noch eine fünfte Kategorie ergänzt werden:
5. Counter-Mapping produziert Raum: Lefebvres Idee der Raumproduktion verdeutlicht, dass Raum nicht einfach objektiv existiert, sondern das Ergebnis sozialer Prozesse ist, bei denen Machtverhältnisse und soziale Strukturen eine Rolle spielen. In diesem Sinne kann die Kartografie als ein Werkzeug betrachtet werden, das aktiv an der Produktion von Raum und der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen beteiligt ist.
Ausblick
Sei nun festgehalte: Karten haben eine lange Geschichte der Macht, und sie waren und sind instrumentelle Werkzeuge für die Behauptung von Territorien. Kartografie existiert nicht außerhalb von Machtstrukturen, und Karten können in der Gesellschaft mächtige Instrumente sein. Sie verorten nicht nur und verräumlichen damit die natürliche Umwelt, sondern setzen auch Besitzverhältnisse, Rechte und soziale Normen an ihren Platz.
Doch wie Kartierungspraktiken ebenso zeigen, können Karten auch in Opposition zu dominanten Narrativen verwendet werden. Ein Schlüsselmerkmal aller Karten ist vielleicht ihre Fähigkeit unterschiedliche Realitäten visuell darzustellen, indem sie Informationen destillieren und einige Informationen gegenüber anderen privilegieren. In diesem Sinne sind Karten immer politisch und sollten als solche gelesen werden. Sie sind auch immer partiell und perspektivisch, ungeachtet ihres Anspruchs auf Autorität. Die Beziehung von Karten zur Repräsentation ist daher fundamental; sie rahmen, kodifizieren und destillieren. Dass diese Eigenschaft von Karten oft verborgen oder unerkannt bleibt, ist ein wichtiger Punkt für eine politische Mapping-Praxis.
Counter-Mapping ermöglicht es, hegemoniale Wissenssysteme zu hinterfragen und alternative Perspektiven einzubringen, um soziale Gerechtigkeit und inklusive Repräsentationen zu fördern. Durch die bewusste Gestaltung von Gegenkarten können bisher unsichtbare oder unterdrückte Räume und Erfahrungen sichtbar gemacht und bestehende Machtstrukturen in Frage gestellt werden. Somit erweist sich Counter-Mapping als eine wichtige Praxis, die nicht nur die Vergangenheit aufdeckt, sondern auch aktiv an der Gestaltung einer inklusiveren Zukunft teilnimmt.
Wenn Kartografie mit ihrem Anspruch, Wahrheit und bewusste und unbewusste Auslassungen darzustellen, das ist, was der Schriftsteller Milan Kundera als Methode des organisierten Vergessens (vgl. Kundera 2014: 224) beschreibt, dann zeigen diese Beispiele, wie Counter-Mapping zu einer Methode werden kann, die nicht nur dem Erinnern dient, sondern auch der Veränderung der Gesellschaft und der Neuplanung sozialer Räume – vielleicht zu neuen Landschaften der Möglichkeiten.
Literaturverzeichnis
DAMMANN, FINN; MICHEL, BORIS (Hrsg.): Handbuch Kritisches Kartieren. Kritisches Kartieren – zur Einführung. Bielefeld [Transcript] 2022
DEBORD, GUY: Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie. In: Der große Schlaf und seine Kunden – Situationistische Texte zur Kunst. Hamburg/Zürich [Edition Nautilus] 1990
GLASZE, GEORG: Kritische Kartographie. In: Geographische Zeitschrift, 97. Jg., Heft 4, 2009, S. 181-191
HARLEY, BRIAN (1989, dt. 2004) zitiert nach GEORG GLASZE: Kritische Kartographie. In: Geographische Zeitschrift 97. Jg., Heft 4, Stuttgart [Franz Steiner Verlag] 2009, S. 181-191
KUNDERA, MILAN: Das Buch vom Lachen und Vergessen. Frankfurt/M. [S. Fischer Verlag] 2014
LATOUR, BRUNO: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Berlin [Suhrkamp Verlag] 2007
LEFEBVRE, HENRI (1974): Die Produktion des Raums. In: Dünne, Jörg; Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Berlin [Suhrkamp Taschenbuch Verlag] 2021
WOOD, DENIS: The Power of Maps. New York [Guilford Publications] 1992
Fußnoten
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Citation
Katrin Brümmer: How to counter – Mapping als Praxis einer aktivistischen Raumproduktion. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 38, 19. Jg., (2)2023, S. 65-81
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-2-2023-15734
First published online
Oktober/2023