Von Martin Scholz
Abbildung 1: A military base in Helmand Province, Afghanistan with route taken by joggers highlighted by Strava, Strava Heatmap. https://www.theguardian.com/world/2018/jan/28/fitness-tracking-app-gives-away-location-of-secret-us-army-bases
Die Daten
Am 2. November 2017 veröffentlichte STRAVA, die Entwickler- und Betreiberfirma einer Fitnessapp, in einer Pressemeldung rund drei Milliarden GPS-Datenpunkte seiner Nutzer*innen in anonymisierter Form. Was STRAVA als Nachweis für die Verbreitung und Beliebtheit seiner sozial-interaktiven Plattform für Sportler*innen plante, geriet zu einem Geheimnisverrat erster Güte. Viele der STRAVA-Nutzer*innen arbeiten in einem Umfeld, bei dem Angaben zur eigenen Standortposition während der Dienstzeiten nicht veröffentlicht werden sollten, aber am 2.11.2017 geschah genau das. So konnten bspw. die irakische Bevölkerung an diesem Wochenende recht präzise Erkenntnisse über die militärischen Außenposten und geheimer Einrichtungen westlicher Staaten bei Mosul gewinnen, da die GPS-Daten der dort arbeitenden Soldat*innen in Echtzeit veröffentlicht wurden. Und da die Soldaten*innen ihre Handys mit auf Patrouille nahmen, zeichneten sie über die Dauer ein genaues Bild ihrer Kontrollposten, Kommandoeinrichtungen und Grundrisse von Gefängnissen auf.
Das Beispiel zeigt, wie einem harmlosen Datenpool durch die Visualisierung nicht nur eine politische Bedeutung zukommen kann, sondern, weit ernster, eine erklärende Kraft. Die Daten formen – über Visualisierungswerkzeuge – scheinbar automatisch einen Blick auf die Welt … im Fall von STRAVA zugleich auch eine Landkarte mit vielen kleinen Grundrissen. Entscheidend für die Datenvisualisierung ist, neben der Komprimierung von Datenmengen ihre zeitgleich räumliche Kontextualisierung, also die Verbindung von Zeit und Ort. Dann entsteht eine Bedeutung aus der Sichtbarkeit von Daten.[1]
Der Kontext
Daten basieren auf technischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Praxen und steuern die gesellschaftlichen Realität(en) ihrer jeweiligen Epoche. Insbesondere Datenvisulisierungen ermöglichen in der Gegenwart die Einflussnahme auf bestimmte Aspekte gesellschaftlichen Lebens, dem Zeigen und Verbergen von Daten kommt eine sozialformende Kraft zu.
Datenvisualisierungen sind Medien, die vorhandene Datensätze in Bildformen übersetzten und in einem anschließendem Erkenntnisprozess Wissen oder Handlungen erzeugen. Erst die Visualisierung (der Daten) erzeugt die Erkenntnisse, indem sie Verbindungen, Differenzen oder eine Ähnlichkeit der Datensätze aufzeigt. Insofern sind sie mehr als nur eine alternative Darstellung zu bspw. reinen Zahlenkolonnen. Visualisierungen stellen ein Zugriff auf die Daten und der dort repräsentieren Wissensbestände dar. Über die Darstellung können Größenordnungen und deren Abhängigkeiten dargestellt werden, Zustände verglichen und diese über die zeitliche Entwicklung hin kontextualisiert werden. Damit können regelhafte sowie unter- oder überproportionale Entwicklung erkannt werden, wie bspw. der Anstieg der Weltbevölkerung, des Gaspreises oder der Klimaerwärmung.
Etwas, was an sich unsichtbar ist, kann abgebildet werden: die Abbildung der Schiffs-, Flug oder auch Migrationsrouten lassen veränderte Beziehungsgeflechte erkennen. Und über interaktive Webseiten können wir über die Zukunft der eigenen Heimat spekulieren, bspw. unter http://flood.firetree.net/ das Schicksal der norddeutschen Küstenbereiche bei einem Anstieg des Meeresspiegels um 7 Meter: Bremen wäre weg.
Auch an diesen Beispielen wird deutlich, dass Datenvisualisierungen eine erheblich größere kulturelle, politische und wirtschaftliche Sprengkraft besitzen, als es reine Zahlenreihen vermögen. Weil unmittelbare Rückschlüsse auf individuelle und kollektive Zustände gezogen werden können, werden auch immer die Emotionen der Betrachter*innen berührt. Von den Datenvisualisierungen der Gegenwart bleibt kaum ein*e Nutzer*in unberührt.
Insofern plädieren die Herausgeberin und der Herausgeber dieses IMAGE-Bandes für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Phänomen und schlagen zugleich eine Betrachtung unter gestalterischer Perspektive vor: So wie wir die Wirkung und Auswirkungen von Gemälden, Fotografien und Filme beschreiben können, sollten wir das auch mit harmlosen Datenvisualisierungen tun.
Das Symposium
Am 24. und 25. November 2023 fand an der Hochschule Hannover, Fakultät III – Medien, Information und Design ein gleichnamiges Symposium im Rahmen der jährlichen Kurt-Schwitters-Symposien statt. Ziel des Symposiums war es, die Daten und ihre Visualisierungsformen im Zusammenwirken einzelner Gestaltungsdisziplinen, in der Herstellung der Visualisierungsprogramme, der Nutzungskontexte sowie der sozialen, kulturellen und politischen Deutungssysteme sichtbar werden zu lassen. Dabei war es ein Anliegen, die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis deutlich werden zu lassen und daher wurden sowohl Designer*innen als auch Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen eingeladen. Drei Perspektiven wurden hierzu in den Blick genommen:
Die Anwenderperspektive behandelte primär die Anfertigung der konkreten Datenvisualisierungen. Welche konkreten Besonderheiten gilt es bspw. für die Übertragung von medizinischen Daten in Bildform zu beachten und was hat sich in der Architektur, der Geografie, dem Journalismus o.a. als gut erwiesen?
Die Herstellungsperspektive fokussierte auf die grundlegenden Gestaltungsentwicklung der Datenvisualisierungen. Welche Erfahrungswerte, Regeln oder verbindliche Normen sind vorhanden? Woran halten sich bspw. Informatik, Medizin, Kartenkunde oder Gestaltung und wie entwickeln sie diese Konventionen weiter?
Die Theorieperspektive beleuchtete vor allem die historischen und kulturellen Aspekte der Datenvisualisierungen, die als kulturelle Austauschformate verstanden werden. Wie entwickeln sich diese spezifischen Bildformate durch die kulturellen Kontexte und wie entwickeln sie wiederum ‚ihre‘ Gesellschaften?
Zu den Vortragenden gehörten:
- Prof. Dr. Volker Ahlers, Hochschule Hannover, Informatik
- Dr. Carolin Scheler, HfG Bremen & HsH, Computergrafische Bilderzeugung
- Jennifer Münch, doubleslash, Friedrichshafen, Wirtschaftsinformatik
- Prof. Dr. Monika Sester, Leibniz Universität Hannover, Kartografie und Geoinformatik
- Julia Scholz-Köberlein, Kontextlab.com, München
- Katrin Brümmer, M.A., Hochschule Hannover, Kultur- und Designwissenschaften
- Prof. Dr. Cornelia Frömke, Hochschule Hannover, Medizinische Statistik
- Prof. Dr. Bernhard Preim, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Visualisierungen
- Jonas Parnow, Fachhochschule Potsdam, Urban Lab
- Prof. Dr. Martin Scholz, Hochschule Hannover, Medientheorie
Die jeweiligen Vortragsvideos sind unter der Adresse Datenvisualisierungen – Werkzeuge der Erkenntnis auf YouTube zu finden.
Katrin Brümmer
Martin Scholz
Fussnote
1 Quellen: www.planet33.com/2018/07/27/jogging-app-nicht-sicher/, https://www.spiegel.de/wissenschaft/datenlese/cia-fitness-app-STRAVA-enttarnt-militaerbasen-a-1190998.html
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Citation
Martin Scholz: Datenvisualisierungen – Werkzeuge der Erkenntnis. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 38, 19. Jg., (2)2023, S. 2-6
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-2-2023-15719
First published online
Oktober/2023