Embracing Complexity

Von Julia Scholz-Köberlein

Abstract

Die Komplexität unserer Welt wächst. Exponentiell. Alle Bereiche in denen wir handeln und leben sind zunehmend verflochten – die wirtschaftlichen, politischen und technologischen Zusammenhänge immer komplexer. Die aktuellen Probleme der Lösungen von gestern zeigen, dass ein Agieren im Silo langfristig unabsehbare Folgen haben kann. Ob aktuelles politisches Zeitgeschehen, Prozesse in Unternehmen oder wissenschaftliche Erkenntnisse: Um bessere Entscheidungen treffen zu können brauchen wir Details und deren Kontext. Lineares Denken und lineare Vermittlungsmethoden können dem nicht gerecht werden. Darum hat Julia mit ihrem Team die Plattform KontextMaps entwickelt. Mit ihr können Übersicht und Tiefgang eines Themas in einer interaktiven Wissensmap vermittelt werden. Zum Eintauchen Entdecken und Verstehen.

The complexity of our world is growing. Exponentially. All areas in which we act and live are increasingly interconnected – the economic, political and technological relationships are becoming ever more complex. The current problems of yesterday’s solutions show that acting in silos can have unforeseeable consequences in the long run. Whether current political events, processes in companies or scientific findings: To make better decisions, we need detailed information and its context. Linear thinking and linear methods of communication cannot do justice to this. That’s why Julia and her team developed the KontextMaps platform. With it, the overview and depth of a topic can be conveyed in an interactive knowledge map: for deeper understanding and discovery.

Embracing Complexity

Sind Sie für oder gegen Waffenlieferungen in die Ukraine?

Sind Sie für oder gegen eine Europäische Armee?

Oder:

Sind Sie für oder gegen mehr Überwachung, um uns vor Terror zu schützen?

So einfach diese Fragen erscheinen, so schwer kann es sein, sie zu beantworten. Spontan lässt sich eine Antwort geben, welche einer ersten Intuition folgt. Sie orientiert sich an eigenen Werten, Umfeld, Erfahrungsschatz und Wissensstand. Schwieriger wird es eine fundierte Meinung zu argumentieren. Das „Ja“ oder „Nein“ zu untermauern, um der Komplexität dieser Fragen und Themen gerecht zu werden. Letztlich, um eine fundierte Entscheidung zu treffen.

Ich erlebte dieses Dilemma selbst, das eine fundierte, eigenständige Mei­nungs­bildung so schwierig macht. Damals war ich mit Fragen wie den eingangs genannten bei der Verwendung des Wal-O-Mats konfrontiert. Einer Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung, welche alle Parteiprogramme mit der eigenen Meinung zu ausgewählten, aktuellen Themen abgleicht. Je Thema werden dort Thesen präsentiert, auf welche man mit „stimme zu“, „neutral“ oder „stimme nicht zu“ reagieren kann. Man bezieht klar Stellung, die, abgesehen von einer neutralen Reaktion, eine deutliche Meinung widerspiegeln. Der Wal-O-Mat gleicht alle Antworten ab und liefert am Ende eine Übersicht, welche Partei die eigene Meinung am besten repräsentiert. Ein wirklich wertvolles, hilfreiches Tool, insbesondere, wenn man sich die einzelnen Parteiprogramme gar nicht durchgelesen hat.

Doch so wundervoll diese Initiative auch ist, so schwierig ist es eben jene klare, fundierte Haltung zu den aktuellen Themen zu haben. So warf damals eine These die Frage auf, ob man für oder gegen einen Einsatz der deutschen Bundeswehr in Afghanistan sei. Meine spontane Reaktion war ein klares „Nein“, denn meine grundsätzlich pazifistische Einstellung lehnt Militär und Waffen ab und wünscht sich, dass alle Menschen in Frieden leben können. Jedoch, bei genauerer Betrachtung, fiel es mir immer schwerer eine ganz klare Haltung fundiert zu argumentieren. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen tauchten auf, deren Beantwortung wichtig waren, um ein ausgewogenes Bild zu erhalten.

Auch wenn ich mich grundsätzlich informiert fühlte, so erkannte ich plötzlich blinde Flecken, fehlendes Hintergrundwissen. Allesamt wichtig, um eine ausgewogene Entscheidung zu treffen. Trotz der vielen News und Nachrichten die ich konsumierte, fehlte mir eine breite Multiperspektive, der größere Kontext, des gesamten Themas. Breites Wissen, das der Komplexität der gestellten These gerecht werden konnte.

Wachsende Komplexität und exponentielles Wissen

Das Paradoxon, trotz Unmengen zugänglicher Informationen dennoch nicht genug zu wissen, faszinierte mich. Aktuelle Politik unsere Welt und unsere Gesellschaft betreffend, ist hier nur ein Beispiel. Unsere Welt ist komplex. Sie war es wohl schon immer, doch durch die rasanten Entwicklungen unserer Gesellschaft und technologischen Mittel wird sie immer noch komplexer. Politik, Wirtschaft und Technik sind immer dichter verwoben. Ein Durchblicken und ein Begreifen wird immer schwieriger. Und das, obwohl wir uns im Zeitalter der Information befinden?

So stark die Komplexität unserer Welt wächst, es wächst auch die Menge an Informationen, die uns zur Verfügung stehen. Die Distribution von Information ist einfach geworden und durch eine immer größere Menge an Menschen die Forschen und Wissen erarbeiten, wächst auch neues Wissen exponentiell (vgl. Bornmann/Haunschild/Mutz 2021). War es noch vor wenigen Jahrzehnten ein Privileg an Wissen zu gelangen, so ist es heute meist einen Mausklick entfernt. Dabei befindet sich nicht in jedem Artikel oder jeder Meldung immer wirklich neues Wissen. Je mehr Informationen zu einem Thema distribuiert werden, desto häufiger ist auch der Informationswert gering. Damit wird das Einordnen und Auffinden von relevanten Informationen aufwändiger und anstrengender. Es steht zwar ein exponentiell wachsender Pool an Informationen zu Verfügung, sich aber darin zurecht zu finden, Relevantes von Unwichtigem zu unterscheiden, ist zeitintensiver, fordernder und setzt eine hohe Informations- und Medienkompetenz voraus.

Wir Menschen sehnen uns nach Einfachheit und Klarheit. Einfache und klare Antworten geben das Gefühl von Sicherheit, der richtigen Orientierung im Leben. Sowohl Populismus als auch Marketing wissen davon, und präsentieren uns daher sehr klare und plakative Argumente. Unser Steinzeit Gehirn freut sich darüber (vgl. Hansen/Dechêne/Wänke 2007), letztlich um effizient zu sein. Denn naturgemäß ist es erst mal anstrengend, sich der Komplexität der Themen zu stellen, Wissen zu erwerben, ungewohnte Perspektiven einzunehmen und die Gänze eines Themas zu erarbeiten. Die Verlockung ist also groß, Komplexes sehr stark zu vereinfachen. Sowohl für Produzierende als auch für Konsumierende. Doch wenn wir komplexe Themen inhaltlich zu stark zu vereinfachen, birgt es das Risiko für letztlich potentiell schlechte Entscheidungen.

Embracing Complexity mit KontextMaps

Im Umkehrschluss: „Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.“ (Peter Drucker). Einzelne Informationen ergeben erst in Ihrem Kontext Sinn. Und echte Erkenntnis lässt sich erst aus dem Kontext gewinnen. Für unsere Wissensökonomie bedeutet das, je mehr einzelne Informationen und Spezialwissen wir haben, desto wichtiger wird dessen Einordnung in seinen größeren Kontext. Oder in anderen Worten, Kontext ist der Schlüssel für ein besseres Verstehen und letztlich bessere Entscheidungen.

Vernetztes Denken wird zu einer Schlüsselkompetenz in unserem Infor­ma­tionszeitalter. Die Frage ist also, wie kann man der Komplexität der Inhalte gerecht werden, ohne sie zu vereinfachen, diese umfänglich und dennoch verständlich vermitteln? Idealerweise so, dass Leser*innen nicht abgeschreckt werden sondern sich gerne in das Wissen vertiefen? Oder anders: wie kann man die Komplexität annehmen und dennoch unser lazy Steinzeit Gehirn anregen, ohne es zu überfordern?

Um auf diese Fragen eine Antwort zu geben und, um dem Anspruch an die Vermittlung von Themen einen adäquaten Ansatz zu bieten, haben mein Team und ich die Publishing-Plattform KontextMaps entwickelt. Alles was zu einem Thema wichtig ist, kann damit in einer interaktiven Wissensmap vermittelt werden. Einem digitalen Wissenspool, der Zusammenhänge, Übersicht und Detailwissen vereint. Rezipienten können dort von der Übersicht ins Detail eintauchen, die Zusammenhänge visuell erkunden und sich zu jedem Aspekt in die Inhalte vertiefen. Für Publizierende ist es sehr einfach die digitalen Wissensmaps zu erstellen und zu verwalten. Die Plattform kombiniert hierfür das Prinzip digitaler Whiteboards mit einem Content Management System (CMS). Die mit KontextMaps produzierten Maps sind teils sehr umfangreiche Publikationen, vergleichbar mit Fachbüchern. Die Rezipienten können auch in solch große Projekte spielerisch eintauchen, alle relevanten Aspekte und ihre Zusammenhänge visuell erkunden und zu jedem Punkt Inhalte entdecken: Texte, Videos und Infografiken.

Über die letzten Jahre wurden sehr unterschiedliche Projekte und Publikationen mit der KontextMaps Plattform umgesetzt. Die Einsatzzwecke reichen von Kommunikation, Bildung bis Wissensmanagement. Alle eint: die publizierten Themen sind umfangreich, vielschichtig und komplex, für die Rezipienten sollten alle Aspekte sichtbar sein, es sollte zu den diversen Aspekten individuelle Einstiegsmöglichkeiten in das Thema gewährleistet werden und es sollte ein einfacherer Zugang zu viel Inhalt erstellt werden. Lineare Vermittlungsformate waren in all diesen Fällen nur sehr eingeschränkt bis gar nicht brauchbar. Folgend sind einige öffentlich erreichbare KontextMaps zu finden.

Wissenschaftskommunikation des EU Parlaments

Mapping der 5G Technologie in Europa für das Europäische Parlament: Diese Map fasst mit einem Fachbuch vergleichbar viel Inhalt. Darin – neben Texten – auch eine Reihe an Infografiken sowie diverse Video-Snippets mit Experteninterviews.
https://map.sciencemediahub.eu/5g

Toolkit zur Resilienz im Unternehmer*innentum

Das Netzwerk Inotiv stellt die umfangreiche Map zum Thema Resilienz bereit. Darin Inspiration von Unternehmer*innen, konkrete Fragen zu Problemen, Tools und Methodensets sowie Informationen rund um das Thema Resilienz.
https://inotivmap.kultur-kreativpiloten.de/resilienz

Finanzglobus der Universität Zürich (erstellt von Legal by Design)

Diese Map zeigt alle relevanten Fragen rund um das Thema der Universitäts-Finanzen, wie Abrechnungen, Verwaltung von Geldern etc. und ersetzt die bis dahin üblich Schulung und ein umfangreiches PDF.
https://finanzglobus.uzh.ch/de

Legislaturprogramm der Stadt Winterthur

Die Map zeigt der Öffentlichkeit die Pläne der Regierung.
https://legislaturprogramm.winterthur.ch/legislaturprogramm

Digitalmagazin des Verbraucherservice Bayern

Diskurs, das Digitalmagazin des Verbraucherservice Bayern stellt eine KontextMap mit Verbraucherrelevanten Informationen rund um Online-Shopping bereit.
https://www.verbraucherservice-bayern.de/medien/diskurs-das-digitalmagazin

Abb. 1: Beispiel: KontextMap des wissenschaftlichen Dienstes des EU Parlaments zur 5G Technologie in Europa. ©Kontextlab

Abb. 2: Beispiel 5G-Map: Leser können tiefer in die visuelle Struktur der Map eintauchen. Die Visualisierung zeigt die Zusammenhänge von Technologie, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. ©Kontextlab

Abb. 3: Beispiel 5G-Map: Klickt man auf einen Aspekt der Visualisierung, öffnet sich der passende Artikel. ©Kontextlab

Abb. 4: Beispiel 5G-Map: Die Artikel können Texte, Videos, Bilder oder Infografiken beinhalten. Damit wird das Lesen einer KontextMap zu einem multimedialen Erlebnis. ©Kontextlab

Abb. 5: Beispiel das Digitalmagazin Diskurs: Der Verbraucherservice Bayern stellt eine KontextMap mit Verbraucherrelevanten Informationen rund um Online-Shopping bereit. ©Kontextlab

Abb. 6: Beispiel Inotiv Toolkit: Das Netzwerk Inotiv stellt eine umfangreiche Map zum Thema Resilienz bereit. ©Kontextlab

Abb. 7: Beispiel Inotiv Toolkit: In der Map befinden sich Inspiration von Unternehmer*innen, konkrete Fragen zu Problemen, Tools und Methodensets sowie Informationen rund um das Thema Resilienz ©Kontextlab

Abb. 8: Beispiel Inotiv Toolkit: Inhalte zum Thema sind Texte und Videos. ©Kontextlab

Abb. 9: Beispiel Inotiv Toolkit: Teil der Map ist ein Methodenset, für konkrete praktische Tools für akute Krisen und zur Prävention. ©Kontextlab

Abb. 10: Beispiel Finanzglobus: Legal by Design erstellte für die Uni Zürich eine KontextMap zu allen relevanten Fragen rund um das Thema der Universitäts-Finanzen. ©Kontextlab

Abb. 11: Beispiel Finanzglobus: In der Map findet man Themen wie Abrechnungen, Verwaltung von Geldern usw.. Sie ersetzt die bis dahin üblich Schulung und ein umfangreiches PDF. ©Kontextlab

Abb. 12: Der KontextMaps Editor: Das Erstellen der visuellen Struktur ist sehr einfach auf einer digitalen Zeichenfläche möglich. ©Kontextlab

Abb. 13: Der KontextMaps Editor: Das Verwalten und Gestalten von visueller Struktur und aller Inhalte ist sehr einfach und intuitiv. ©Kontextlab

Abb. 14: Der KontextMaps Editor: Die Sichtbarkeit aller visuellen Elemente kann über mehrere Ebenen strukturiert werden. Auf diese Weise können Leser in die publizierte Map sprichwörtlich eintauchen. ©Kontextlab

Abb. 15: Der KontextMaps Editor: Das Verwalten und Gestalten von visueller Struktur und aller Inhalte ist sehr einfach und intuitiv. ©Kontextlab

Abb. 16: Der KontextMaps Editor: Das Verwalten und Gestalten von visueller Struktur und aller Inhalte ist sehr einfach und intuitiv. ©Kontextlab

Das Feedback von Lesern der Maps ist durchweg positiv. Hervorgehoben wird dabei immer der visuelle und spielerische Zugang. Es wird betont, dass Informationen schnell gefunden werden und, dass es Spaß macht, sich mit dem Inhalt auseinander zu setzen.

Visuelle Tools unterstützen das Verstehen

Sucht man Rat worauf es bei der Vermittlung ankommt, um besser verstanden zu werden, stößt man schnell auf Argumente, die das Einfache loben. Es wird empfohlen Komplexes zu vereinfachen, den Kern herauszuarbeiten, damit die, die verstehen sollen, schneller begreifen können. Damit die Rezipienten nicht überfordert werden. Das ist sicherlich ein guter Rat, wenn es darum geht einen einzelnen Aspekt zu erklären. Es ist sicherlich auch ein guter Rat, wenn es um die Gestaltung von Inhalten geht, also beispielsweise einfache Sprache zu verwenden. Will man aber ein großes Thema tiefgründig erklären, wird man mit dem Rat der Vereinfachung schnell an Grenzen stoßen.

KontextMaps setzen daher auf Überblick und Detailwissen, damit die Rezipienten alle relevanten Aspekte sehen können und dennoch in einzelne Bereiche vertieft eintauchen können. Statt einer Überforderung sehen wir dann, dass sich Rezipienten intensiver mit den Inhalten auseinandersetzen. Die Maps erzeugen ein Sog, der in ein Thema zieht.

„Es macht Spaß sich mit dem Inhalt auseinander zu setzen“, „Endlich hab ich einen guten Überblick“, „Ich finde die für mich relevanten Inhalte schneller“, „Ich habe das Thema nun viel schneller verstanden“.

Bei allen bisher veröffentlichen KontextMaps können wir eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten feststellen. Die Nutzungszeiten liegen meist deutlich über dem Durchschnitt vergleichbarer linearer Formate und das Feedback von aktiven Nutzer*innen aus allen Branchen bestätigt: Mit KontextMaps werden komplexe Themen besser greifbar und konsumierbar. Dank der Aufbereitung überfordert der Umfang eines Themas die Nutzer*innen nicht, sondern motiviert diese vielmehr inhaltlich tiefer einzutauchen. Dabei sind zwei Eigenschaften/Kennzeichen aller publizierten Maps hervorzuheben:

  1. Spielerische Interaktion: In einer Map taucht man sprichwörtlich in ein Thema ein, kann darin alle relevanten Aspekte entdecken und erforschen. Diese Interaktion macht Spaß, schürt Neugierde und schafft so eine Form der Unterhaltung, die den Rezipienten nicht nur passiv konsumieren lässt, sondern durch das Auswählen des eigenen Pfads durch alle Aspekte einbezieht.
  2. Visuelle Strukturierung und Gestaltung: Der Einstieg in ein Thema erfolgt bei KontextMaps immer visuell und nicht linear. Von der Übersicht bis zum Detail: Vom Themenschwerpunkt bis hin zu relevanten Unteraspekten. Die visuelle Strukturierung in einer Mindmap, Conceptmap oder Kontextmap ist so immer der initiale Einstieg in ein Thema, das visuelle Inhaltsverzeichnis, das neben aller Aspekte auch deren Zusammenhänge vermittelt. Auch das stützt die spielerische Interaktion, gibt Orientierung und kann zugleich Erkenntnis schaffen.

Insbesondere in dieser Kombination aus visueller Vermittlung und spielerischer Interaktion scheint der entscheidende Vorteil der KontextMaps zu liegen. Denn für unser Gehirn ist die visuelle Gestaltung von Informationen so wertvoll, dass sie deutlich zu einem besseren Denken, Erkennen und Verstehen beitragen kann.

Das Lesen von Texten ist ein sehr abstrakter Prozess. Aus Buchstabenkom­binationen werden Worte gebildet und diese ergeben in ihrer Zusammenstellung und dem Syntax einen Sinn, der vom Leser erst erschlossen werden muss. Dieser Prozess benötigt Zeit; bei einfachen Sätzen werden 4 Sekunden benötigt, um diese zu begreifen. Im Vergleich zum „Lesen“ von Bildern und Symbolen eine sehr lange Zeit. Um ein Bild zu verarbeiten braucht unser Gehirn 13ms und nur 100ms (vgl. Trafton 2014) um diesem eine Bedeutung zuzuordnen.

Informationen und Inhalte in einem Text zu vermitteln ist dennoch kein Nachteil. Denn im Gegensatz zur bildlichen Darstellung können mit Texten spezifische Informationen sehr präzise beschrieben werden und nur auf diese Weise lassen sich auch abstrakte, tiefgreifende Gedanken ausdrücken. Visuelle Bilder, Grafiken, Abbildungen können das Verstehen eines komplexen Sachverhaltes aber entscheidend unterstützen.

Dank der schnelleren Bedeutungszumessung helfen sie dabei, Orientierung zu geben und auch komplexe Inhalte schneller zu begreifen. Eine Studie konnte zeigen, dass Text, welcher Abbildungen enthält, um 43 Prozent überzeugender ist. Die visuellen Hilfen verbesserten die Wahrnehmung um 11 Prozent, die Aufmerksamkeit um 7,5 Prozent, das Verständnis um 8,5 Prozent, die Zustimmung um 5,5 Prozent, das Erinnern um 10,1 Prozent und das Verhalten um 43,1 Prozent (mit Farbe, ohne Farbe war es etwas weniger) (vgl. Vogel/Dickson/Lehman 2005).

Der Vorteil visuell unterstützter Vermittlung wird verständlicher, mit einem Blick auf die Informationsverarbeitung in unserem Gehirn. Unser Gehirn kann visuelle Informationen besonders gut verarbeiten. Das verwundert nicht, denn 80 – 90 Prozent aller Informationen die in unserem Gehirn ankommen, kommen über unsere Augen (vgl. Hyerle 2008). Ganze 30-40 Prozent der Gehirnfläche wird verwendet, um visuelle Prozesse zu verarbeiten.[1]

Text ergänzende Abbildungen sind also eine gute Möglichkeit, um das Verstehen zu unterstützen. Ein weiterer Weg ist, visuelle Tools zu verwenden (vgl. Hyerle 2008), um komplexe Themen und Informationen logisch zu erarbeiten, zu begreifen und, um unseren Denkprozess zu unterstützen. Bewährt haben sich hierfür Maps zum Brainstorming, wie beispielsweise Mindmapping, Maps zur grafischen Organisation wie zum Beispiel Zeitleisten, Flowcharts oder das Mapping von Denkprozessen, wie beispielsweise Conceptmaps. Diese Tools bewähren sich seit Jahrzehnten und sind entsprechend gut untersucht.

Tests zeigten, dass sich Schüler*innen Informationen, die sie mit Hilfe solch visueller Tools gelernt hatten, einfacher aus dem Gedächtnis abrufen konnten, indem sie sich wieder „vor Augen führten“, wo die Informationen standen. Durch die Nonlinearität wurde der Wissenserwerb zu einer spielerischen Erfahrung (vgl. Hyerle 2008). Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass sie tatsächlich sehen konnten, was sie nicht wussten. Denn Mappings können dabei helfen über das eigene Denken und Erinnern nachzudenken, bei der sogenannten Metakognition. Sie helfen so auch dabei die eigenen Gedanken in die Zukunft zu projizieren, sich die Möglichkeiten vorzustellen, die das neue Wissen eröffnet. Dank dieser Reflexion über das eigene Wissen und Denken im Gesamtsystem unterstützen die visuellen Tools auch dabei über den eigenen Tellerrand zu blicken und Verbindungen zu anderen Bereichen herzustellen.

Ein weiteres Argument, weshalb die visuellen Tools den Denkprozess und das Verstehen so gut unterstützen, finden wir wieder in der Gehirnforschung: Wenn wir lesen, wird ein Bereich des Gehirns aktiviert, welcher für die räumlich Orientierung (vgl. Scholz 2019) und das dreidimensionale Sehen benötigt wird. Es gibt kein spezifisches Gehirnareal, für das Lesen von Texten. Beim Erstellen und Lesen von visuellen Strukturen profitieren wir davon, denn in Mindmaps oder Conceptmaps werden alle Aspekte, zwar zweidimensional aber visuell räumlich, angeordnet.

Erst mit dem Erwerb und dem Erschliessen von Wissen können wir fundierte Erkenntnisse ableiten und letztlich bessere Entscheidungen treffen. Manchmal setzt das voraus, dass man Neues lernt, dass man über den eigenen Tellerrand blicken lernt und, dass man die Ganzheit eines Themas begreift. Lernen und Verstehen sind für unser Gehirn dabei keine drögen, anstrengenden Vorgängen. Im Gegenteil: Wenn wir etwas lernen und verstehen, reagiert ein sehr alter und tiefer Bereich unseres Gehirns – der somatosensorische Kortex (vgl. Lacey/ Stilla/Sathian 2012: 416ff.). Es ist der Bereich, der unsere Gefühle koordiniert und kontrolliert. Lernen wir etwas Neues, reagiert er mit positiven Gefühlen – wir fühlen uns gut.

Die Kraft des Aikidō

Unser Informationszeitalter, die immer komplexer werdende Welt und das exponentielle Wachstum von Wissen, kann leicht zu einem Gefühl der Überforderung führen. Die Konfrontation mit zu vielen Informationen und die wachsende Komplexität wirken wie ein bedrohlicher Angriff auf unseren Wunsch nach Einfachheit und Durchblick. Embracing Complexity bedeutet für mich diesen vermeintlichen Angriff nicht zu bekämpfen, sondern durch Annehmen und Anerkennung des Wesens der Themen in tiefere Erkenntnis umzuleiten.

Vereinfachen von Information kann daher nicht immer die Antwort sein. Um einen zeitgemässen Wissenserwerb zu ermöglichen, benötigen wir neue Formate, die das Wesen der Komplexität aufgreifen und diese nicht leugnen. Welche Komplexität annehmen und durch sie leiten. Ein Schlüssel wird dabei sein, neben Fachwissen den größeren Kontext zu vermitteln, um so das Verstehen und Einordnen zu unterstützen. Mit visuellen Tools können innovative neue Vermittlungsmethoden entwickelt werden, die unserem Gehirn und seiner Informationsverarbeitung entsprechen. KontextMaps sind ein Beispiel dafür, wie es funktionieren kann.

Literaturverzeichnis

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Fußnote

1 Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik: Visuelle Wahrnehmung – Psychophysik, Physiologie und fMRI-Studien: https://www.kyb.tuebingen.mpg.de/43647/visual-perception (02.07.2023).


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Citation

Julia Scholz-Köberlein: Embracing Complexity. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 38, 19. Jg., (2)2023, S. 113-126

ISSN

1614-0885

DOI

10.1453/1614-0885-2-2023-15742

First published online

Oktober/2023