Von Martina Sauer und Jacobus Bracker
Verehrte Leserinnen und Leser,
2021 statt 2020 hat der 16. internationale und interdisziplinäre Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik zum Thema Transformationen stattgefunden. Bedingt durch die Corona-Pandemie wurde er nicht in Präsenz an der TU Chemnitz durchgeführt, sondern fand online[1] statt. 11 Sektionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus der Archäologie, der Architektur, dem Design, den Digital Humanities, zum Körper, aus dem Bereich Literatur & Jugend- und Subkulturen, Medien, Mode, Umwelt- und Karto/Atlassemiotik und Zeichenphilosophie schrieben dazu je gesondert ein Call for Paper aus.
Die Sektion Bild & Kulturwissenschaft wandte sich an die Forschungsgemeinschaft mit einem deutsch/englischen Call zu Bildern als Agenten kultureller Transformationsprozesse – Images as Agents of Cultural Transformation Processes. Gerade auch Bilder mit dem Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg als Agenten zu verstehen und insofern nicht nur deren Erkenntnis-, sondern auch deren Wirkungspotential anzuerkennen und nachzuvollziehen, stand darin im Fokus. Als aktive Teile von Kultur, vermitteln sie diese nicht nur, sondern regen zugleich zu Handlungen an. Insofern lassen sich Bilder nicht nur als Dokumente und Zeugnisse der kollektiven Geschichte verstehen, sondern übernehmen als Träger und Speicher affektiv wirksamer Kommunikationselemente einen aktiven Part. Als Agenten kultureller Transformationsprozesse nehmen Bilder einen eigenen Status innerhalb des menschlichen Ausdrucks- und Wirkungsvermögens ein. Die Aufsätze in diesem Band legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Leitfaden für die Auseinandersetzung wurden folgende Fragestellungen:
- Wie sind Bilder an der Transformation von Kulturen beteiligt?
- Wie lässt sich die Wirkmacht der Bilder erklären, mit der sie Einfluss auf kulturelle Prozesse nehmen können?
- Woraus konstituiert sich diese Wirkmacht in solchen Transformationsprozessen?
- Wie ist es möglich, dass – wie es bereits Warburg annimmt – Bilder affizierend wirken, vor allem mit Blick auf kulturelle Transformationsprozesse?
- In welcher Weise repräsentieren Bilder kulturelle Transformationen?
- Welche Rolle spielen Bilder in kulturellen und gesellschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen, bedingt etwa durch Globalisierung, Migration, Klimawandel oder sogenannte postdemokratische oder postfaktische Verhältnisse?
- Welche Bedeutung kommt Bildern in Erinnerungskulturen und bei der Transformation von Wissensbeständen zu?
- Inwiefern muss die kulturelle Leistungsfähigkeit der Bilder im Zusammenhang multimodaler Konfigurationen verstanden werden?
Einen zentralen Beitrag, der auch als ein Plenarvortrag für alle Sektionen diente, stellt der Aufsatz von Lars Elleström dar. Lars Elleström ist während der Arbeiten an diesem Band unerwartet und viel zu früh verstorben. Seine wichtigen Arbeiten zur Erzähltheorie und Transmedialität werden weit über seinen Tod hinaus Maßstäbe setzen. In seinem hier posthum veröffentlichten Beitrag geht er der Frage nach, wie wissenschaftliche Artikel in sehr unterschiedlichen Medientypen transmedial nacherzählt werden, wenn also Form und Inhalt wissenschaftlicher Kommunikation auf andere Formen der Kommunikation übertragen werden und exemplifiziert dies am Medientypus Spielfilm und dem Thema Anthropozän.
Sebastían Moreno Barreneche nimmt eine semiotische Analyse eines der fotografischen Werke der Kampagne von Amnesty International Uruguay zu den ›detenidos-desaparecidos‹ [Verhafteten-Verschwundenen] (2012) vor und leistet damit einen Beitrag zur Diskussion über die Rolle der Archivfotografie als wertvolle semiotische Ressource für die Sinnaushandlung in einem sozialen Kollektiv über seine Vergangenheit.
Wie Bilder als Dazwischen verstanden zu Transformationsprozessen beitragen, zeigt Manuela Bünzow mit ihrem Beitrag. Als konkretes, bildwirksames Element übernimmt der Bereich zwischen den Elementen (als Affordanz oder Performanz verstanden) eine eigene Funktion. Es ermöglicht etwa eine Umkehrung der Beziehung und damit der Bedeutungen der Elemente, indem sie etwa aus dem Vordergrund in den Hintergrund rücken, Durchgänge oder Stillstand erzeugen. Es ist die Zusammenführung zweier Ausstellungen in Tallinn 2014 als/in »Closely connected«, die einen bemerkenswerten Widerhall in der Aufarbeitung im Katalog des estnischen Grafikers Indrek Sirkel fand, die für die Forscherin zum Anlass wurde, der Funktion des Da-Zwischen als konstitutiven Moment für das Verständnis von Bildern aufzuarbeiten.
Dass neben qualitativen auch quantitativen Methoden dazu beitragen, kulturelle Transformationsprozesse über Bilder aufzudecken, zeigt der Gemeinschaftsbeitrag von Christina Dörfling und Martin Pfleiderer. Mit ihrer Untersuchung visueller Muster, von Regelmäßigkeiten und Unterschieden bei der Produktion von 797 Schallplattencovern populärer Musik aus den 50er bis 90er Jahren verdeutlichen sie, wie coverspezifische Bildsprachen einen Einblick in das jeweilige Selbstverständnis der Musik geben – sei es indem über sie etwa die Nähe zum Publikum gesucht wird wie im New Wave, Schlager, Pop und HipHop oder wie in den Genres Alternative Rock, Liedermacher oder Folk die Künstler*innen sich in autarke künstlerische Welten zurückziehen.
Der Image-Film der Stadt Ulm in Baden-Württemberg von 2019 »Vielfalt leben in Deiner Stadt«: https://www.youtube.com/watch?v=6Wu7uGXpd7Y, wird für den gemeinschaftlichen Beitrag von Nazli Hodai, Björn Laser und Daniel Rellstab zum Anlass, sich mit den Paradoxien unserer von Diversität gezeichnete Gesellschaft heute auseinanderzusetzen. Anschaulich zeigen sie mit ihrer dekonstruktivistisch verfahrenden Analyse des Films (der narrativen Strukturen, Figuren- und Raumkonzeption, Symbolik – und Musik) wie jegliche vermeintlichen Eindeutigkeiten sich als Utopien entlarven und insofern jenseits möglicher Klassifikationen zu einem Überdenken anregen.
Andreas Schelske arbeitet die Differenzen der Funktionsweisen von einerseits Bildern und andererseits virtueller Realitäten im Zusammenhang mit Praktiken bildunterstützter Erinnerung in Gesellschaften heraus. Der Transformationsprozess, den er darin ausmacht, führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass dort, wo bisher eine gesellschaftliche Wirkmacht des Bildes bestand, zukünftig im holistischen Medium der VR virtuelle Mnemosyne-Realitäten entstehen, die vorrangig immersive und weniger als bildhafte Zeichen für Realitäten oder Simulationen erfahren werden sollen.
Der Frage wie sich Sinn erschließt und Verstehensprozesse angeregt werden, stellt sich auch Kathrin Borg-Tiburcy. Ihr zufolge sind es die Anordnungsrelationen, die für diese Prozesse zentral sind und von ihr in der Analyse von Kinderzeichnungen untersucht werden. Das Anstoßen durch Bildelemente (Farben, Linien, Formen, Größenmerkmalen und Richtungswechsel) von iterierenden und wechselnden Bezügen zwischen produktiven und rezeptiven Anteilen (sehendem Sehen und wiedererkennendem Sehen mit Max Imdahl) scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Wobei sich für sie weiterführende bisher ungelöste Fragen anschließen. Denn was unterscheidet dann eine Kinderzeichnung von einem Bild bzw. von Kunst?
Bilder als Agenten von kulturellen Transformationsprozessen auch im Kunstunterricht bzw. der Kunstvermittlung als bedeutsamen Ansatz vorzustellen, stellt sich Julia Wendemuth mit ihrem Modell für die Kunstdidaktik. Der Aspekt der ›Bildhandlung‹ nimmt darin eine zentrale Stellung ein. Ihr Potential liegt im Bewusstmachen vor allem von künstlerisch-gestalterischer Handlungen, von kommunikativen Handlungen zwischen den Betrachter*innen und von gemeinsamen oder signifikativen Handlungen. Erst das Bildhandeln von Bildern zu verdeutlichen eröffnet, Bilder als Prozesse der Reflexion und des Transfers zu verstehen.
Zhoufei Wang untersucht die Begriffe Kreativität und Mimesis vor dem Hintergrund interkulturellen Bildschaffens. Wie sie je von den Bildpraktiken und den kulturhistorischen Rahmenbedingungen beeinflusst werden ist ihr Thema. Vergleichend kommt dabei die europäische und chinesische Bildtradition bis heute in den Blick, die durch Annäherungsprozesse charakterisiert ist.
Außer der Reihe stellt Martina Sauer in ihrem Online-Vortrag[2] über ›Vitality Semiotics‹ – in Deutsch und Englisch auf YouTube eingestellt – ihren Ansatz zum Verständnis kultureller Transformationsprozesse, wie sie ihn seit 2012 verfolgt, vor. Verdeutlicht wird dieser am Beispiel der Fotoserie »Transformer« von 1973/74 von Katharina Sieverding. Methodisch knüpft sie mit ihrer Analyse der ›lebendiger Formen‹ unmittelbar an den Grundgedanken ›lebendiger Wahrnehmung‹ an, wie er ursprünglich im Hamburger Kreis um Warburg, Cassirer, Werner und indirekt auch von Panofsky vorgestellt wurde.
Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen
Martina Sauer & Jacobus Bracker