Bunte Daten Konzepte und Geschichte(n) der Datenvisualisierung

Von Martin Scholz

Abstract

Datenvisualisierungen sind, auch wenn für uns der digitale Kontext immer mitgemeint erscheint, letztlich eine alte Erfindung der Menschheit und in vielen Kulturen präsent, bspw. als Landkarten, Strömungsarten oder Klimaaufzeichnungen. Erst mit den Massenmedien des 19. Jahrhunderts gelangen diese Darstellungen zunehmend in die Öffentlichkeit. Die damit einhergehende andere Gestaltung – nämlich die für die Nicht-Expert*innen – muss als Entwicklungsgeschichte der Datenvisualisierung entlang der gesellschaftlichen Prozesse verstanden werden. Der emanzipatorische Prozess der zunehmenden Individualisierung führt zwangsläufig zu einer (explosionsartigen) Nachfrage nach einfachen, interaktiven, selbsterklärenden und zugleich verbindlichen Visualisierungsformen im sozialen Alltag. Der Aufsatz macht einen Vorschlag für ein fiktionales Visualisierungswerkzeug, das, ähnlich zu der Perspektivkonstruktion des 15. Jahrhunderts, die Vielzahl der verfügbaren Datensätze in eine einzige Perspektive, eben die des Subjektes, übersetzt.

Data visualizations, even if the digital context always seems to us to be included, are ultimately an old invention of mankind and present in many cultures, e.g. as maps, types of currents or climate records. It was not until the mass media of the 19th century that these depictions increasingly reached the public. The other design that goes along with it – namely that for the non-experts – must be understood as the history of the development of data visualization along social processes. The emancipatory process of increasing individualization inevitably leads to an (explosive) demand for simple, interactive, self-explanatory and at the same time binding forms of visualization in everyday social life.

The essay makes a proposal for a fictional visualization tool that – similar to the perspective construction of the 15th century – translates the multitude of available data sets into a single perspective, precisely that of the subject.

Abbildung 1: Nationalities map no. 1– Polk Street to Twelfth, Halsted Street to Jefferson, Chicago, Norman B. Leventhal Map Center Collection, Boston, https://collections.leventhalmap.org/search/commonwealth:3f4636086

Einleitung

Illustrationen oder Animationen von Datensätzen begleiten die Menschen nicht erst seit der Digitalisierung oder gar der Corona-Pandemie in ihrem Alltag,[1] beides sind eher prominente Beispiele für die Verbreitung der Bildform. Darstellungen auf Basis von Datenerhebungen wurden in einzelnen Bereichen, bspw. der Mathematik oder der Kartenkunde bereits in der Antike oder bspw. in der Klimaforschung mit Beginn des 18. Jahrhunderts angefertigt. Neu sind Datenvisualisierungen also nicht.

Erst mit Aufkommen bildbasierter Massenmedien am Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese spezifischen Bilder in der breiteren Öffentlichkeit jedoch sichtbar. Zunächst durch Printmedien, das Fernsehen und schließlich als beliebige Internetanwendungen wurden sie zu selbstverständlichen Begleitern (und Lenkern) individueller und kollektiver Handlungen, bspw. als stündlich abzufragende Wetterkarte, um die Hitzerekorde im Urlaubsgebiet aufzeigen, durch Umleitungsoptionen für Staus oder als tagesaktuelle Entwicklung des Aktiendepots in Form des Dash Boards.[2]

Diese zunehmend alltägliche und vielfältige Verwendung von Datenbildern repräsentiert damit auch den veränderten Datengebrauch, der sich – sehr vereinfacht – als zunehmende Verantwortungsverpflichtung des Individuums für seinen/ihren Alltag beschreiben lässt. An die Stelle von Traditionen, Regeln, Normen treten zunehmend eine eigenverantwortliche Recherche über die Welt und die sie bestimmenden Faktoren. Daten – verstanden als Aussagen über UND gleichzeitigen Zugang zur Welt – werden bedeutsamer für Individuen und ihre Zukunftsplanung. Als kulturelles Kernmotiv für die Nutzung von Datenvisualisierungen muss gelten: ‚Das Individuum muss sich eigenständig informieren, um zu überleben‘. Denn in einer zunehmend von Daten getriebenen Umwelt (Preisvergleiche, Ressourcenzugänge etc.) bedeutet dieses auch eine zunehmende Interaktionsaufgabe bspw. als Teilhabe, Intervention oder Produktion. Selbst bei der Wahl des Kaffee muss das Individuum Auswahlentscheidungen treffen: Cappuccino, Cappuccino mit Milch oder Hafer oder Reismilch … wer sagt mir, was ich will?

So einfach die Benennung von Einsatzarten für Datenvisualisierungen auch erscheint, so selten wurde die wissenschaftliche Betrachtung – verstanden als Vergleich ihrer Formen und Wirkungsweisen – in der Vergangenheit systemisch durchgeführt. ‚Systemisch‘ meint hier, in Abstimmung mit anderen Bildformen, anderen Gestaltungssystemen und Funktionskomplexen in einer medialen Kultur.

Dieses Manko mag vor allem an der Vielzahl von möglichen Formen und (Daten-)Quellen liegen, die sich einer einfachen Betrachtung entziehen. Bilder von Daten können vielerlei Erscheinungsformen aufweisen: als Zeichnung, als Fotografie, als Collage, als Graph, als Mischung aus Schrift und Flächen, als Animation oder als interaktiven Anwendungen, in der die Nutzer*innen selber zu Kreateuren der verwendeten Darstellungsform werden. Insofern eignet sich eine medientypenbasierte Erklärung der Differenz von Datenvisualisierungen zu anderen Medienformen nicht wirklich: auch eine Fotografie kann eine Datenvisualisierung sein, muss es aber nicht sein.

Andererseits wäre die Fokussierung auf bestimmte Datensätze (also eine quellenorientierte Definition, in der Bedeutung: Daten der Kategorie X müssen immer mit der Visualisierungsform Y dargestellt werden) als Ausgangsbasis für Datenvisualisierungen wenig erfolgversprechend, da Datenvisualisierungen nicht alleinig auf ‚Zahlen‘, sondern auch auf Buchstaben, Worten oder Landschaftsdaten fußen können.

Das Ziel des in diesem Aufsatz skizierten Forschungsvorhabens liegt vorrangig in der Erkundung der historischen, gestalterischen und nutzungsorientierten Entwicklung der Visualisierungsformen von Daten unter einem systemischen Blickwinkel. Unter Vermeidung der medien- oder quellenabhängigen Zuordnungen soll eine übergreifende Visualisierungssystematik gefunden werden, die im Ergebnis vor allem eine Produktionsaussage erlaubt: Wozu führt eine bestimmbare Gestaltung?

Insofern lautet die Forschungsfrage: ‚Wie und in welchen Schritten vollzieht sich die ideengeschichtliche und gestalterische Entwicklung der Datenvisualisierung als originäres Erkenntniswerkzeug im Alltagsgebrauch in der westlichen Kultur?‘

Abbildung 2: ISO 2768-f, Otto-von Guericke-Universität Magdeburg, Master Integrated Design Enginering, https://ide.ovgu.de/Methodenkarten/articles/technische-zeichnung.html

Abbildung 3: DIN ISO 5261, Bauforum Stahl, Arbeitshilfe Konstruktions­zeichnungen, Seite 3, https://bauforumstahl.de/upload/documents/publikationen/arbeitshilfen/Arbeitshilfe_02-12.pdf

Was sind ‚Datenvisualisierungen‘?

In einer ersten Umrundung sollen die Aufgaben und Einsatzfelder für Datenvisualisierungen beschrieben werden. Sie müssen von ähnlichen Bildformen, wie bspw. Illustrationen, wissenschaftlichen Zeichnungen oder technischen Zeichnungen abgegrenzt werden.

Normen

Unter Normen sind gesellschaftliche, technische und/oder materielle Vereinbarungen zu fassen, die – auch wenn sie keine unmittelbaren Sanktionen beinhalten – eine hohe Verbindlichkeit innerhalb der jeweiligen Subkultur/ Disziplin besitzen. Normen bilden die Mindestvoraussetzungen einer Sache ab, bspw. die grundlegenden Leistungen in den Bereichen Sicherheit, Materialeigenschaften oder Lebensdauer. Neben der Schrift werden technischen Zeichnungen in der Vermittlung dieser Mindestvoraussetzungen genutzt, um durch Maßeinheiten, Anordnungen, Distanzen und ggf. Einbau-/Ausbaureihenfolgen dem Abgebildeten eine spezifische Eindeutigkeit mitzugeben.

Das kann bspw. als ISO 17506 – Industrielle Automatisierungssysteme und Integration – Festlegung des COLLADA-Schemas für 3D-Visualisierung industrieller Daten / Ausgabe 2022-03 geschehen. Hierin wird die Visualisierung industrieller Datensätze als Normen selber als Norm definiert. Ein ähnliches Vorgehen findet sich in einer Normspezifikation für medizinische Datensätze, bspw. FD E67-306; FD CEN ISO/ASTM TR 52916:2022-08-03 oder als DIN ISO 18163 (Ausgabe 2017-09), die jene Begriffe und Abbildungsformen festlegt, die im Bereich von virtuellen Systemen für digitale Anproben verwendet werden. Die Normspezifikation beschreibt virtuelle textile Flächengebilde, ihre Eigenschaften, virtuelle Schnittmuster, virtuelle Nahtlinien, virtuelle Kleidungsstücke sowie die Simulation eines virtuellen Kleidungsstücks auf dem Modell eines virtuellen menschlichen Körpers zur Beurteilung der Passform.

Normen müssen nicht notwendigerweise exakt messbare Objektbe­schrei­bungen vorgeben, sondern verstehen sich häufiger als Differenzierungen und Beschreibung von Kategorien in einem Entstehungsprozess. So definiert und zeigt die DIN 199-1 eine erste Unterteilung der technologischen Bilder:[3] Die Zeichnung wird als eine aus Linien bestehende zweidimensionale Darstellung von Gegenständen verstanden, die eine wirklichkeitsnahe Ansicht wiedergibt. Der Fokus der Norm liegt auf der Zweidimensionalität, des Maßstabes sowie der Abbildung des Gegenstandes mit Hilfe von Linien. Damit trennt sie weitere Kategorien ab, insbesondere die technische Zeichnung, die technische Skizze, sowie Plan- und Schemataabbildungen. Die Norm bildet eine (darstellerische) Grundlage für unterschiedliche Aufgaben und Intentionen der Zeichnung. So widerspricht bspw. die Skizze nicht notwendigerweise maßstäblich erstellten Zeichnung. Sie bietet allerdings die Chance in einer frühen Phase der Produktentwicklung, in der die exakten Daten, Maße und Anforderungen noch nicht bekannt sind, diese in ihren möglichen Formen zu entwerfen. Die Skizze zeichnet sich also gegenüber der Zeichnung durch ihren fiktiven, imaginierenden und nicht direkt überprüfbaren Charakter aus. In einem anderen Beispiel zeigt die DIN ISO 5261 unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten von zeichnerischen Symbolen für die Schraubenbohrungen im Material.

Die unterschiedlichen Symbole – es sind die unterschiedlichen Kreuze, Sterne und Fähnchen in der Tabelle – fungieren als Anweisungen zur unterschiedlichen Herstellungsweisen der Werkstücke, z. B. ob es in der Werkstatt oder auf der Baustelle bearbeitet werden soll. In der Zeichnung wird nicht erläutert, wie die Arbeit auszuführen ist, das Bild erfordert an der Stelle weiteres Insiderwissen, allerdings aktiviert die Zeichnung an einer bestimmten Stelle bestimmte (Arbeits-)Routinen.

Die hier ausschnitthaft angesprochenen Normen verfolgen nicht den Zweck, den Produzenten unterschiedliche (visuelle) Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand zu geben. Die Einteilung erfolgt vielmehr aus der Notwendigkeit, CAD-Modelle und Abbildungen so zu strukturieren sowie zu benennen, dass sie standardisierbar sind bzw. der Umgang mit den betreffenden Objekten eindeutig wird. Technische Darstellungen und die sie betreffenden Normen standardisieren weniger die Bildgestaltung selber, als eher den Umgang damit und die vermittelten Bedeutungen, so dass alle Beteiligten dieselben Methoden zur Herstellung, Weiterverarbeitung und Interpretation an¬wenden. Technische Darstellungen behandeln also vor allem Schnittstellenthemen und den verlässlichen Umgang des dort Gezeigten.

Definitionen

Nicht alles muss und kann in einer DIN-ISO hinterlegt werden. Allerdings könnten jene Definitionen weiterhelfen, in denen durch Fachgruppen definierte Konventionen Begriffe präzisiert werden. Zwei Definitionen sollen hier angeführt werden:

Computerweekly.com

„Datenvisualisierung bezeichnet das Übertragen von Informationen in einen visuellen Kontext, wie zum Beispiel eine Karte oder ein Diagramm, um Daten für das menschliche Gehirn leichter verständlich zu machen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Das Hauptziel der Datenvisualisierung ist es, das Erkennen von Mustern, Trends und Ausreißern in großen Datensätzen zu erleichtern. Der Begriff wird oft austauschbar mit anderen Begriffen verwendet, darunter Informationsgrafiken, Informationsvisualisierung und statistische Grafiken.“ Quelle: https://www.computerweekly.com/de/definition/Datenvisualisierung (abgefragt am 10.7.2023)

Wesentlich erscheint in dieser Beschreibung der Redaktion der ComputerWeekly.com, dass Datenvisualisierungen das „… Erkennen von Mustern, Trends und Ausreißern in großen Datensätzen“ erleichtern. Unabhängig von dem konkreten Medium steht die Verwendung sowie das Erkennen im Mittelpunkt und grenzt diese Bildform von anderen Verwendungs- und Rezeptionsformen ab.

tableau.com

„Datenvisualisierung bezeichnet die grafische Darstellung von Informationen und Daten. Durch den Einsatz von visuellen Elementen wie Diagrammen, Graphen und Karten stellt die Datenvisualisierung eine leicht zugängliche Methode dar, um Trends, Ausreißer und Muster in Daten erkennen und verstehen zu können. In der Welt der Big Data sind Tools und Verfahren der Datenvisualisierung essenziell, um große Mengen an Informationen zu analysieren und datengesteuerte Entscheidungen zu treffen. […] Datenvisualisierung ist eine weitere Form visueller Kunst, die unser Interesse weckt und unsere Aufmerksamkeit auf die Aussage richtet. Wenn wir ein Diagramm sehen, erkennen wir schnell Trends und Ausreißer. Wenn wir etwas sehen können, verinnerlichen wir es schnell. Das ist Erzählkunst, die einem Zweck unterliegt.“ Quelle: https://www.tableau.com/de-de/learn/articles/data-visualization (abgefragt am 10.7.2023)

In diesem ‚Online-Handbuch zur Datenvisualisierung‘ wird die Zweckbestimmung in den Vordergrund gerückt. Es geht zum einen um die leichte Erkennbarkeit (Trends, Ausreißer und Muster), und um das Verstehen großer Datenmengen. Interessant erscheint, dass neben dem erwartbaren Hinweis auf die Darstellung durch visuelle Elemente vor allem eine Erzählkunst vorausgesetzt wird, also nicht nur eine nicht-visuelle Strategie eine Bedeutung erhält, sondern zugleich die Aussage betont. So, als wenn Bilder per se keine Aussage besäßen. Offenbar wird der Datenvisualisierung die Darstellung großer Datensätze UND das Verstehen der Zusammenhänge UND die Fokussierung auf Besonderheiten/Ausreißern/Mustern UND die Verinnerlichung der Bedeutung zugesprochen. Erst durch die Narration wird die Abbildungen der Daten zu einer Datenvisualisierung. Insofern können wir vermuten, dass eine Hierarchie existiert, Diagramme, Graphen oder Karten sind Abbildungsformen für Datensätze. Im Zusammenspiel mit einer Erzählung – einem Element, dass weder zu Daten noch zu Bildern gehört – werden diese Abbildungen zu Datenvisualisierungen.

Abbildung 4: Increase Allen Lapham: Sturmrouten in Nordamerika, März, 1850, James Cheshire, Oliver Uberti: Atlas des Unsichtbaren. München 2022, 155

Beispielhafte Abgrenzungen zu anderen Darstellungsformen

Die bisherigen Antworten sind sicherlich nicht vollständig, ähneln sich jedoch bei vertiefter und erweiterter Recherche in der Fachliteratur. Es findet sich letztlich keine vollumfängliche Antwort, was erstaunlich ist, wenn wir davon ausgehen, dass Datenvisualisierungen einen wesentlichen Beitrag zu unserem alltäglichen Miteinander leisten. Datenvisualisierungen beeinflussen in einer westlich geprägten Welt bspw. ob sich Menschen in einer Pandemie sicher fühlen oder ob persönliche Einschränkungen in Bezug auf den Klimawandel akzeptiert werden oder ob Menschen ihr Aktienvermögen umschichten und damit die wirtschaftlichen Kerndaten verändern. Mit Visualisierungen wird Politik, Geschäft, Bildung, und gesellschaftliche Zukunft gesteuert. Erstaunlich bleibt, dass ihre Darstellungsform kaum hinterfragt wird, offenbar kann jede*r machen, wie er/sie es für richtig halten. Die Kerndefinition für Bilder im Allgemeinen findet sich bei Klaus Sachs-Hombach: „Bilder im engeren Sinn sind artifizielle, flächige und relativ dauerhafte Gegenstände, die innerhalb eines kommunikativen Aktes zur Veranschaulichung realer oder auch fiktiver Sachverhalte dienen.“ (Sachs-Hombach 2003: 77)

Unter Berücksichtigung dieser Bilddefinition wird deutlich, dass Datenvisualisierungen immer auch Bilder sind. Sie sind flächig, artifiziell, relativ dauerhaft und dienen in einem Kommunikationsakt der Vermittlung von Sachverhalten. Datenvisualisierungen sind also weder Text, noch individuelle intrapsychische Konstruktion oder das Ergebnis nicht-menschlicher Prozesse. Das erscheint in Hinblick auf die bereits oben erwähnte Absicht/Motiven/Narrationen, wesentlich.

Datenvisualisierungen müssen – so die Hypothese dieses Aufsatzes – als Medien verstanden werden, die vorhandene Daten in Bildformen übersetzen und in einem anschließendem Erkenntnisprozess Wissen erzeugen. Erst die Visualisierung (der Daten) erzeugt bei den Betrachter*innen eine Erkenntnisse, indem sie Verbindungen erzeugt, Differenzen aufzeigt oder eine Ähnlichkeit belegt. Die Datenvisualisierung ist mehr als die reine visuelle Darbietung der Daten oder der von ihnen repräsentierten Sache: Datenvisualisierungen sind Untersuchungs- und Interaktionswerkzeuge. In dieser Hypothese wird deutlich, dass der Zweck der Datenvisualisierungen über die Darstellung (Visualisierung), die Reduktion komplexer Kontexte (Fokussierung der Aufmerksamkeit) sowie der Einbindung in einen Kontext (Narration) hinausgeht.

Das führt sehr schnell zu der Frage, ob eigentlich Computervisualisierungen bspw. Raummodellierung aus der Architektur oder virtuelle Räume automatisch Datenvisualisierungen darstellen? Dafür spräche, dass die Wurzeln dieser Abbildungen numerischer Natur sind. Auf den X– und Y-Achsen werden Punkte definiert, ggf. durch Linien und Flächen miteinander verbunden und auf dem Bildschirm gezeigt. Den Raummodellen liegen programmierte bzw. generierte Ortsdaten, sowie Angaben zu Helligkeits- und Farbwerten zugrunde. Trotzdem sollten solche allgemeinen Computervisualisierungen im Sinne der o.g. Definition nicht als Datenvisualisierungen angesehen werden, denn die Raumdaten (X– und Y-Achse, Farb- und Helligkeitswerte etc.) dienen nur der Herstellung einer Abbildung und nicht der Vermittlung oder Gewinnung einer Erkenntnis. Der Erkenntnisgewinn von Raummodellierungen (seien sie analog oder digital) bleibt also auf die reine Darstellung beschränkt, ohne Kontext zu den Daten. Letztlich sind es Bilder zur Anschauung. Im Übrigen sei der Hinweis erlaubt, dass in dem Fall alle Bilder auf dem Bildschirm damit auch automatisch Datenvisualisierungen wären (technische Darstellung auf der X- und Y-Achse, Farb- und Helligkeitswerte etc.), die sprachliche Unterscheidung hätte damit keinen Mehrwert.

Die Karte mit den Sturmrouten in Nordamerika von Increase Allen Lapham, s. oben, verdeutlicht die hier getroffene Hypothese, dass Datenvisualisierungen mehr sind als Abbildungen realer oder irrealer Natur. Lapham, ein früher amerikanischer Naturforscher, bildete die Daten, aber nicht die Realität (des Sturmes) ab. Stattdessen skizziert er den Weg der Stürme durch Nordamerika, beginnend vom Golf von Mexiko über den mittleren Westen bis zu den Großen Seen an der Grenze zu Kanada. Aus Zeitpunkt und Ort konstruiert er eine (prinzipielle) örtliche Abfolge der Stürme, die sich einmal durch die USA bewegen. Hieraus entwickelt er die Möglichkeit einer Vorhersage, denn wenn im Mississippi-Delta ein Sturm bemerkt wird, ist relativ sicher, dass dieser 24 Stunden später an den Großen Seen auftaucht. Die Narration der Karte ist relativ einfach, eben naturwissenschaftlich: wenn – dann. Genau diese Beziehung entsteht jedoch erst durch diese Visualisierung – auch wenn sie formal bereits in den Datensätzen der bis zu 500 Wetterbeobachter*innen in Laphams Ära bereits vorhanden sind. Erst die visuelle Gesamtschau erschließt das statisch-nachweisbare Prinzip der Sturmwege vom Golf von Mexiko zu den Großen Seen, indem JEDER Sturm diesen Verlauf nehmen wird und die Zwischenstationen an den (Uhrzeit-)Linien abgelesen werden können, insofern eine Hilfe in jeder konkreten Sturmphase möglich wird.

Abbildung 5: Unregelmäßige schiefe Pyramiden mit konvexem (links) bzw. konkavem Polygon, Wikipedia, Ag2gaeh – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=113413553

Historische Dimension der Datenvisualisierungen

Um eine Kategorisierung von Datenvisualisierungen zum Zweck der Gestaltungsproduktion vorzunehmen, erscheint es hilfreich, über den historischen Exkurs zu einer pragmatischen Perspektive zu gelangen: Wie, wurde was, mit welchem Effekt gestaltet?

Autor*innen wie bspw. Barbara Maria Stafford (Stafford 1998) haben sich intensiv mit Abbildungen zur Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse beschäftigt. Als Belege werden hierfür insbesondere Kunstwerke, Drucke und Abbildungen in Unterhaltungsliteratur verwendet, was zu zugleich die eingeschränkte Aussagekraft ihrer Untersuchungen beschreibt. Staffords geht es um die Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in der Kunst Widerhall finden und um die Annahme, dass künstlerische Positionen die Wissenschaften der Neuzeit (17. bis 19. Jahrhundert) beeinflusst haben. Diese These, die – nicht ganz erfolgreich im Fall von Horst Bredekamps These zur Zeichenkunst Galileo Galileis als bildstilgebend für die wissenschaftlichen Erkenntnisse (2007/2013) – verfolgt wurde, versucht künstlerische Produktionskräfte als wesentlichen wahrnehmungsbestimmenden Faktor der Forschung zu deklarieren. Die Kunst, und ihre Gestaltungsmethoden, würde den Inhalt der wissenschaftlichen Erkenntnisse also wesentlich bestimmen. Insofern wäre Forschung das (Teil-)Produkt der visuellen Wahrnehmung und ihrer Mechanismen. Das wertet die Gestaltung, der Kunst, der Gestaltung und der Bilder im Allgemeinen, deutlich auf, würde allerdings bedeuten, dass die Gestaltung letztlich die eigentlichen, häufig sehr unsinnlichen Forschungsergebnisse bestimmt. Am Beispiel von Increase Laphams Sturmkarte für Nordamerika, ist allerdings zu sehen, dass die konkrete Nutzung und damit das Erkennen IN DIESER Karte zwar wesentlich auf der Visualisierung beruht, aber der Kern der Forschung in den rund Wetterdaten der rund 500 Beobachter*innen besteht. Wir dürfen nicht die Anfertigung einer solchen Karte – verstanden als Visualisierung, die auf den Daten basiert – mit der Erkenntnisebene der konkreten Nutzung – die später erfolgt – verwechseln: Ursache und Wirkung müssen auseinandergehalten werden. Die Datenvisualisierung benötigt vor allem die Daten / Fakten als Basis, für die eine visuelle Gestaltung im Nachgang gefunden werden muss.

Autoren wie bspw. Edward Tufte (Tufte 1990, 1997) oder Harry Robin (Robin 1992) haben bereits in den 1990er-Jahren mit einer Systematisierung von wissenschaftlichen Illustrationen bzw. Abbildungen für quantitative Daten begonnen. Dieses bleibt jedoch auf einer vorwiegend visuell-ordnenden Ebene der Kategorisierung verbunden. Offen bleibt damit vor allem, woher diese spezifischen Bilder kommen und was zu ihrer Gestaltung notwendig ist, was sie gegen andere abgrenzt bzw. auszeichnet. Es bleibt in der Regel undeutlich, aus welcher (Bild- und Erzähl-)Tradition die Datenvisualisierungen stammen und mit welchen Motiven sie hergestellt wurden. Edward Tufte untersucht den Zusammenhang von konkreten Daten mit den Wahrnehmungsprinzipien (vgl. Tufte 2001: 177) und entwickelt eine Theorie der Datengrafik (vgl. Tufte 2001: 89ff.). Dieses bleibt allerdings im Thesenhaften, da die gemachten Behauptungen zu den Einzelbeispielen nicht in einer größeren (Bilder-) Gruppe in Hinblick auf das Prinzipielle überprüft werden.

Frühe Formen

Beispiele für Erkenntnisse aus Daten bzw. Erkenntnisgewinn mittels Datenvisualisierung existieren zumindest seit der Antike. In der geometrischen Mathematik kann in der Darstellung selber eine Vielzahl an Erkenntnissen, bspw. die Längen, Winkel oder Flächen von berechneten Objekten abgemessen werden, die in den Ausgangsdaten nicht unmittelbar vorhanden sind. Insofern entsteht erst durch die Zeichnung eine Erkenntnis bzw. bestimmte Überprüfungsformen. In Karten werden Längenangaben, wichtige Merkmale und Kennzeichen aus der realen Welt eingetragen. Dieses führt während der Nutzung zu Aussagen über die Welt, die wiederum auf der Basis einer Zeichnung getroffen werden. Wesentlich ist, dass erst im Abgleich von Karte und Realität, die Erkenntnis entsteht. Die Angemessenheit und Korrektheit hängt jeweils vom Detaillierungsgrad der Ausgangsdaten sowie der Abbildung der Zeichnung (und ihrer Symbole) ab. Elementar sind in Kartenwerken die stillen oder bekannten Symbolsysteme bspw. als Kartenlegende. Die Kartografie hat hier in Spezialbereichen, bspw. in der Entwicklung der Reliefkarte zugleich besondere Gestaltungsformen, z. B. als Schummerung entwickelt, die reale Rezeption mit einer symbolhaften Darstellung verbinden (vgl. Hammer et al. 1997: 11ff.). Die Schummerung imitierte Schattierung von Höhenzügen durch eine fiktive Beleuchtung eines wandernden Tageslichtes in einer Karte. Hierzu nutzt sie neben einem niedrigen Sonnenstand – damit die Schattenseiten der Berge/Täler vollständig gezeigt werden – häufig eine ‚ideale‘ Richtung, die häufig quer zur Hauptachse der Bergrücken verläuft. Die Welt wird also nicht nachgeahmt, sondern symbolisch genutzt, ein Aspekt der sich später bei Erwin Panofsky noch einmal wiederfindet.

Abbildung 6: Neurath Otto and Marie Neurath: ISOTYPE – Verluste im 1. Weltkrieg im Vergleich, Wirtschaftsmuseum Wien: Isotype Collection, University of Reading, PDF-Datei S.14, https://www.wirtschaftsmuseum.at/media/das_wirtschaftsmuseum_bei_dir_zuhause/ISOTYPE_virtuelle_Ausstellung.pdf

Massenaufklärung

In den 1920er-Jahren entstehen visuelle Grafikdarstellungen, die der Massenaufklärung dienen sollen. Sie stehen in der Tradition der Internationalisierung, der Vereinheitlichung von Systemen und der Standardisierung von Kommu­ni­kationssystemen, bspw. der Kunstsprache Esperanto, als Primitivismus in der Kunst oder als Entwicklung von Piktogrammsystemen im Grafikdesign.

Exemplarisch für den Bereich der visuellen Informationsgestaltung – zu der die Datenvisualisierung als Unterform zuzurechnen wäre – steht der Mediziner und Autor Fritz Kahn, dessen bekanntes Plakat Der Mensch als Industriepalast eine Mischung aus Belehrung, Erbauung und Unterhaltung im medizinischen Bereich liefern wollte (vgl. Doudova/Jacobs 2018: 39). Gestalterisch gesehen, sind seine Visualisierungen vor allem Collagen aus Zeichnungen oder Fotografien von (Körper-)oberflächen mit eingezeichneten Strukturen, die vor allem Prinzipien, bspw. der Organe, zeigen sollen. Kahn kombiniert bekannte Oberflächenformen mit unsichtbaren Daten, Kontexten und Zusammenhängen. Insofern entfaltet sich die Bilddidaktik aus der formalen Mischung von Sicht- und Unsichtbarem.

Otto und Marie Neurath verstanden ihre Wiener Methode ausdrücklich als Bildstatistik, d. h. als Transformation von Erkenntnissen – nicht nur der Zahlen, sondern der damit verbundenen Tatbestände – in eine visuelle Form (vgl. Nemeth 2021: 52ff.). Ihr Versuch der Bildung über leicht verständliche Grafiken, die vordringlich Zusammenhänge komplexer Themen vermitteln, bspw. Finanzen, Wirtschaftsdaten oder Krankheitsverläufe, führte zu einer vollkommen eigenen Bildsprache, in denen mittels Piktogramme Erkenntnisse über bspw. den visuellen Mengenvergleich ermöglicht wurden. Für ISOTYPE sind die Visualisierungen und die ihnen zugrundeliegenden Daten immer nur ein Mittel in einer sozialen Gesellschaftsentwicklung (vgl. Neurath/Kinross 2017: 105f.) Erst durch den Aufklärungsgedanken erhalten die Bilder (und die Daten) eine Bedeutung. Ein nicht ungewöhnlicher Gedanke übrigen in dieser Zeit, s. a. die russische Avantgarde der 1920er-Jahre oder Tendenzen im Bauhaus.

Abbildung 7: Ernst Mach: Shock Waves from bulletes, 1888, Stanford University,
http://www.graphics.stanford.edu/~hanrahan/talks/selfillustrating/walk008.html

Fotografie

Ein durch Bilder im Sinne der o.g. Definition ermöglichter Erkenntnisgewinn gelingt auch durch Fotografien. Diese Bildart bildet – technisch bedingt – zunächst die Oberfläche der Dinge ab und tut dieses zugleich als Momentaufnahme. Jenseits attraktiver fotografischer Hintergründe – hier sei an die Fotocollage aus Ziffern, Personen und grüner Einfärbung in der Tradition der Matrix-Trilogie erinnert[4] – und fotorealistischer Formgebung im Zuge der Bildbearbeitung, sind hier historisch vor allem Eadweard Muybridges Chronofotografie zu nennen. Erst durch die Reihenfotografien seiner Kamerabatterien konnten am Ende des 19. Jahrhunderts die exakten Bewegungsabläufe von Menschen bzw. Pferden erkannt und erforscht werden. Hier liefern erst die Fotografien die Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisse.

Ernst Mach, ein anderer Bildforscher der Zeit, verwendete ebenfalls fotografische Aufzeichnungsmethoden zur Erkenntnisgewinnung, bspw. als Nachweise über den Dopplereffekt und die Erscheinung von fliegenden Projektilen. Die Verpressung und Verdrängung der Luft zu Wellen zeigt sich erst in der Fotografie. Nun zeigt sich damit zunächst einmal die Korrektheit der zuvor erstellten Theorie von Ernst Mach, wesentlicher für unser Thema ist, dass erst in der Datenvisualisierung das Gesamtsystem, inkl. Verwirbelungen im Schusskanal, die Ausfransungen an den Randbereichen und Auswirkung der Projektilform erkennbar wird. Erst in der Visualisierung werden alle Daten offenbar.

Abbildung 8: Florence Nightingale: Coxcomb’ Diagram, 1858, Florence Nightingale Museum Collection, Diagram from ‘Notes on Matters Affecting the Health, Efficiency, and Hospital Administration of the British Army’, https://www.florence-nightingale.co.uk/coxcomb-diagram-1858/

Kategoriensystematik durch Verwendungszweck

Harry Robin (Robin 1992) schlägt eine sechsteilige Kategorisierung von wissenschaftlichen Abbildungen vor, die sich entlang der konkreten Verwendung bildet. Streng genommen schreibt Robin über wissenschaftliche Illustrationen, also einen deutlich größeren Kreis als Datenvisualisierungen. Die Kategorien verlassen übliche Zustandsbeschreibungen und gehen über Beobachtung, Induktion, Methodik, Selbstveranschaulichung, Klassifizierung und Begriffsbildung vor allem in die methodische Bewertung sowie die Bedeutungszuordnung der zugrundeliegenden Phänomene. Die Publikation zeigt viele Beispiele, allerdings bleibt die grafisch-gestalterische Einordnung im Sinne der o.g. Definition schwach ausgebildet. Insofern bleibt die Erkenntnis auf (Bild-)Phänomene beschränkt und liefert wenige methodisch-gestalterische Hinweise. Auch bleibt es fraglich, ob die jeweilige Zuordnung der Bilder in bestimmte Kategorien zwingend ist. Höchst unterschiedliche Datenquellen fallen in die gleichen Kategorien, sofern sich ihre Visualisierungsformen ähneln. So geraten bspw. durch Quecksilbertropfen erzeugte Zeichnungen zur Welleninterferenz von Ernst Heinrich Weber und Wilhelm Weber, 1925 (vgl. Robin 1992: 135) in die gleiche Kategorie Selbstveranschaulichung wie die Fotografie eines Baumstamms im Querschnitt (vgl. Robin 1992: 131).

Abbildung 9: Heinrich Berghaus: Umrisse der Pflanzengeographie, 1838, Wikipedia/Heinrich Berghaus, https://commons.wikimedia.org/wiki/File: HeinrichBerghaus­_­-_1838_-_Umrisse_Der_Pflanzengeographie.jpg

Visuelle Statistik

Edward Tufte (Tufte 1990, 1997, 2001) argumentiert deutlich feiner als Harry Robin, denn er bestimmt zumindest Motive, nach denen Bilder hergestellt und genutzt werden, bspw. die gezielte Verwirrung von Betrachter*innen zur Verschleierung von Fakten durch visuellen Müll in Bildern. Insofern kann in seinen Arbeiten eine stärker gestalterische Perspektive gefunden werden, die sich auch auf bestimmte Medienumgebungen, bspw. PowerPoint als Denksystem (vgl. Tufte 2006: 4) bezieht. Der Autor bezieht bestimmte Gestaltungselemente auf bestimmte Wirkungsweisen, stellt also zumindest eine (visuelle) Abhängigkeit von Zeichen und Bedeutung her. Allerdings bleibt auch Tufte bei einer vorwiegend visuellen Betrachtung der Effekte ohne dass eine weitergehende Gestaltungssystematik besprochen wird.

Florence Nightingales Diagramm – ein Polar-Area-Diagramm – der britischen Verluste im Krimkrieg von 1855-1856, wurde 1858 in England veröffentlicht. Der gestalterische ‚Trick‘ besteht in seiner Kreisform, die einen stets wiederkehrenden Zyklus – wie bei einem Rad – suggeriert und zugleich durch den Vergrößerungseffekt – an der Nabe liegende Daten werden kleiner dargestellt, außenliegende hingegen größer – eine Aussage kreiert, die zumindest numerisch angezeigt, weniger dramatisch wäre. Die Übertragung der Daten in diese Form führt, zusammen mit Farbwahl, Proportionen und Distanzen über eine visuelle Kontextualisierung zu einer intellektuellen Verbindung von mangelnder Wundversorgung und Toten. Medizinisch soll das hier gar nicht in Zweifel gezogen werden, aber dieses Beispiel zeigt die Entstehung eigener Vorstellungswelt durch visuelle Mittel auch jenseits des Manipulationsvorwurfes. Die Gestaltung selbst führt zu einem Eigenleben der Bedeutungen in den Betrachter*innen.

Als weiteres Beispiel für eine Visualisierung von Daten zeigt Heinrich Berghaus Darstellung der Pflanzengeographie von 1838. Im 18. Jahrhundert wurden bereits erste Aufzeichnungen und Darstellungen von Klimadaten hergestellt, allerdings beschränkt sich deren Nutzungsbereich auf interessierte Professionelle oder diente zur gezielten Vermarktung der Wissenschaft, bspw. in Form Alexander von Humboldts Klimazonenbilder von 1800, an die sich Berghaus anlehnt. In der Kombination aus Bergtypus und Klimazonen sowie den darin wachsenden Pflanzentypen entsteht ein Blick auf die Welt. Entscheidend sind neben den Größenvergleichen der Berge auch die in der Karte sichtbaren Klimazonen, die mittels farbiger Linien eigene Flächen bilden und damit inkludieren, bzw. anderes ausschließen. Erschlossen wird dieses auch durch eine Legende, die Daten in eine für die Laien handhabbare Form bringt.

Birgit Schneiders Publikation ‚Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel‘ (Schneider 2018) versucht eine Systematisierung von Datenvisualisierungen und stellt dieses an der Entstehungsgeschichte der visualisierten Temperatur- und Klimadaten dar. Offen bleibt, welche gestalterischen Punkte hier eigentliche Verwendung finden, wie sie sich entwickeln und die konkrete Bedeutung vermitteln. Es wird keine semiotische Einordung des Phänomens gegeben, so wird bspw. in der Beschreibung eines Thermometers und der Ausdehnung der roten Flüssigkeit vor einer Zahlenskala (vgl. Schneider 2018: 65) von einer „direkten Visualisierung“ gesprochen und dass die Messanzeige der Instrumente selbstevident sei. Semiotisch betrachtet ist das zweifelhaft, da es eines umfangreichen Verabredungsapparates bedarf, um die hier dargestellten Daten zu verstehen und zu deuten, s.a. das bekannte Beispiel einer Kommunikationsapparatur eines Stausees von Umberto Eco (vgl. Eco 2002: 47). Allerdings, und darin besteht das Verdienst von Schneider, wird die Praxis der Bilder und eine Ästhetik des Wissens gestalterisch beschrieben.

Resümierend zum aktuellen Forschungsstand bleibt weiterhin als blinder Fleck in der bisherigen Forschung zu den Datenvisualisierungen, dass die Bildgestaltung und ihre Entwicklung(en) bisher wenig Berücksichtigung gefunden haben. Es fehlen systemische, und nicht bloß phänomenologische, Erklärungen, wann, wie und mit welchen gestalterischen Entscheidungen ausgestattet, die Daten zu ihrer Visualisierung ‚kommen‘.

Bedarf

Zugleich können wir annehmen, dass der Bedarf für eine systematische Analyse der Datenvisualisierungen in bspw. Medizin, Statistik, Mathematik, Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften hoch ist. Visuell basierte Kommunikationsformen sind und werden zu einem zentralen Faktor in der regionalen, nationalen und globalen Kommunikation, vor allem in Bezug auf Verhaltensweisen des Individuums in heterogenen, diversifizierten und demokratischen Kollektiven, die immer wieder aufs Neue um die Unterstützung ihrer Mitglieder werben müssen. Aktuelle Beispiel sind:

  • die Aussagekraft von Klimadatenbilder als Basis von Politik, der Klimawandelkommunikation und aller gesellschaftlichen Transformationsbereiche.
  • die Gestaltung von Daten-Atmosphären, in denen die subjektive Wahrnehmung der Daten gelingen soll. Dabei geht es nicht um Manipulation oder Propaganda, sondern viel grundsätzlicher um die möglichst neutrale Vermittlung einer gemeinsamen Datenbasis auf der dann kollektiv um den richtigen Weg gestritten werden kann.
  • die Erforschung der Machtfragen in Visualisierung bzw. deren Gegenbewegung z. B. als Counter Mapping oder Kritische Kartografie. Die Abbildung oder Nicht-Abbildung von Sachverhalten führt immer häufiger zu kulturalistischen Reflexen bestimmter Gruppen, die sich nicht gesehen fühlen. Insofern erscheint eine bildgestalterische Aufarbeitung der Möglichkeiten geboten und – im Sinne eines gesellschaftlichen Friedens – hilfreich.
  • die Vermittlung geschichtliche Perspektiven anhand von Datenvisualisierungen kann soziale, gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Entwicklungsschritte aufzeigen. Eine angemessene Form der Visualisierung liefert – über politische und nationale Gruppierungen hinweg – eine allgemeinen Wissensbestandes, ganz im Sinne der der volkspädagogischen Entwicklungen der 1920er-Jahre.

Ein Ausblick

Rahel Estermann schreibt dem Datenjournalismus zwei Kernaufgaben für die Datenvisualisierungen zu:

A. Herstellung einer Evidenz, d. h. die Produktion der Erkenntnisse durch die Visualisierung der Daten selber (vgl. Estermann 2023: 117f.) sowie
B. die Datafizierung, d. h. die Darstellung von Erkenntnissen mit Hilfe von Daten (vgl. Estermann 2023: 138).

In Erweiterung dieser Forderungen und unter Berücksichtigung der in diesem Aufsatz fokussierten gestalterischen Forschungsfragen, lassen sich nun zwei gestalterische Themenbereiche in der Datenvisualisierung formulieren:

1. Wie gelingt – unter Umgehung unzulässiger Simplifizierungen – die Kontextualisierung der Daten über eine visuelle Form?
2. Wie können Daten auch in ihrer Detaillierung gezeigt werden ohne den Überblick zu verlieren, bspw. als Zooming oder Fish-Eye-Techniken?

Eine gestalterische Lösung versucht den Umgang, die Darstellung und die Darbietung der Daten zu ermöglichen, ohne sie verändern oder Auszüge zeigen zu wollen. Die immer auch notwendige Fokussierung in einer Gestaltung auf deutliche Aussagen/Erkenntnisse durch eine Visualisierung, sollte im Fall der Datenbasis eine temporäre, reversible und individuell von den Nutzer*innen bestimmte Form erhalten. So bleibt die ursprüngliche Datenbasis integer und für nachforschende Recherchen jederzeit erhalten, sie vermeidet den Verdacht einer Manipulation der Daten durch den Visualisierungsschritt. Damit wird deutlich, dass sich eine Gestaltung für Datenvisualisierungen nicht auf einzelne Daten, Datensätze oder Einzelthemen fokussieren kann, da sie dort in einer Zeit der überquellenden Datensätze schon für Alltagsdinge vollkommen überfordert wäre. Die Gestaltung muss sich von einer anderen Seite, eben der Herstellung eines interaktiven Anschauungswerkzeuges annähern: eine Art Brille, Fernrohr, Mikroskop, das die abzubildenden Objekte (Daten) im Zeigen formt, ohne sie im Wesen zu verändern. Die Nutzer*innen formulieren ihre Anforderungen bzw. zulässigen Details und können dann ihren (situativen) Nutzen daraus ziehen. Hier versteht sich Gestaltung als Zugang zu Daten und Informationen über die Welt. Diese Gestaltung orientiert sich an der menschlichen Wahrnehmung, bzw. ihren Eigenarten, sattelt auf bekannten Darstellungsformen auf und übersetzt Datensätze in Bilder

Abbildung 10: Jan van Eyck: Madonna des Kanonikus Georg van der Paele, mit Hl. Domizian, dem Hl. Georg und dem Stifter Paele, 1436, Wikipedia / Groeningemuseum, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Jan_van_Eyck_069.jpg

Zur Illustration dieser Position soll hier an ein historisches Vorbild erinnert werden. Erwin Panofsky folgend, ist die Zentralperspektive eine Erfindung des ausgehenden Mittelalters (Panofsky 1998). In ihr werden mathematischer Werte in ein Bild übersetzt, es entsteht eine gemalte Geometrie. Panofsky schreibt die endgültige Fertigstellung dieser, über viele Jahrhunderte entstehenden Erfindung dem flämischen Künstler Jan van Eyck zu, der mit der Madonna von Paele (1436) den gemalten Beweis erbringt, dass eine widerspruchsfreie räumliche Illusion möglich ist und zugleich auf alles Sichtbare in der Welt angewendet werden kann. Wesentlich für die Illusion ist nicht der Detailgrad, die Größe des Abgebildeten oder die korrekte Farbigkeit, sondern die anschlussfreie Fortführung des gemalten Bildraums in den davorliegenden Raum der Betrachter*innen. Wenn das Bild ein Ausschnitt des realen Raums sein kann, wird es als realitätsnahe Erweiterung des Raumes betrachtet (etwas, was im 20 Jahrhundert mit den zeichen- und detailarmen Comics passiert).

Betrachten wir die Erfindung der Zentralperspektive, stellt sie das betrachtende Subjekt in den Mittelpunkt der Konstruktion, das Subjekt definiert den darstellerischen ‚Nullpunkt‘.

„Nicht nur, daß damit die Kunst zur „Wissenschaft“ erhoben war (und für die Renaissance war das eine Erhebung): der subjektive Seheindruck war so weit rationalisiert, daß gerade er die Grundlage für den Aufbau einer fest gegründeten und doch in einem ganz modernen Sinne „unendlichen“ Erfahrungswelt bilden konnte (man könnte die Funktion der Renaissanceperspektive geradezu mit der des Kritizismus, die der hellenistisch-römischen Perspektive mit der des Skeptizismus vergleichen) – es war eine Überführung des psychophysiologischen Raumes in den mathematischen erreicht, mit anderen Worten: eine Objektivierung des Subjektiven.“ (Panofsky 1998: 123)

„[…] aber sie hebt diese Distanz doch wiederum auf, indem sie die dem Menschen in selbständigem Dasein gegenüberstehende Ding-Welt gewissermaßen in sein Auge hineinzieht; sie bringt die künstlerische Erscheinung auf feste, ja mathematisch exakte Regeln, aber sie macht sie auf der anderen Seite vom Menschen, ja vom Individuum abhängig, indem diese Regeln auf die psychophysischen Bedingungen des Seheindrucks Bezug nehmen, und indem die Art und Weise, in der sie sich auswirken, durch die frei wählbare Lage eines subjektiven „Blickpunktes“ bestimmt wird.“ (Panofsky 1998: 123)

Abbildung 11: Masaccio: Dreifaltigkeit, Fresko in Santa Maria Novella, Florenz; Mitte des 15. Jahrhunderts. / Bearbeitet, Wikipedia / Bildende Kunst, https://de.wikipedia.org/wiki/Bildende_Kunst#/media/Datei:Masaccio_003.jpg

Panofsky stellt fest, dass durch diese Erfindung der subjektive Seheindruck rationalisiert wird. Über den Umweg eines objektiven mathematischen Verfahrens können andere Menschen die subjektive Perspektive des Malers teilen, jede der menschlichen (Seh-)Perspektiven könnte konstruiert und damit auch malerisch ausgestaltet werden. Der Mensch steht nicht nur im Mittelpunkt, sondern seine subjektive, private Sicht auf die Welt kann mit Hilfe eines (objektiven) Konstruktionsverfahrens an andere Subjekte vermittelt werden. Durch die Entdeckung der Zentralperspektive im 15. Jahrhundert wurde der subjektive Blick auf die Welt, objektiviert, d. h. nachvollziehbar für fremde Augen. Letztlich sind die Koordinaten im Raum und ihre Abbildung in Gemälden, Fresken, Zeichnungen oder Drucken letztlich Datenvisualisierungen und werden zu einem Werkzeug der Erkenntnis, bspw. als imitierte dreidimensionale Ansicht auf den am Kreuz hängenden Jesus in einem Fresko in Santa Mirai Novella in Florenz.

Wenn also die Zentralperspektive eine methodenbasierte Konstruktion einer beliebigen räumlichen Perspektive bedeutet, benötigen wir ein methodenbasiertes Visualisierungswerkzeug für die digitalen Daten, die uns ebenso umgeben und in der digitalen Welt definieren, wie uns die Zentralperspektive mit seinen räumlichen Daten in der realen Welt verortet.

Literaturverzeichnis

CAVELETI HAMMER, MADLENA; HANS-ULI FELDMANN; MARKUS OEHRLI: Farbe, Licht und Schatten. Die Entwicklung der Reisekartographie seit 1660. In: Cartographica Helvetica, Murten (CH) 1997

CHESHIRE, JAMES; OLIVER UBERTI: Atlas des Unsichtbaren. München [Carl Hanser Verlag] 2022

COMPUTERWEEKLY: Datenvisualisierung. In: Computerweekly, ohne Datum. te https://www.computerweekly.com/de/definition/Datenvisualisierung (10.7.2023)

DOUDOVA, HELENA; STEPHANIE JACOBS, PATRIcK RÖSSLER: Bildfabriken. Infografik 1920-1945: Fritz Kahn, Otto Neurath et al. [Spector Books] Ohne Ort 2018

ECO, UMBERTO: Einführung in die Semiotik. 9. Auflage. [Wilhelm Fink] Paderborn 2002

ESTERMANN, RAHEL: Mit Daten sprechen. Praktiken, Expertisen und Visualisierungsmodi im Datenjournalismus. Bielefeld [Transcript] 2023

NEMETH, ELISABETH: Gesellschaftliche Tatbestände sichtbar machen. Otto Neurath über den Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft und seine Visualisierung. In: Waldner, Gernot: Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath. Wien, Berlin [Mandelbaum Verlag] 2021

NEURATH, MARIE; ROBIN KINROSS; BRIAN SWITZER (Hrsg.): Die Transformierer. Entstehung und Prinzipien von Isotype. Zürich [niggli Verlag] 2017

PANOFSKY, ERWIN: Die Perspektive als ‚symbolische Form‘. In: Panofsky, Erwin; Hariolf von Oberer; Egon Verheyen (Hrsg.): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin [Volker Spiess] 1998, S. 99-167

ROBIN, HARRY: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergraphik. Basel [Birkhäuser Verlag] 1992

SACHS-HOMBACH, KLAUS: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln [Herbert von Halem] 2003

SCHOLZ, MARTIN: Technologische Bilder. Aspekte visueller Argumentation. Weimar [VDG Weimar] 2000

SCHNEIDER, BIRGIT: Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel. Berlin [Matthes & Seitz] 2018

STAFFORD, BABARA MARIA: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung. Amsterdam, Dresden [Philo Fine Arts] 1998

TABLEAU: Handbuch zur Datenvisualisierung: Definition, Beispiele und Lernressourcen. In: Tableau, ohne Datum. https://www.tableau.com/de-de/learn/articles/data-visualization (10.7.2023)

TUFTE, EDWARD R.: Envisioning Information. Cheshire, Connecticut (USA) [Graphics Press] 1990

TUFTE, EDWARD R.: Visual Explanations. Images and quantities, evidence and narrative. Cheshire, Connecticut (USA) [Graphics Press] 1997

TUFTE, EDWARD R.: The visual display of quantitative information. Cheshire, Connecticut (USA) [Graphics Press] 2001

TUFTE, EDWARD R.: The cognitive style of PowerPoint: Pitching out corrupts within. Cheshire, Connecticut (USA) [Graphics Press] 2006

Fußnoten

1 Die Simulation eines Virus-Ausbruches, bspw. Simulation of tactics against Coronavirus by Washington Post. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=FsIGn5w0AKQ

2 Dynamisches Dashboard eines beliebig zusammenzustellenden Aktienfonds, bspw. https://finviz.com/map.ashx

3 Siehe hierzu auch: Scholz, Martin: Technologische Bilder. Aspekte visueller Argumentation. Weimar 2000.

4 Gemeint sind die emblematischen Endszenen aus dem Film Matrix von Lana und Lily Wachowski aus dem Jahr 1999. Bspw. https://film-bunker.com/2019/04/03/deep-dive-the-matrix-1999/


About this article

Copyright

This article is distributed under Creative Commons Atrribution 4.0 International (CC BY 4.0). You are free to share and redistribute the material in any medium or format. The licensor cannot revoke these freedoms as long as you follow the license terms. You must however give appropriate credit, provide a link to the license, and indicate if changes were made. You may do so in any reasonable manner, but not in any way that suggests the licensor endorses you or your use. You may not apply legal terms or technological measures that legally restrict others from doing anything the license permits. More Information under https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en.

Citation

Martin Scholz: Bunte Daten. Konzepte und Geschichte(n) der Datenvisualisierung. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 38, 19. Jg., (2)2023, S. 127-148

ISSN

1614-0885

DOI

10.1453/1614-0885-2-2023-15744

First published online

Oktober/2023