Von Swantje Martach
Abstract
Das vorliegende Paper befasst sich mit dem konzeptionellen Unterschied zwischen der Kunst, die im Bereich der Augmentierten Realität (AR) betrieben wird, und jener Kunst, die im Bereich der Augmentierten Virtualität (AV) betrieben werden wird. Zu diesem Zwecke wird die Distinktion von „Objekt“ und „Raum“ zu Rate gezogen, welche im epistemologischen Sinne als „Fokus“ und „Feld“ umgedeutet wird. Dies erlaubt die Erkenntnis, dass in der AR-Kunst die übliche Hierarchie bestehen bleibt: Der Fokus ist das Kunstwerk, das Feld bleibt der Rahmen. Dahingegen dreht die AV-Kunst eben jene Hierarchie um: Hier wird das Feld zur Kunst, und der Fokus zum Rahmen. Daher bedarf AV-Kunst eine gänzlich andere kunsttheoretische Analyse, für welche die Tradition des objet trouvé als sinnig postuliert wird.
The present paper deals with the conceptual distinction between the art that is created in the realm of augmented reality (AR), and the art that will be created within augmented virtuality (AV). For this purpose, it discusses and epistemologically re-works the dichotomy of “object” and “space” into “focus” and “field”. This allows to argue that AR-art maintains the conventional hierarchy: The art lies in the focus; the field remains the frame. Yet crucially, AV-art turns this hierarchy around: Here, the field becomes art; and the focus turns into frame. Therefore, AV-art affords an entirely distinct art-theoretical analysis, for which the tradition of the “objet trouvé” is postulated as meaningful.
1. Einleitung
Die Sonderausgabe der IMAGE, in welcher dieser Text erscheinen darf, beansprucht für sich als einen Neuheitswert die differenzierte (bildtheoretische) Betrachtung des Phänomens der Augmentierten Virtualität (von nun an abgekürzt als ‚AV‘). Allerdings lässt sich beim Einlesen in den Literaturkörper ihres bereits vermehrt theoretisierten Nachbarphänomens der Augmentierten Realität (von nun an ‚AR‘) relativ rasch erkennen, dass in jenem das Phänomen der AV bereits mitbehandelt wurde: Auch wenn die Theorie der AV als gesonderte Kategorie auf dem „virtuality-reality continuum“ (Milgram/Kishino 1994) bisher eher spärlich in Texten vorliegt, so wurde AV bereits als Untersparte der AR wahrgenommen, eingeordnet und diskutiert. Bereits 2011 unterschieden bspw. Hughes et al. „incrusting virtual objects in/on real images“ (Hughes et al. 2011: 10, was hier als AR bezeichnet wird) von „incrusting real objects in/on a virtual environment“ (ebd.: 11, und darin genau besteht die AV so wie sie hier verstanden werden soll) in ihrer Taxonomie der AR. Somit bedarf das Konzept ‚AV‘ eingängiger Beleuchtung, anhand derer sich zeigen wird, ob es bestehen bleiben kann. Die Beleuchtung des Phänomens AV hingegen bedarf vorerst einem Spurenlesen in der vorliegenden Literatur zur AR, was auch in Vorbereitung des nun vorliegenden Texts unternommen wurde.
Dieser Text widmet sich dabei einer konkreten Praxis, welche in den hier als benachbart verstandenen Bereichen AR und AV betrieben wird bzw. betrieben werden könnte: der Kunst. Ich schreibe teils im Konjunktiv, da ich bisher keinerlei konkrete Beispiele für AV-Kunst ausfindig machen konnte – weder Beispiele für explizit als AV-Kunst betitelte AV-Kunst, noch für AV-Kunst, die als Untersparte von AR-Kunst betitelt, betrieben und verstanden wurde/wird. An dieser Stelle möchte man mich eines Besseren belehren. Dennoch werde ich AV-Kunst hier (wenn auch nur spekulativ bzw. auf Basis anderer Anwendungsgebiete der AV wie das des contextualized tasting, siehe INVRSION 2021, welche erschließen lassen wie AV-Kunst beschaffen wäre bzw. sein wird ) behandeln, da ich argumentieren werde, dass sie einen interessanten, weil kunsttheoretisch von der AR-Kunst abweichenden und bildhistorisch relevanten Ansatz erfordert. Es ist zu hoffen, dass der vorliegende Text eine generative Funktion einnehmen und zur praktischen Implementierung von AV-Kunst beitragen wird.
2. Methodische Trennungen
Zwei Distinktionen in der Terminologie liegen dem Ansatz dieses Texts zugrunde: der Unterscheidung von ‚virtuell‘ versus ‚real‘ (wie bereits den Schlüsselbegriffen AR und AV innewohnend), und der Unterscheidung zwischen ‚Objekt‘ (darunter fällt auch: Mensch, wobei ich mich ontologisch auf Graham Harman beziehe (vgl. Harman 2016), bzw. kreierte menschenähnliche Gestalt) und ‚Raum‘. Beide Distinktionen sollen nun besprochen werden.
Ontologisch erscheint die virtuell-versus-real Unterscheidung als unhaltbar. Wird die Realität als die Summe alles Existierenden definiert (wie es etwa Hughes et al. getan haben, vgl. 2011: 2), so fällt das Virtuelle, sobald und solange es existiert, auch in die Kategorie des Realen. Zu sagen, dass das virtuell Reale (Virtualität) eine neue Form von Realität darstellt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie durch technologische Mittel ermöglicht wird, ist in diesem Sinne ebenfalls schwer argumentativ zu behaupten, denn heute ist auch das reell Reale (Realität) in seinem Gestalten und Erleben zumeist gekoppelt an technologische Mittel (siehe dazu Sektion 4.3 in diesem Text). Dementsprechend ist nicht nur jegliche Virtualität real, sondern auch jegliche Realität virtuell. Virtuelle Realität (von nun an: VR), als das Phänomen, welches sich am einen Ende des Kontinuums gemischter Realitäten befindet (vgl. erneut Milgram/Kishino 1994), und als Phänomen, welches im vorliegenden Text noch von Bedeutung sein wird (vgl. Sektion 4.2), kann demnach nur als historische Distinktion heutiger von ‚Prä-virtueller Realität‘ fungieren.
Des Weiteren ist auch die Unterscheidung zwischen Objekt und Raum sicherlich ontologisch hinfällig, welche in der Literatur der AR und VR (und ich denke bald auch AV) Anwendung findet (finden wird). Ich beziehe mich hier beispielsweise auf Manovich’s Dualismus „information“ versus „spatial form“ (Manovich 2002: 1), Hughes et al.’s „entity“ versus „image“ (Hughes et al. 2011: 5), Pucihar und Kljun’s „elements“ und „world“ (Pucihar/Kljun 2018: 75), oder Garbe’s „piece“ und „spaces“ (Garbe 2018: 173). Aus was besteht der Raum, wenn nicht aus Objekten (auch hier stütze ich mich auf Graham Harman’s Objekt-Orientierte Ontologie, akzessibel zusammengefasst in Harman 2016: 106-107)? Der Raum, das kann sein: Fenster und Wände und Türen, oder Bäume und Steine und Vögel, und selbst wenn der Raum, wie oft im Bereich der VR, nur aus Farbverläufen besteht, so können auch diese als Objekte erfasst werden (etwa: rot und grün, oder ein Blau-Rosa-Verlauf).
Die Unterscheidung zwischen Objekt und Raum kann also immer nur epistemologisch gemeint sein, d.g. in ihr muss sich ein wahrnehmungstheoretischer Ansatz vollziehen. Mit anderen Worten handelt es sich bei Objekt-versus-Raum um die Trennung von Vordergrund versus Hintergrund. Die dieser Unterscheidung innewohnende Frage ist: Worauf liegt der (bzw. sogar: ein) Fokus, nämlich: jetzt gerade? Das, was Objekt ist, und das, was Raum ist, kann im nächsten Augenblick, oder im Blick eines nächsten Auges, schon etwas anderes sein. Objekt und Raum sind also ‚Rollen‘, so könnte man sagen, in die und aus denen heraus Objekte schlüpfen können wie in einem Theater.
Ontologisch ist also Virtuelles immer schon Reales, und Raum immer schon und immer aus Objekt. Bleiben wir in der Ontologie, so lässt sich AR nicht von AV unterscheiden, womit wir wieder bei der Behandlung von AV als AR angekommen wären, wie sie in 1. beschrieben ist. Doch dieser Text, als Teil dieser IMAGE-Ausgabe, möchte genau jenes tun: AV von AR unterscheiden, um dann AV als eigenständiges ‚Phänomen‘ (wenn auch nur verstanden als Realität-wie-betrachtet, und eben nicht als Realität an und für sich, vgl. Kant 1919) diskutieren zu können, d. h. ein konkretes Phänomen, das im Bereich AV entstehen könnte: AV-Kunst. Die blanke ontologische Tatsache, dass es Kunst schon in der AR gibt, jedoch noch nicht in der AV, lässt die Unterteilung von AR und AV bereits nötig werden.
Wie auch Hughes et al. schreiben, ist eine Augmentation von Realität (zur Erinnerung: als Summe alles Existierenden, siehe oben) streng genommen nicht möglich, da jegliche Aktion der Augmentation bereits im Realen geschieht. In diesem Gedankenstrang ist auch ‚Augmentierte Realität‘ ein fehlleitender Begriff. Ob ‚Augmentierte Virtualität‘ als letzter Begriff der hier behandelten Dreiteilung (VR, AR, AV) diesen Überlegungen standhalten kann, bleibt in einem anderen Ansatz vertiefend zu diskutieren. Etymologisch stammt das ‚Virtuelle‘ von der Proto-Indoeuropäischen Wurzel ‚vir‘ ab, was schlicht ‚Mensch‘ bedeutet. Später wurde daraus im Lateinischen die ‚virtu‘, was eine besondere Kraft oder Tugend beschrieb. Somit kann das Virtuelle wortwörtlich als eine besondere menschliche Kraft angesehen werden (in einem humanistischen Denkkonstrukt verbleibend), oder zumindest als etwas, das vom Menschen gemacht wurde (d. h. ohne menschliches Dazutun nicht Teil dieser Welt wäre) und eine besondere Kraft besitzt. Und rein logisch hergeleitet ist eine Augmentation, d. h. eine Anreicherung und Intensivierung jener durchaus möglich.
Zurück zu Hughes et al. ist also das, was augmentiert werden kann, nicht die Realität, sondern allein die Wahrnehmung von Realität (vgl. Hughes et al. 2011: 2). Daraus folgt, dass de facto keine Objekte augmentiert werden können, sondern nur, so möchte ich vorschlagen, Wahrnehmungsfokusse und -felder. In der AR werden Wahrnehmungsfokusse augmentiert, d. h. das, worauf die Betrachterin ihren Fokus lenken soll, ist augmentiert; in der AV wird das Wahrnehmungsfeld augmentiert, d. h. alles das, was sich um den Fokus herum befindet und nicht anvisiert wird, sich aber dennoch im Wahrnehmungsfeld befindet. Wenn also Zuniga Gonzalez et. al. eine zusammenfassende Unterscheidung von AR und AV auf der Basis von Objekt und Raum vornehmen (vgl. Zuniga Gonzalez et. al. 2021), die sich in folgende Formeln bringen lässt:
AR = virtuelles Objekt + realer Raum
AV = reales Objekt + virtueller Raum;
möchte ich in epistemologischer Weiterführung dieses Gedankenguts und um der ontologischen Debatte der verwendeten Begrifflichkeiten genüge zu leisten hier folgenden formalen Chiasmus vorschlagen und verwenden:
AR = augmentierter Wahrnehmungsfokus +
nicht-augmentiertes Wahrnehmungsfeld
AV = nicht-augmentierter Wahrnehmungsfokus +
augmentiertes Wahrnehmungsfeld.
In Form der hier behandelten Dualismen-Paare (aus-)gedrückt, erscheint AV als eine bloße Inversion von AR. Jedoch bedeutet diese Inversion für die Kunst gänzlich andere Praktiken: Die künstlerische Aktion der AR-Kunst besteht in einem Kreieren von virtuellen Wahrnehmungsfokussen, welche in realen Wahrnehmungsfeldern positioniert werden; die künstlerische Aktion der AV-Kunst würde jedoch in der Gestaltung von virtuellen Feldern liegen, in welche reale Fokusse gesetzt werden. Erneut in Formeln gefasst:
AR = geschaffener Wahrnehmungsfokus +
selektiertes Wahrnehmungsfeld
AV = selektierter Wahrnehmungsfokus +
geschaffenes Wahrnehmungsfeld.
Was dieser praktische Unterschied für die Kreation und Rezeption von Kunst konkret bedeutet, soll in den folgenden Sektionen erarbeitet und besprochen werden. Diese Sektion diente der Betonung der rein methodischen, funktionalen Natur der terminologischen Trennungen auf denen dieser Text basiert, welche keinen ontologischen Wirklichkeitsanspruch besitzen, sondern als methodisch stets offen für Anpassungen an den konkreten epistemologisch gesetzten Anschauungsrahmen bleiben.
3. AR-Kunst
3.1 Der Wahrnehmungsfokus als Lokus der AR-Kunst
In der AR-Kunst bleibt das kunsthistorisch konventionelle Hierarchieverhältnis (hier aus der Malerei gezogen) von Leinwand (als Lokus des Werkes) und Rahmen (als bloße Grenze, wenn nicht konkret thematisiert) erhalten: Das Feld ist der Rahmen; der Fokus bleibt die Kunst. Im Bereich der AR-Kunst ist also der von der Künstlerin für die Betrachterin intendierte Wahrnehmungsfokus der Teil des Werkes, welcher auf künstlerische Weise hergestellt bzw. manipuliert worden ist. Somit kann hier der Wahrnehmungsfokus als Kunst interpretiert werden.
Konkrete kunsttheoretische Analysen des Fokusses bleiben abhängig von den Methoden, die zu seiner Kreation angewandt wurden. Wenn bspw. MARC-O-MATIC sein Gesicht in den sozialen Netzwerken ausschließlich als illustriertes Konglomerat aus Gebäudeteilen zeigt (siehe @marcomatic auf Instagram, bspw. post vom 07.10.2022), so lässt es sich mit anderen Illustrationsstilen vergleichen. Und wenn Susi Vetter eine Art ‚Strichfrauchen‘ auf ihrer heimischen Yogamatte den herabschauenden Hund vollführen lässt (siehe Instagram, @susivetter, 03.05.2020), so schlage ich zunächst vor sich diesen mithilfe von Werken aus den Bereichen Karikatur, primitiver bzw. kindlicher Kunst angenähert werden.
Dass AR-Kunst sich aber nicht in einem Einfügen von virtuellen Wahrnehmungsfokussen in reale -felder erschöpft, hat bereits AR-Künstler Mark Skwarek mit seinem Tool „erasAR“ gezeigt, dessen Augmentation darin besteht, bestimmte Fokusse aus Feldern zu entfernen. Skwarek’s bekannteste Ausradierung ist wohl die der Freiheitsstatue in New York, von der in der erasAR-Applikation nur noch der Sockel stechen bleibt. Doch auch unter Einbeziehung von Skwarek’s Werk bleibt die oben vorgeschlagene Formel für AR-Kunst gültig: Auch im Falle von erasAR ist das, was augmentiert wird, der Wahrnehmungsfokus. Allein die zur Augmentation verwendete Methode (Ausradierung) weicht von den vorherig besprochenen ab, wie auch diese untereinander abweichend sind.
Man könnte sogar davon sprechen, dass Skwarek’s Methode der Ausradierung eine gesteigerte Form der Augmentation darstellt, da sie nebst der Augmentation des Wahrnehmungsfokusses (bspw. Freiheitsstatue) auch die Augmentation des Fokussierens bewirkt. Swarek’s Ausradierung löst ein Stutzen, verschärftes Hinsehen, und ein Augen-Zusammenkneifen seiner Rezipientin aus, welche er an der eigenen Nicht/Wahrnehmung des augmentierten Fokusses zweifeln lässt. Die Diskussion, ob Ausradierung vielleicht noch augmentierter augmentiert als andere Augmentationsmethoden soll jedoch einer gesonderten Besprechung von erasAR überlassen werden.
3.2 Wahrnehmungsfelder der AR-Kunst in Abhängigkeit zu ihren Fokussen
In der Besprechung von AR-Kunst liegt der Wahrnehmungsfokus also wieder im Vordergrund. Doch eben weil AR-Kunst in einem Lokalisieren von künstlerisch gestalteten Fokussen in üblichen und somit austauschbaren Feldern besteht, verleitet AR-Kunst uns dazu, Wahrnehmungsfelder bei Ihrem Besprechen nicht zu thematisieren. Wie AR-Künstlerin Tamiko Thiel schreibt, wird das Feld nur als „context“ und „canvas“ wahrgenommen, die die AR-Kunst sich zu eigen machen und ausnutzen kann („exploits and appropriates“, Thiel 2018: 43).
Eine feministische Aktion dieses Texts besteht also darin, die als Hintergrund der AR-Kunst dienenden Felder ebenfalls zu besprechen, nämlich auf eine Art und Weise, die der Behandlung der Fokusse von AR-Kunst gleichwertig ist, ihr jedoch nicht gleicht. Es ist also nicht das Anliegen dieses Texts, die in der AR-Kunst partizipierenden Felder in den Vordergrund zu rücken, denn hierdurch würden sie ihren Status als Felder verlieren und zu Fokussen werden, was den Weg zur AV-Kunst ebnen würde. Die methodische Krux, die mit dem in Sektion 2 erarbeiteten rein epistemologischen Analyseansatz von AR/AV einhergeht, ist es vielmehr, die Felder der AR als Felder zu analysieren, um sie eben nicht zu augmentieren. Das Verschwimmen von Wahrnehmung und Technologie beginnt sich hier bereits abzuzeichnen.
Wie können Felder als Felder kunsttheoretisch interpretiert werden? Die angebrachte Methode gleicht einem Hinschauen-ohne-Hinzuschauen. Gefordert ist hier kein Sträuben gegen den vom Künstler-Bild-Konglomerat intendierten Fokus und dessen Vormachtstellung gegenüber dem Feld, sondern ein ‚auch‘. Ein dem Fokus Vorrang gewähren, um dann, zeitlich versetzt, den Winkel zu weiten und auch den Fokus-im-Feld, aber nie das Feld-ohne-Fokus wahrzunehmen, denn ohne Fokus tritt das Feld im Bereich der AR ja aus der Kunst heraus, d. h. zumindest aus der AR-Kunst.
Jede Analyse des Feldes muss in der AR also in Bezug auf den augmentierten Fokus erfolgen. Am Beispiel von MARC-O-MATIC’s post vom 25.11.2018 veranschaulicht: Ich sehe ein Küchenmesser, dessen Klinge allein augmentiert ist. Ich tauche ein in die Welt, die mir diese künstlerisch-illustrierte Augmentation eröffnet. Ich sehe eine Großstadt am Meer. Züge, Autos, Busse fahren die Klinge entlang, fahren plötzlich mitten im Meer. Die filmische Abfolge wiederholt sich. Nun weite ich meinen Blickwinkel, sehe auch das Messer, die längliche Form seiner Klinge (war sie es, die MARC-O-MATIC zu dieser Augmentation inspirierte?), seinen hochwertigen Holzgriff, dessen Farbton sich im Gebäude ganz rechts, fast an der Messerspitze, zu wiederholen scheint. Warum eine Stadt in einem Messer? Was hat den Künstler dazu verleitet diese Augmentation in bzw. auf die Klinge zu legen? Das Messer wird zum Fenster, welches auf die Stadt zeigt. Das Messer hat in seiner spitz zulaufenden Form etwas Zeigendes. Der Holzgriff am literarisch linken Anfang der Stadt kreiert eine Natur/Kultur Dichotomie, welche dadurch verstärkt wird, dass die Wellen stets vom Messergriff auszugehen scheinen.
Dann sehe ich das Messer auf Eukalyptuszweigen drapiert. Warum liegt es hier? Das augmentierte Messer könnte wie eine Blume als Highlight in einem Strauß gedeutet werden, umgeben von zweitklassigem Grünzeug. Hiermit würde das Werk der von der AR-Kunst aufrechterhaltenen Hierarchie von Fokus > Feld entsprechen. Genauso gut könnte Eukalyptus als Trendpflanze aber auch ein piktoriales Aufwerten des ordinären Küchenwerkzeugs Messer bewirken wollen (diese Vermutung wird bestärkt durch die aus dem Subtext zu entnehmende Information, dass dieses Werk aus der Zusammenarbeit des Künstlers mit einem auf Instagram aktiven Messerhersteller entstanden ist). Die Zweige zeigen wirr in alle Richtungen, und scheinen sich mit dem Holzgriff des Messers zum Konzept ‚Natur‘ zu verbinden. Der Griff wird in diesem Moment zur Schwelle zwischen Fokus und Feld, Teil des Messers aber nicht ganz Messer, auch: da nicht augmentiert.
Allerdings steckt das Messer nicht aufrecht als Blume in den Zweigen, was ein Strauß erfordern würde, sondern es liegt auf den Zweigen, ähnlich kirchlich-festiver Kontexte, in denen die Bibel zwischen Gestecktem auf dem Altar drapiert wird, Eheringe auf einem Bouquet bereitstehen, oder der Grabstein zwischen Blumen hervorragt. Auch drängt sich die Redewendung ‚auf Rosen gebettet sein‘ auf: Das Messer ist auf Eukalyptus gebettet. Als Bett fungierend ist der Eukalyptus etwas weiches, wodurch er verstärkt durch seine runden Blätter als Gegensatz zum scharfen und spitzen Messer und der Härte der in ihm enthaltenen Stadt erscheint. Als ätherisches Öl findet der Eukalyptus auch Anwendung in der Entfernung von Bakterien und zum Lösen von als dreckig erachteten Rückständen, weshalb er auch für die Sauberhaltung des Messers, der Stadt, des zivilen Lebens stehen könnte.
Schließlich befindet sich das Stadt-Messer-Zweige-Konglomerat in einer schwarzen Umgebung. Diese kann im Sinne von Tod und Ruhe als Gegensatz zum bunten und lebendigen Treiben der augmentierten Stadt gedeutet werden, wobei das Messer dann (als Selbst/Mordinstrument?) den Übergang von Treiben zu Tod, Tag und Nacht, der Augmentation und ihrem Ende markieren würde. Oder aber die Schwärze der Umgebung betont die Bedrohlichkeit der Großstadt, wodurch sich Stadt und Schwarz zu einer Einheit zusammenfügen würden. Auf wessen Seite steht der Eukalyptus? Ist er eine Versöhnung mit und in der Natur? Oder verstärkt er durch die Unordentlichkeit seiner Zweige noch die Bedrohlichkeit, die von diesem Werk ausgeht? So oder ähnlich könnte eine ikonographische Interpretation des Fokus-Feld-Verhältnisses in der AR-Kunst ansetzen.
3.3 Die Transitive Weise der AR-Kunst
Es stellt wohl eines der Herausstellungsmerkmale von AR-Kunst da, dass sie ihre Fokusse in endlos neue Felder entäußern kann: „expressing the piece onto spaces“ (Garbe 2018: 173), der Fokus im Singular, das Feld im Plural. Auch während MARC-O-MATIC’s zuletzt beschriebenen posts springt sein augmentiertes Messer vom Eukalyptus-in-Schwarz zu einer schlichten weißen Unterlage (ein Küchenbrett? ein Schreibblock?). Während das Messer im Schwarz noch die Besonderheit des Drapiert-Worden-Seins innehat (ein ‚extra-dafür‘), wird es im Weiß, auf dem sich ebenfalls andere Alltagsdinge befinden, von der Hand des Künstlers einfach gegriffen und uns aus diversen Perspektiven gezeigt. Ich möchte das Schwarz hier als Undurchsichtigkeit (ein Tappen-im-Dunkeln) deuten, welche der Kunst bisher innewohnte, und das Weiß als gewählt für Erkenntnis, Zugänglichkeit, aber auch Üblichkeit. Die Augmentation selbst wird hier die Schwelle zwischen Kunst und Alltag, ganz im Sinne Deweys’s Verständnis von Kunst als dem Alltag verhaftet (vgl. Dewey 2005: 2).
Direkt nach dem Sprung von schwarz zu weiß (ein Kontrast, der hier als bewusst unterstellt wird) entsteht Wind in der Stadt des Messers, der über die Schwellen der Klinge hinaus und über die weiße Unterlage weht. Die Augmentation tritt über seine eigenen und die bisherigen Grenzen der Kunst (das Messer) und in den Alltag hinein, und zeigt dadurch: AR-Kunst hat räumlich nur die Grenzen des Mobilfunknetzes. Wie es im AR Art Manifesto der Gruppe Manifest. AR heißt: „Anything is possible — Anywhere!“ (Skwarek et al. 2011). Damit öffnet AR der Kunst völlig neue Möglichkeitsfelder und eine noch nie dagewesene Dynamik in der Mobilität (vgl. Hjorth et al. 2020).
Die Frage ‚Wie viele Felder kann die AR-Kunst mit ihren Augmentationen besiedeln?‘ verläuft sich also im Unendlichen. Durch AR wird die ganze Welt zur Kunst, und die Welt wird eine andere durch AR-Kunst: “inviting a model of the world as not one in which art happens, but one which is conditionally defined and experienced as an integrative work of art“ (Garbe 2018: 181). In seinem Text auf der Website von erasAR geht Skwarek sogar noch einen Schritt weiter, denn er sieht seine Kunst nicht an materielle Gegebenheiten gebunden: „The erasAR project will also erase ideas like people’s dreams“ und ebensowenig an diesen Planeten: „The erasAR project is an augmented reality art work which will erase different objects from the face of the earth [but not limited to the earth]“ (Skwarek n.y.: n.p.). Vielleicht kann das Feld der AR-Kunst am ehesten beschrieben werden als ein großes ‚Und‘.
Auch die Frage ‚In welche Felder projiziert AR-Kunst ihre Augmentationen?‘ verliert hier an Bedeutsamkeit. Um sie dennoch kurz zu besprechen: Meine Recherchen ergaben, dass die Augmentationen oft im Künstler-eigenen Zuhause lokalisiert werden. Susi Vetter zeigt ihre Strichfrauchen-Augmentation auf dem Sofa sitzend (post vom 29.03.2020), Yoga machend (03.05.2020), tanzend (07.05.2021), Klavier spielend (21.08.2022) stets in häuslichen Umgebungen, was laut der Künstlerin durch die Situation des Lockdowns hervorgerufen wurde (sie nennt das Strichfrauchen ihr „lockdown-me“, siehe alle erwähnten posts). Und auch MARC-O-MATIC zeigt sein Gebäude-Gesicht oft im, so vermute ich, eigenen Zuhause, etwa in seiner Küche (post vom 31.05.2021) oder im Dämmerlicht vor einem Sofa (siehe posts vom 17.09. und 07.10.2022).
Ein weiteres übliches Feld, in das AR-Kunst ihre Augmentationen projiziert, sind urbane „Nicht-Orte“, wie ich sie nach Augé (1994) nennen möchte. Susi Vetter’s riesiges Lebkuchenmännchen tanzt auf einer befahrenen Berliner Straßenkreuzung (siehe post 18.12.2022). In seiner arOCCUPYWALLSTREET Serie legte Mark Skwarek Elemente aus Geldscheinen auf Banken, Gebäude und Passantenköpfe in der New Yorker Innenstadt. Und John Craig Freeman augmentierte die New Yorker Metro (vgl. Craig Freeman 2014). Beide Felder bilden einen Typus der künstlerischen Strategie von AR, die in einer Normalisierung der augmentierten Fokusse und einer Dramatisierung der nicht-augmentierten Felder besteht (AR-art „dramatizes spaces that are otherwise mundane“, Garbe 2018: 177).
Auch lokalisiert AR-Kunst ihre Augmentationen üblicherweise in bzw. vor Museen oder musealen Stätten (etwa Sehenswürdigkeiten oder Gedenkstätten). 2010 intervenierte die Gruppe We AR im NewYorker MoMA (vgl. Geroimenko/Skwarek 2018: vii). Craig Freeman wählte 2012 das Border Memorial im südlichen Arizona und 2013 das Kapitol der Vereinigten Staaten für seine AR-Kunstinstallationen. Analog zur oben beschriebenen Strategie könnte man hier von einer Mondänisierung des Dramas (der gegebenen Machtverhältnisse in der Kunst) sprechen. Anders viele von Tamiko Thiel’s Arbeiten, die sich bereits als institutionell legitimierte Werke in Feldern wie der Kunsthalle München oder dem Smithsonian Institution in Washington D.C. befinden, und somit der Hegemonie der Kunst entsprechen und diese oft aufrechterhalten.
Die eigentliche Frage, die als der Natur der AR-Kunst entsprechend angesehen wird, ist jedoch: ‚In welches Feld wird der augmentierte Fokus als nächstes gesetzt?‘. Damit wird versucht der transitiven Art und Weise der AR-Kunst Rechnung zu tragen, welchen Roland Barthes im vergangenen Jahrhundert bereits der Mode unterstellte (vgl. Barthes 1986: 293-296): In der AR kommt die Kunst nie ganz an, sondern befindet sich stets auf der Reise. Interessant wäre demnach auch die exklusorische Frage: ‚Welches Feld wurde noch nicht besetzt?‘ um dann zu fragen: ‚Warum?’. Wurde an dieses Feld schlicht noch nicht gedacht? Oder liegt hier etwa eine Nicht-Passung zwischen Feld und Fokus vor? Und wem dem so ist, was sagt diese Nicht-Passung über das Feld (das Sich-der-Kunst-Entziehen als besondere Macht des Feldes?) und auch über den Fokus (eine Unfähigkeit oder nur eine Besonderheit?) aus?
Darüber hinaus erlaubt der hier elaborierte epistemologische Ansatz auch das Verschwimmen von Feld und Fokus in folgender Frage: Warum ist in einem konkreten AR-Kunstwerk genau dieser Fokus augmentiert und nicht jener? Wie würde es das Werk verändern, wenn jenes Objekt in den Fokus gerückt und augmentiert werden würde, und nicht mehr dieses, das dann in den Bereich des Nicht-Augmentierten zurückfallen würde? Und was bleibt am Vorherig-Augmentierten haften in unserer Erinnerungs-beladenen Wahrnehmung dieses? Eine solche Fragestellung bleibt jedoch bisher der Spekulation verhaftet, und ihr konkretes Testen würde ein experimentelles Zusammenarbeiten mit einem AR-Künstler bzw. ein eigenes künstlerisches Tätigwerden mit AR-Techniken erfordern.
Als Zusammenfassung dieser Sektion: Durch ihre Mobilität zwischen Feldern steht der AR-Kunst die Möglichkeit der infiniten Reinterpretation ihrer Fokusse offen (Fokus-durch-Feld-Identifikation). Durch das immer wieder mögliche Versetzen ihrer Fokusse reininterpretiert AR-Kunst Felder endlos neu (Feld-durch-Fokus-Identifikation). Und durch das sich immer wieder verschiebende Verhältnis von Feld-Fokus-Kunst kann sich die AR-Kunst infinit neu reininterpretieren (Kunst-durch-Feld/Fokus-Identifikation).
4. AV-Kunst
4.1 Der Wahrnehmungsfokus der AV-Kunst als Objet trouvé
Nun wollen wir die Aspekte Wahrnehmungsfokus und Wahrnehmungsfeld auch im Falle von AV-Kunst besprechen. Die nun folgende Behandlung von AV-Kunst basiert auf dreierlei Hilfsmitteln: a) AV-Anwendungen in anderen Praktiken (gaming und tasting), b) die Wahrnehmungsfelder wie sie in der VR zu finden sind, und c) die Methode der Spekulation.
Es wird ein Vergleichen von AR– und AV-Kunst spekuliert. Dabei ist das Vergleichen an sich immer nur spekuliert, denn ein reales Vergleichen würde das reale Existieren beider verglichener Phänomene erfordern. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn wie einleitend bereits erwähnt, findet Kunst bisher nur im Bereich der AR statt. Eine künstlerische Praxis, die sich der Mittel der AV bedient, ist technisch bereits möglich, bisher jedoch noch nicht realisiert. Die Spekulation ist daher die Methode, die ein Vergleichen überhaupt erst ermöglicht. Und das Vergleichen ist der Strang, an dem sich in dieser Spekulation festgehalten werden soll, sodass sich, wie es im Titel dieses Texts heißt, ein ‚spekulativ-komparativer Ansatz’ formt.
Oben wurde gesagt, dass die AR-Kunst die konventionelle Hierarchie von Leinwand und Rahmen erhält. Es ist jedoch beachtenswert, dass AV-Kunst diese Hierarchie umdrehen würde: Hier wird das Feld künstlerisch gestaltet und der Fokus zum Rahmen. Somit lässt sich folgender Chiasmus wieder in Formeln bringen (keine der hier verfassten Formeln besitzt einen höheren Gültigkeitsanspruch als die anderen, vielmehr soll mit der Form der Formeln gespielt und sie in ihrer Fähigkeit des klaren Gegenüberstellens genutzt werden):
AR-Kunst: Feld als Rahmen + Fokus als Kunst
AV-Kunst: Feld als Kunst + Fokus als Rahmen.
Es ist evident, dass diese Inversion divergierende Möglichkeiten der Analyse nach sich zieht. Wurde in der AR-Kunst der Fokus auf Basis seiner künstlerischen Schaffensmethoden interpretiert; so möchte ich eine kunsttheoretische Analyse des Fokusses der AV-Kunst als Objet trouvé vorschlagen, d. h. als eine Art von Kunst, die sich selbst an den Grenzen der Kunst ansiedelt um eben jene zu dehnen. Das wohl bekannteste Objet trouvé ist das Fountain, welches Marcel Duchamp 1917 schuf in dem er ein Urinal umdrehte, mit einem Pseudonym signierte, und ausstellte. Nach Duchamp folgten Objet trouvés vieler Künstler. Salvador Dalí beispielsweise baute 1936 sein Aphrodisisches Telefon, in dem er dessen Hörer durch einen Hummer ersetzte, und Pablo Picasso kreierte 1942 einen Stierkopf aus einem Fahrradsattel und -lenker. Die Kunstform des Objet trouvés ist jedoch bis heute lebendig, mit Pim van Nunen oder Kunel Gaur als ihre zeitgenössischen Vertreter.
Der Fokus scheint zunächst der Lokus des Trivialen in der AV-Kunst zu sein (so impliziert es auch der Begriff des Rahmens, siehe obige Formeln), der erst durch sein Angeeignet- und Replatziert-Werden durch und in das Virtuelle hinein seinen Status als Kunst erhält. Doch genau einer solchen Trivialisierung der Fokusse der AV-Kunst möchte ich durch ihre theoretische Verknüpfung mit der Kunstform Objet trouvé entgegenwirken. Auch als selektiertes Objekt, wie in Sektion 2 beschrieben, ist der Fokus in der AV-Kunst nicht gänzlich abhängig in seinem Kunst-Dasein vom Feld, in das er gebettet wird. Denn auch das Selektieren von Objekten besitzt eine Tradition in der Kunst, durch welche diese Aktion bereits zur künstlerischen erhoben wurde, so möchte ich aufzeigen. Und genau in jenem Punkt würde sich die AV-Kunst triftig von der AR-Kunst unterscheiden: Tritt in der AR das Feld-ohne-Fokus aus der Kunst heraus (vgl. 3.2); so kann in der AV der Fokus nicht aus der Kunst hinaustreten, sondern hat immer schon eine Eigenmacht als Kunst. Er ist und bleibt ein Fokus, und kann als Fokus immer schon künstlerisch gedeutet werden.
Seinen Ursprung im Dadaismus habend, wird das Objet trouvé als eine Ausdehnung der Collage in die dritte Dimension hinein gesehen. Ich möchte nun vorschlagen, die AV-Kunst als eine Ausdehnung des Collage-Objet-trouvé-Vektoren in das Virtuelle hinein zu behandeln. Wenn also das Objet trouvé bereits in einem Entkleiden des Objekts aus dem Mantel seiner bisherigen Funktionen besteht, durch das es zur Kunst erhoben wird und als solche auf neue Weisen erfahren werden kann, dann wird durch das Re-Lokalisieren von realen Fokussen in künstlerisch gestaltete virtuelle Felder hinein, wie es in der AV-Kunst geschehen wird, der Fokus zum einen noch entblößter sein als im Objet trouvé, und zum anderen in seinen Bedeutungs- und Erfahrungsmöglichkeiten (ebenfalls zwei rein epistemologische Aktionen) noch weiter angereichert werden. In diesem Sinne stellt das Objet trouvé sowohl die künstlerische Tradition dar, deren Kontinuation bald in der AV geschehen könnte, als auch einen konkreten Moment im Schaffensprozess von AV-Kunst.
Im Bereich des Gamings findet AV bereits Anwendung in dem Sinne, dass die Gamer selbst in die virtuellen Felder hineinprojiziert werden und sich darin bewegen können. Wenn ich meinen eigenen Körper mitnehmen, ihn in einem virtuellen Feld bewegen und mich seiner, und dadurch meiner Anwesenheit durch Propriozeption rückversichern kann, dann hat das ohne Zweifel einen Einfluss auf die Intensität, mit der ich das virtuelle Feld erlebe, und die Wirklichkeit, die ich dem virtuellen Feld zuschreibe (wenn auch nur unterbewusst, gegeben, dass ich mich rational gegen eine Hierarchie der Realitäten wehre wie in Sektion 2 beschrieben).
Ein solches Verwenden von AV stellt einen Sonderfall ihres Fokusses dar, welcher für die Kunst gewiss eine neue Tiefe ihres Welt-eröffnenden Impetus und ihrer Partizipationsgestaltung bedeuten könnte. Dennoch würde auch hier eine Interpretation des eigenen Körpers als Objet trouvé funktional bleiben, welchen ich plötzlich im virtuellen Feld der Kunst wiederfinde, ihn neue erlebe (im Virtuellen kann ich vielleicht plötzlich einen Salto aus dem Stand, was mir sonst unmöglich ist) und neu erfinden kann. Virtuelle Spiegel, wie etwa im Projekt „Mirror Mirror“ des MyDesignLabs der koreanischen Schule für Industriedesign (Twitter: @Mirror_Kaist) erarbeitet, stellen eine Art Minimalversion solcher partizipativer AV-Anwendung dar, mit dem Körper als Fokus und dem jeweiligen Kleidungsstück als Feld (die phänomenologische Grundlagen zu dieser Behauptung habe ich bereits erarbeitet, vgl. Martach 2018).
4.2 Wahrnehmungsfelder der AV-Kunst sui generis
Um den Faktor Wahrnehmungsfeld in potenzieller AV-Kunst zu begreifen, müssen wir uns mit Beispielen aus der VR-Kunst behelfen, denn hier erleben wir bereits virtuell gestaltete Felder (in denen sich auch virtuell gestaltete Fokusse befinden, was ihren Unterschied zur AV ausmacht). In diesem Sinne würde AV-Kunst an sich schon in einer perzeptionstheoretisch ‘feministischen’ (im Sinne eines Aufzeigens und Verstärkens der Wirkungsgewalt von Minderheiten) Aktion bestehen, die die Hintergründe der VR-Kunst zum besonderen Lokus der künstlerischen Gestaltung erhebt. Unabhängig vom Bereich der VR formuliert, nimmt AV die Summe aller Nicht-Fokusse (der AR, aber auch jeglicher Wahrnehmung) und augmentiert diese, worin ebenfalls ein feministischer Akt gesehen werden kann.
Anders als bei der AR bedarf im Bereich der AV das Feld nicht den Fokus um Kunst zu werden, ebenso wenig wie in der AV der Fokus das Feld bedarf um Kunst zu sein. Eine Interpretation des AV-Feldes (d. h. eigentlich noch: VR-Kunst) sui generis wird also kunsttheoretisch möglich, und soll hier analog zu den Fokussen in der AR-Kunst vorgeschlagen werden, nämlich auf Basis der jeweils angewandten Gestaltungsmethode bzw. oft auch ihrer Referenz zu herkömmlichen künstlerischen Techniken. Um hier Beispiele aus der VR-Kunst anzuführen: Im Falle von MARC-O-MATIC wäre das erneut die Illustration (siehe etwa post vom 04.05.2021). Bei VR-Künstler Tim Tadder bietet sich Portraitphotographie an (siehe Instagram: @timtadder). Bei Patrizia Burra (Instagram: @patrizia_burra_photography) ist es die Ölmalerei (siehe bspw. im post vom 17.03.2023). Und bei Susi Vetter finden sich vermehrt Postkarten-ähnliche VR-Gestaltungen (siehe etwa die posts vom 09.11.2020 oder 03.04.2021).
Es ist für die Analyse von AV-Kunst von Bedeutung, ihre Felder analog zu den Fokussen der AR-Kunst, jedoch nicht als Fokusse zu analysieren. Denn die AV-Kunst macht das Wahrnehmungsfeld nicht zum eigentlichen Fokus. Der Schwerpunkt ist und bleibt auf dem Wahrnehmungsfokus, welcher im Falle der AV nicht augmentiert ist. AV behält das Wahrnehmungsfeld als Feld bei, das dennoch augmentiert wird. Auf diese Weise spielt die AV mit dem Nicht-Fokus, dem Nicht-Fokussieren-Können und dem Nicht-Fokussieren-Sollen der Wahrnehmung, und hinterfragt subversiv die ihr als Ultimate (vgl. Debaise 2017: 22) innewohnenden epistemologischen Machtverhältnisse.
Zudem erlaubt die AV die Frage: Wie wirken Objekte, obwohl sie nicht anvisiert werden, trotzdem auf mich, gar: ohne dass ich es direkt merke? Mit dieser Thematik beschäftigt sich unter anderem das bereits aktive AV-Anwendungsgebiet des contextual tastings, in dem ein und dasselbe nicht-augmentierte Gericht (als Wahrnehmungsfokus) in diverse durch Augmentation kreierte Felder gesetzt wird, was zu einer jeweils anderen Wahrnehmung (Geschmack, Genuss) des Gerichts führt (vgl. INVRSION 2021).
Während das nicht-augmentierte Feld in der AR-Kunst also eine nicht-augmentierte Wahrnehmung erfordert (siehe oben), verlangt das augmentierte Feld der AV-Kunst eine augmentierte Wahrnehmung. Dadurch ergibt sich folgender Viersatz:
augmentierter AR-Fokus —> augmentierte Wahrnehmung
nicht-augmentiertes AR-Feld —> nicht-augmentierte Wahrnehmung
nicht-augmentierter AV-Fokus —> augmentierte Wahrnehmung
augmentiertes AV-Feld —> augmentierte Wahrnehmung.
Dieser Viersatz erscheint in weiten Teilen redundant, denn wie in Sektion 2 beschrieben handelt es sich ja bei ‚Fokus‘ und ‚Feld‘ um Konzepte wahrnehmungstheoretischer Art. Demgemäß müsste ein augmentiertes Objekt immer auch eine augmentierte Wahrnehmung bedeuten, und ein nicht-augmentiertes Objekt eine nicht-augmentierte Wahrnehmung. Was wir jedoch der viergliedrigen Formelreihe entnehmen können, und wodurch sie Bedeutsamkeit erlangt, sind zwei Erkenntnisse: Zum einen erfordern allein AR-Felder eine Wahrnehmung außerhalb des Bereichs der Augmentation. Zum anderen scheint sich im Faktor AV-Fokus ein Bruch in der Korrespondenz von Phänomen und Wahrnehmung aufzutun. Dieser Bruch entsteht durch die Lokalisierung des AV-Fokusses in das virtuelle Feld, wodurch die Legitimation des Virtuellen als Subversionstechnik in der Kunst verstärkt wird und zudem das Virtuelle für onto/epistemologische Ansätze wie etwa von Karen Barad vertreten (vgl. Barad 2007: 391-392) interessant wird. Es wäre wünschenswert, das Entstehen und Wirken dieses Bruchs in einem weiteren Paper zu behandeln.
Es bleibt noch die Thematik der Mobilität von AV-Kunst zu besprechen. Sicherlich sind AV-Felder weniger dynamisch austauschbar als Felder in der AR-Kunst, müssen diese ja erst gestaltet werden, während jene einfach zur Projektion verwendet werden können. Allerdings wäre es ein Fehlschluss zu behaupten, AV-Kunst wäre dadurch weniger mobil als AR-Kunst. Wie auch in der AR-Kunst wird die Dynamik von AV-Kunst bestimmt werden durch die zur Erschaffung, in AR: des Fokusses, in AV: des Feldes, verwendeten künstlerischen Techniken. Auch wenn ein Feld prinzipiell als eine größere Leinwand erscheinen mag als ein Fokus, so kann ein Feld durchaus mit einfacheren Mitteln und damit rapider gestaltet werden als ein komplex komponierter Fokus. Somit lässt sich aus dem spekulativen Vergleichen von AR– und AV-Kunst keinerlei Schlüsse auf etwaige Differenzen in ihrer Mobilität ableiten, welche anhand konkreter Einzelfälle noch zu untersuchen sind.
4.3 Die Felder der AV-Kunst als Topische Bilder
In der AV residiert die Kunst nicht allein im Feld. Dennoch kann das Feld alleinstehend bzgl. seines künstlerischen Gehalts untersucht werden. Und genau hierdurch wird die AV kunsttheoretisch noch interessanter und sogar bildhistorisch von Bedeutung, denn wenn ein Feld zur Kunst wird, so widerspricht das der antiken Definition des Bildes, welches Platon einst als “atopoi“ (in Sophistes, 240c2), d. h. nicht-örtlich und auch unverortbar beschrieb. Die AV-Kunst wird uns, so wage ich bereits zu behaupten, eine neue Kategorie von Bild präsentieren, die als Ort, oder um in der Epistemologie zu bleiben : als Feld existiert. Die Felder der AV-Kunst, das sind örtliche, man könnte in Anlehnung an das Griechische provokativ sagen: ‚topische‘ Bilder.
Dieser piktoriale Neuheitswert würde aber nicht von der AV-Kunst allein generiert werden. Vielmehr würde die AV-Kunst im Hinblick auf jenen ein künstlerisches Gipfeln einer sich bereits gesellschaftlich abzeichnenden Entwicklung darstellen, womit die Kunst eine für sie typische Rolle einnehmen würde. Denn wie ich in einem Paper behaupte, welches im Frühjahr 2024 in der IMAGE erscheinen wird, besitzen auch reale Ort gerade die Tendenz piktorial zu werden. Bereits Heidegger schrieb: Dass „die Welt als Bild begriffen“ werden kann, d. h. dass „die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus“ (Heidegger 1977: 89-90). 1990 sprach Welsch ebenfalls von einer „zunehmenden Bildwerdung der Wirklichkeit“ (Welsch 1990: 18). Man beachte, dass beide Philosophen diese Aussagen bereits vor der Erfindung und Verbreitung von Smartphones mit Kameras getroffen haben, wodurch letztere eher eine Reaktion auf einen gesellschaftlichen Wandel als eine Innovation darstellen.
Jedoch hat, so möchte ich postulieren, das Phänomen, welches in der entsprechenden Literatur auch als „iPhoneography“ (Clawson 2015) beschrieben wird, dazu geführt, dass das Konzept ‚Bild‘ eine ganz eigene Dynamik und damit verstärkt Macht erlangt: Die konstante Möglichkeit, fast in Echtzeit Bilder zu machen, zu bearbeiten, und virtuell zu teilen, und genauso schnell Bilder von anderen zu begutachten (eine freie Übersetzung von Gómez Cruz [2020: 328]), lässt uns unsere Wahrnehmungsfelder in Bezug auf die in und von ihnen ermöglichten Bilder, und somit final als Bilder begreifen. In diesem Sinne lese ich auch das Konzept „ubimage“, welches von Ulmer und Craig Freeman stammt (2018: 97): Das Bild (image) ist überall (ubiquitous). Wenn das Bild überall ist, dann erfüllt und durchdringt (pervasive, ibid.) es unsere Wahrnehmungsfelder, wodurch der Ort zum Bild wird, so meine Weiterführung. Damit fächern sich Orte in ihrer Epistemologie auf neue Weisen auf zu einer Vielzahl piktorialer Perspektiven, bzw., um im Griechischen zu verharren, zu ‚Pluritopien‘ auf der Stelle (im zeitlichen/örtlichen Sinne). Die Bildtheorie wird relevant für eine Interpretation von Orten, denn Orte verlangen bereits ihre Analyse auf piktoriale Weisen. Sozusagen hat die iPhoneographie dazu geführt, dass die Ikonische Wende (der iconic turn) nun auch Orte betrifft und in ihren Bedeutungsrahmen mit aufnimmt.
Bereits 2002 (d. h. ebenfalls vor der Einführung des iPhones im Jahr 2007) sprach Manovich von „Augmentierten Orten“ (augmented spaces), meinte damit jedoch das Bildschirm-Werden der Oberflächen asiatischer Großstädte, wodurch wir im Urbanen durch eine Welt der Bilder laufen (siehe Manovich 2002: 1). Manovich fokussierte in seinem Text einen früher beginnenden Sachverhalt, und bleibt in ihm auf eine Form der AR gerichtet: Virtuelle Fokusse (Bildschirme) in realen Feldern (Großstädte). Trotzdem erachte ich sein Konzept des Augmentierten Ortes als relevant für eine sich entwickelnde theoretische Besprechung von AV, denn der Weg der Inversion scheint in Manovich’s Text bereits geebnet: Wenn ich Orte als augmentiert betitele da in ihnen Virtuelles stattfindet, dann ist der Schritt zum Augmentieren von Orten kein großer mehr. Die Bedeutsamkeit des Konzepts liegt also in seiner adjektivischen Zuschreiben der Augmentation den Orten.
Ich sehe in der AV das Potenzial einer Weiterentwicklung jenes Konzepts, welche in einer Augmentation der Augmentation von Feldern (Manovich: Orten) bestehen würde, die dann nicht mehr durch das Statische, sondern nur noch durch das Technische begrenzt wäre, womit sich neue künstlerische Freiheiten und eine erweiterte Anreicherung des Realen ergäben. Ob Phänomene, zu denen ich auch die AV zähle und ihre Kunst zählen würde, dazu fähig sind, die antike Definition des Bildes zu überholen, möchte ich als Diskussion meinem zukünftig erscheinenden (regulären, nicht in einer Sonderausgabe) IMAGE-Paper nicht vorwegnehmen.
5. Konklusion
Wie nicht anders zu erwarten bei einer solch dualistischen Terminologie wie der präsenten (hier zeigt sich einmal mehr die Macht des Foucaultschen Apparatus, siehe auch Barad 2007: 63), kommt es final zu einer möglichen Interpretation von AV-Kunst als ein Zusammentreffen zweier künstlerischer Praktiken: der des Fokusses, welche in der Selektion von Objekten, und der des Feldes, welche in der Konzeption von Objekt-Objekt Zusammenhängen besteht. Exklusiv für die AV wurde zur Analyse der Kunst des Fokusses das Objet trouvé als Strategie vorgeschlagen, zur Analyse der Kunst des Feldes das hier eingeführte Konzept des ‚topischen Bildes‘.
Die Objekte der VR-Kunst besitzen heute bereits einen technisch so hohen Stand, dass sie der Konsumentin nur allzu leicht als real erscheinen mögen. Dies hat zur Folge, dass die Kunst, die derzeit in der VR geschieht, oft ein genaues Hinsehen erfordert, um sie als solche zu identifizieren und sie von der Kunst, die in der AV geschehen wird, zu unterscheiden. Somit oszilliert die Kunst bereits jetzt zwischen VR und AV in der eigenen Wahrnehmung, und allein über jene sollte hier gesprochen werden.
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Citation
Swantje Martach: Epistemologien der Kunst in Augmentierter Realität und Virtualität: Ein Spekulativ-Komparativer Ansatz. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 39, 20. Jg., (1)2024, S. 34-52
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2024-16215
First published online
März/2024