Das Topische Bild

Von Swantje Martach

Abstract

Fühlst du den öffentlichen Raum auch als dich zu einem Aspekt deiner Selbst reduzierend (z.B. zu einer Shopperin in der Mall, oder einer Beobachterin im Café)? Der vorliegende Text sieht den Grund darin, dass heutige Räume Bilder sind, und macht sich auf den Weg, die Ontologie dieser Phänomene, ihre Implikationen für die menschliche Existenz darin, und die Gründe ihres Entstehens zu erkunden. Während also bisherige Bildtheorien sich auf eine Diskussion von Bildern-in-Räumen beschränkten, möchte dieser Text eine neue Art von Bild in den bildtheoretischen Diskurs einführen: Raum-als-Bild. Nach einem Abgrenzen von bildlicher zu narrativer Konzeptualisierung von Raum wird argumentiert, dass Räume einen sogenannten „Bilderdruck“ beinhalten: Räume drängen uns dazu, uns ihren Rahmen anzupassen und konstant bereit zum Bild zu sein, also uns so zu benehmen, als wären wir immer schon im Bild. Als Grund dafür wird der bildliche Raum-Konsum unserer Mitmenschen angeführt, der unsere Aktionen im Raum zu Replikationen von bereits existierenden Bildern jener reduziert. Da Platon einst das Bild als atopoi, also nicht-örtlich und unmöglich zu verorten definierte, wird das hier diskutierte Phänomen provokant als “topisches“ Bild bezeichnet. Jedoch wird diese Bezeichnung nicht einfach nur vorgeschlagen, sondern kritisch diskutiert und seziert um sie auf ihre eigenen Möglichkeiten hin zu dehnen.

Did you ever feel reduced to a fragment of yourself in public space (e.g. bound to behave like a shopper in the mall, or like a people-watcher in the café)? This paper claims present-day space’s being-as-image as reason, and sets out to explore its ontology, implication for human existence within it, and reasons for its formation. Thus, whereas theories of the image so far mostly restricted itself to a discussion of images-in-space, the present paper adds a new kind of image to the image theoretical discourse: the space-as-image. After demar­cating a pictorial from a narrative conceptualization of space, this paper ar­­gu­es that spaces contain what is called a “picture-pressure”: Spaces urge us to adjust ourselves to their frames, and to be constantly ready to (be) picture(d), that is, to behave as if always already in a picture. The pictorial consumption of spaces by others is seen as its reason, channeling our acting within towards a replication of already existent images of spaces. As Plato once defined the image as atopoi, non-local and impossible to locate; the phenomenon here discussed is provokingly defined as “topical” image – a name that is suggested in order to be critically discussed and dissected for the sake of stretching it towards its own possibilities.

1. Einleitung

Das vorliegende Paper bewegt sich im Verhältnis von Welt und Bild. Als solches versteht es sich zum einen in der Tradition von Heidegger, welcher die Moderne bzw. Neuzeit allegorisch beschrieb als: „Wo die Welt zum Bilde wird“ (Heidegger 1977: 89). Flusser beschrieb ebenfalls ein „globales Bildszenario“, welches für ihn darin besteht, dass die Welt „da draußen“ wie ein Bild wird (siehe Flusser 2000: 10). Und auch Welsch scheint diesen Gedanken aufzugrei­fen, wenn er von „der zunehmenden Bildwerdung der Wirklichkeit“ spricht (Welsch 1990: 18). Zum anderen schreiben bspw. Alloa und Cappelletto vom Welt-Werden des Bildes („the becoming-world of the image itself must be acknowledged“, Alloa/Cappelletto 2020: 3). Als damit verknüpft wird hier ihre These erachtet, dass Bilder nicht immer in ihre Rahmen passen (ebd.: 10), ja, so könnte man sagen, den ihnen auferlegten Rahmen sprengen und die Welt mit ihrem Wesen und ihren Inhalten überfluten. Kunstwerke wie die von Katharina Grosse drängen sich in diesen Gedanken.

Die Welt wird zum Bild und das Bild wird zur Welt, so klingt der vorliegende Literaturkörper. Daraus zieht dieses Paper den Schluss der Möglichkeit eines Phänomens, welches die Autorin seit Weilen bereits empfindet (was die Verknüpfung von Bildtheorien und Phänomenologie erklärt, welche in diesem Paper stattfindet, ebenso wie diverse Anekdoten, die jenes spicken), nämlich: die Entstehung einer neuen Art von Bild, welches keine weitere Untersparte des
Bildes-im-Raum bildet, sondern der Raum (zwischen den Begriffen „Raum“, „Ort“ und „Welt“ wird zum Zwecke dieses Papers keine Unterscheidung als notwendig erachtet) selbst ist, der zum Bild geworden ist.

Wenn also bisher beim „Bild“ zumeist von zweidimensionalen (bspw. fotografierten, illustrierten, gemalten) Dingen die Rede war, welche, obgleich von ihrer direkten Umgebung abgegrenzt (ganz klassisch: durch den Rahmen), sich dennoch als Dinge stets im (analogen oder digitalen) Raum befinden; so wird hier dafür plädiert, dem Bilddiskurs eine weitere Art von Bild hinzuzufügen, welche in bewusster Provokation zu Platon’s ontologischer Bezeichnung von Bildern als „atopoi“ (siehe Platon, Sophistes, 240c2), d. h. nicht-örtlich und unverortbar, das „topische“ Bild bzw. auch das „Raumbild“ genannt wird. Der Raum wird somit seiner Hintergrundrolle entledigt und selbst als Bild analysiert, insbesondere im Hinblick auf den Effekt seiner piktorialen Existenz auf das mensch­liche Existieren in und den Umgang mit ihm.

2. Narratives versus Piktoriales Raumverständnis

Auf die Existenz von topischen Bildern stieß ich primär durch einen Vortrag, welchen der finnische Ästhetiker Max Ryynänen im Februar 2021 auf dem Fünften Wiener Forum der Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie hielt. Die von Ryynänen vertretene These war, dass wir uns im Urbanen stets in Geschichten verwickelt finden, welche durch sog. „life designs“ (quasi der öffentliche Raum als von Menschenhand strukturiert) evoziert werden. Im Café, in der Metro, an der Universität erleben wir alle Emotionen, die auch eine gute Geschichte ausmachen, so Ryynänen. Mein damaliger Einwand bestand darin, dass heutige life designs zumeist nicht narrativer, sondern vielmehr piktorialer Natur sind: Ich empfinde den öffentlichen Raum nicht als bestehend aus einer Vielzahl von Geschichten, sondern als Konglomerat von Bildern.

Der Besuch im Café soll keinen Spannungsbogen beinhalten. Man möchte nicht ins Schwitzen geraten, weil man seinen Geldbeutel zuhause vergessen hat. Ein etwaiger Heroismus, der darin bestehen könnte, dass man nun von der Person, die hinter einem in der Schlange steht, auf den bereits bestellten Kaffee eingeladen wird, wird in unserer heutigen Zeit des unverbindlichen Individualismus ebenfalls als unangenehm erfahren. Man möchte daraufhin nicht um einen Sitzplatz bangen müssen. Und auch auf das Erleben von Romantik im Café ist man heute nicht mehr angewiesen. Was möchte man also? Welche Erwart­ungen stellen wir an life designs?

Einige Tage vor der soeben genannten Konferenzdiskussion hatte ich auf Instagram einen Post wahrgenommen, dessen Bildinhalt einen Mann zeigte, welcher wohl in Kopfbehaarung und Anzugwahl der derzeitigen Ästhetik entspricht. Für mich bedeutsam wurde dieser Post allerdings erst in Kombination mit seiner Bildunterschrift. Hierin äußerte der „Postende“ die Meinung, dass, wenn man in ein feines Restaurant gehe, man sich nicht von alltäglich und gar unachtsam gekleideten, sondern von sich bewusst aufgemachten Leuten umgeben finden wolle.

Leider kann dieser spezielle Post nicht mehr ausfindig gemacht werden, da er nicht im eigenen Feed, sondern in der öffentlichen Suchfunktion auftauchte, was die Popularität seines Postenden vermuten lässt. Daher wird er hier in der Annahme beschrieben, dass er als generisch für eine ästhetische (Erwartungs-)Haltung gelten kann, welche gegenwärtig die Oberhand innehat – zumindest unter den 2 Milliarden (Stand Januar 2024) weltweiten Nutzern des sozialen Mediums Instagram und seinen Alternativen.

Für die behandelte Thematik wird jener knappe Text zum einen interpretiert als Ausdruck einer aktiven Suche nach, d. h. ein Aufsuchen von topischen Bildern, soll heißen bildtauglichen, zu Bildern fähigen, zu ihrer Abbildung (im Gegensatz zu den Texten Platons und der daraus entsprungenen Theoriesparte verwendet dieser Beitrag „Abbild“ nicht wertend) auffordernden, also wortwörtlich „pittoresken“ Räumen, in welche man sich ästhetisch und körperlich verorten, genießerisch eintauchen, und dessen visuelle (!) Standards man als die eigenen übernehmen kann.

Zum anderen wird in ihm auch der Wunsch des statischen Erhaltenbleibens von einmal gefundenen Raumbildern gesehen, weshalb er seine Mitmenschen zur Bildkonformität auffordert (Putzt euch heraus!) und welche er selbst ebenso gewissenhaft anstrebt (siehe Bildinhalt des Posts). Das Bemühen, in den Rahmen zu passen, ist hier die Methode des Erlebens. Jene Methode ist geprägt von einem ästhetisch intoleranten So-Haben-Wollen von Selbst und Anderen. Mit BYUNG-CHUL HAN gesprochen, verlangen wir nach dem Gleichen (siehe Han 2016, insbes. 9) und Glatten (siehe Han 2015, insbes. 9).

Was Willard bereits 1977 schrieb, scheint daher bis heute zu greifen: Während der postkoloniale Zeitgeist diverseste Diskriminierungen auf- und überarbeitet, wird das, was Willard als „ästhetische Diskriminierung von Personen“ bezeichnet, noch wenig theoretisch betrachtet (siehe Willard 1977). Wenn dies geschieht, dann mehr in der Ethik (siehe bspw. Hofmann 2024, der zwar von „aesthetic injustice“ spricht, dabei jedoch meiner Ansicht nach Ähnliches meint) als in der Ästhetik. Erstere tritt vermutlich leichteren Fußes da von weiter außen auf dieses Phänomen zu, während die Ästhetik hierbei ja einen Aspekt ihrer eigenen Schuld konfrontieren müsste. Diesem Sachverhalt und geeigneten Strategien, um jenen zu verändern, muss sich jedoch in einem separaten Paper gewidmet werden.

Hier soll die These gewagt werden, dass solche sicherlich durch Bild­medien evozierten (diese Kausalität wird weiter unten in 5. behandelt), piktorialen (und auf weitere Weise diskriminierenden) Bestrebungen heute immer mehr an Bedeutung gewinnen, und sogar etwaige narrative Bestrebungen ver­drängen. Statt Emotion wünschen wir uns von Räumen allein die Möglichkeit von Kontemplation, so die Behauptung. Das Diktum, dem sich Raum heute unter­wirft, ist das des Bildes. Auf die Frage „Wie war dein Restaurantbesuch gestern Abend?“ möchte man antwortend keine Geschichte zum Besten geben. Es soll nichts passiert sein. Vielmehr ist es das Bestreben, den Restaurantbesuch aus­schließlich kontemplierend als ein Bild beschreiben, bzw. gar, wie es immer mehr Usus wird, schlicht ein Bild (eine Handyfotografie) hiervon zücken und zeigen zu können. In jenem soll der ganze Abend im Restaurant als Essenz enthalten sein.

Als in diesem Kontext besonders interessantes Phänomen wird das Bewegt­bild-Format des „Reels“ auf Instagram erachtet, aus dem das zeitlich nachge­lagert entstandene Medium TikTok gänzlich besteht. Natürlich können beide Formate/Medien für diverseste Zwecke verwendet werden. Jedoch zeichnen sich die Reels, welche regelmäßig von Influencern in Alltagsbereichen wie Wohnen, Kleiden oder Reisen hochgeladen werden, und welche die größte Aufmerksamkeit erhalten, durch einen piktorialen Charakter aus. Meist sind Reels, obwohl be­­wegt, dennoch nicht narrativ – zumindest in der eigenen Feed-Blase der Autorin dieses Papers, und nur über jene ist es möglich zu urteilen, denn der Aufbau von Instagram bedingt es, dass sich über eine Verteilung der in ihm zugänglichen Inhalte in der Rolle des Nutzers keine objektiven Aussagen treffen lassen können. Der Großteil der Reels lässt sich charakterisieren durch ein Fehlen eines Spannungsbogens. In ihnen passiert nichts. Ein bedacht ge­­kleideter Mensch flaniert eine Straße entlang. Jemand trinkt Kaffee und beobachtet Passanten in einem Café. Die Kamera schwenkt durch das eigene, säuberliche und akkurat einge­richtete Wohnzimmer, in dem vielleicht jemand gerade auf dem Sofa in einer Zeitschrift blättert. Geschehnisse, wie von Dewey definiert (siehe Dewey 2008: 18), bleiben aus. Alles vollzieht sich in einem Fluss, und ist eben genau dadurch nicht im Prozess. Lässt sich also sagen, dass das Erleben im öffentlichen Raum „Reel-artig“ stattfinden soll?

In beiden Konzeptionalisierungen, der von Ryynänen und der hier vor­geschlagenen, handelt es sich um ein Ergreifen eines Objektes (des Raums), welches bisher in der Theorie u. a. auf architektonische, design-theoretische, phänomenologische Weise untersucht wurde, um sich ihm mithilfe eines alternativen Methodenkörpers erneut anzunähern. Der Raum scheint also einen Überschuss an Existenz innezuhaben, welches nach weiterer Betrachtung verlangt. Während Ryynänen’S Ansatz jedoch darin bestand, den urbanen Raum via filmtheoretischer Ansätze zu interpretieren, soll hier dazu aufgerufen werden, ihn mithilfe bildtheoretischer Methoden zu betrachten.

Einerseits besteht der hier greifende Unterschied zwischen Narration und Bild darin, dass Raum-als-Geschichte durchlebt wird, während Raum-als-Bild ein Erleben bedingt (das Phänomen des narrativen Bildes meint eine andere Art von Bild als die hier besprochene und wird daher bewusst ausgeklammert). Diese phänomenologisch getriebene Unterscheidung soll hier hervorgebracht werden, wobei sich auf die diversen Zeitlichkeiten von Geschichte und Bild bezogen wird, welche bereits von Flusser beschrieben wurden (siehe Flusser 2000: 8). Daher lässt sich dem Bild das Attribut einer gesteigerten Statik (was für Flusser der Grund seiner Magik ist, siehe ebd.: 9) im Vergleich zur Geschichte anhängen.

Andererseits beweisen jedoch Bildmedien wie Instagram, dass das Bild uns leichter wieder aus seinen Fängen entlässt, als es die Geschichte tut. Es ist die Logik des Bildes, die uns scrollen lässt. Das Bild ist daher in seinem Erlauben von Wechsel dynamischer, was paradoxerweise als Resultat seiner Statik/Magik verstanden werden kann. Doch der Wechsel, den das Bild durch sein Scrollen-Lassen ermöglicht, ist eben nur ein Wechsel, eine Veränderung, die Entwicklung noch nicht verspricht. Zumeist eskaliert das Bild sich hierdurch in seiner Statik.

Der Effekt der uns heute beherrschenden piktorialen Ästhetik ist somit ein Verbildlichen von narrativen Verflechtungen, welche als solche eigentlich über das Bild in seiner Logik hinausreichen. Als solche könnte „das Leben“ (siehe Deleuze 1997) ebenso wie „der Körper“ (siehe Martach 2024b) genannt werden. Das Menschliche lässt sich noch und auch gerade erst als „Existenz“ definieren, von Latein ex-sistere, aus einem Stand hinaustreten. Sich in die Tradition von Deleuze und Guattari stellend, wird hier Sein (ob nun materiell oder existenziell) als „Werden“ verstanden (siehe Deleuze/Guattari 2004: 263). Auch wenn Bilder ontologisch nicht auf ein Solches reduziert werden können, so fungieren sie als Praxis im Fluss des Seins doch als Insistenz: Die ständige Mög­lichkeit, Bilder machen und veröffentlichen zu können (siehe Gómez Cruz 2020: 328), beeinträchtigt die Erfahrung des Raumes als Raum, überlagert als Handlungsalternative (des Fotoschießens) das Handeln im Raum und lässt den Raum eben zum Bild werden. Das Leben scheint somit als „Diaphanes“ (eigentlich Alloa’s Definition des Bildes, Alloa 2011: 92f.) nur noch verstohlen durch seine eigenen Momentaufnahmen hindurch.

Kritisch betrachtet könnte man daher sagen: Bilder bremsen und simplifizieren das menschliche Dasein. Jedoch haben sich Bilder bereits mit solcher Kraft in unser Dasein gewoben, dass eine kritische Beleuchtung allein nicht mehr ausreicht. Vielmehr benötigt es Fragen nach ihrer Beleuchtung wie: Welche neuen Weisen der Erfahrung des Raumes ermöglicht das Bild als Praxis? Was ist ihre Logik, ihre Ästhetik, etc.?

3. Der Bilderdruck des Raumes

Anders als in Ryynänens Verständnis von Raum als Potenzialität des Durch­lebens diverser Geschichten, empfinde ich öffentliche Räume zumeist als einengend. Den Grund dafür wird hier in ihrer Piktorialität verortet. Ich erachte Raum (nicht nur den „öffentlichen“ Raum, denn allen voran das Bildmedium Instagram hat bereits eine Auflösung der Dichotomie von Öffentlichem und
Privatem bewirkt) als einen „Bilderdruck“ innehabend.

Ich kann nicht einfach nur als ich selbst durch eine Shoppingmall flanieren (Und aus was würde denn dieses von allen Umständen losgelöste Selbst überhaupt bestehen?), sondern ich soll bitte als eine durch-eine-Shoppingmall-
flanierende Frau durch die Shoppingmall flanieren (unaufgeregt aufgemacht, vielleicht eine Sonnenbrille ins Haar gesteckt, erfolgreich lächelnd da min­destens eine Tüte mit Erworbenem bereits beim Gehen locker in der Hand schwingend). Diese piktoriale Aufforderung empfinde ich den Raum als mir unterbreitend, und kann sie in ihrer Beschränkung sicherlich als temporär befreiend (etwa vom manchmal als Schwere empfundenen Theoretikerinnen-Aspekt meiner Selbst) ebenso wie als begrenzend und dadurch verzerrend (auf die Konsum-frönende Shopperin) erleben.

Im Bereich des direkt Topischen äußert sich der Bilderdruck des Raumes also in der Ermahnung an die ihn frequentierenden Menschen, seinen piktorialen Ansprüchen Genüge zu leisten. Für das Erhalten-Bleiben des Raumbildes ist ein Fleck am Hemd (Aussehen) ebenso wenig erwünscht wie das Kratzen am Rücken oder ein Naseputzen (Verhalten), denn beides eignet sich nicht zur glatten Abbild­ung (und daher umso mehr zur journalistischen).

Jegliches Benehmen muss also „bildwürdig“ sein. Ein „Bildbenehmen“ muss an den Tag gelegt werden. „Please behave!“ wird gleichbedeutend mit einem herkömmlichen und immer möglich sein sollenden „Cheese!“, Klick. Der topische Bilderdruck des Raumes besteht also darin, sich nicht nur so zu benehmen, als würde man gerade, sondern gar so, als könnte man jederzeit abgebildet werden, denn eben jenes ist ja auch möglich (siehe Gómez Cruz oben). Das Raumbild perpetuiert sich selbst, und das bereits im Topischen.

Auf diese Weise reduziert der Raum-als-Bild das menschliche Sein und Selbst auf sein Passen-ins-Bild. Der Mensch wird zu einer Momentaufnahme seiner selbst. Während man Geschichten vorwerfen könnte, dass sie kanalisieren, gehen Bilder definitiv noch einen Schritt weiter in ihrer Reduktion: Sie rahmen ein. Wer nicht hineinpasst fühlt sich unwohl, gedrängt zu gehen, oder von vornherein aus dem Bild ausgeschlossen. Soziale Exklusion findet heute auch, und impulsiver denn je, mit piktorialen Mitteln statt. Aus diesem Grund wird eine Verknüpfung von Bildtheorie und Postcolonial Studies, bspw. der Fat Studies aber auch anderer Minority Studies, als erstrebenswert erachtet.

Raumbilder reduzieren Sein in seiner Fülle auf ein piktoriales So-Scheinen-­Sollen, einen Snapshot. Denn während man einen Großteil der auf uns einströmenden atopischen Bilder in ihren konkreten Manifestationen meist noch wegdrücken und ausblenden kann (zumeist indem man das Handy weglegt), kommt ein Jeder nicht umhin, sich im Raum zu bewegen und sich auch ästhetisch in ihm zu positionieren (diesen Aspekt des Sich-Zeigen-Müssens hat Ian King bereits in Bezug auf das Kleiden in einem einleuchtenden Paper beschrieben, siehe King 2015). Dieser Unterschied zwischen topischen und atopischen Bildern nimmt allerdings immer mehr an Bedeutung ab, je mehr atopische Bilder als (3D-)Reklame, bewegte Bilder, virtuelle Realitäten, Simulatoren, etc. den Raum (und damit auch seine Piktorialität) durchdringen (Manovich spricht hierbei von „augmented spaces“, Manovich 2002).

Der Bilderdruck des Raumes manifestiert sich also direkt im Topischen. Darüber hinaus strahlt er aber auch ins Atopische hinein, denn topische Bilder drängen uns dazu, sie zu fotografieren, d. h. atopische Bilder von und in (was hier oft dasselbe ist) ihnen zu kreieren. Als topische Bilder provozieren Räume aktiv die von uns nur noch artig ausgeführte Praxis ihres Abbildens im Atopischen. Hier lässt sich bereits ein zunehmendes Verschwimmen von atopischen und topischen Bildern erahnen.

4. Raum als Ontologisch Abgebildet

Wo (d. h. in welchen Räumen) er auch geht und steht, der Einzelne hat bereits immer schon (und heute früher denn je) die Ästhetik atopischer Bilder (ob nun stammend von Influencern oder Unternehmen ist hier sekundär; die Grenzen beider lösen sich ja auch zunehmend auf) verinnerlicht, und überträgt diese auf den Raum, d. h. bewertet Räume anhand und bewegt sich in Räumen mithilfe jener.

Wir betreten reale, analoge Räume so, als wären sie bereits Bilder. Und mit dieser Verhaltensstrategie liegen wir sicherlich nicht falsch, denn topische (reale) Räume besitzen wahrscheinlich schon längst eine atopische (virtuelle) Entsprechung, auf einem anderen Handy, auf einem anderen Account, in einem anderen Medium. Und genau dieses Andere führt, wie Sartre schon feststellte, zu einer „Desintegration“ des eigenen Raumes (siehe Sartre 1991: 461). Die atopischen Bilder der Bildmedien durchdringen als „Abflussloch“ (ebd.: 462) den Raum, ja haben jeglichen uns neuen Raum immer schon durchdrungen – und wir haben einen für uns körperlich neuen Raum eventuell oft durch sie, d. h. visuell-digital bereits (als Bild) erlebt.

Der Maßstab der Tauglichkeit zum Fotografiert-Werden bedingt das Design heutiger Räume. Das erklärt, warum ausgerechnet die Toiletten von Nachtleben-Lokalitäten so spektakulär sind: Sie sollen vor allem wiedererkennbare Spiegel-Selfies ermöglichen; und warum auf vielen Spiegeln und Fensterscheiben in Hotels der Name und das Logo letzterer abgebildet sind: Die Firmen­identität möchte sich mit aufs immer schon im Design mitgedachte Bild
drän­gen. Nur Räume, die bildwürdig konzipiert wurden, können ihr Bewerben getrost an das kollektive Ganze outsourcen, und sind somit auf Dauer lukrativ.

Und wir beginnen heute bereits daran zu zweifeln, ob das, was wir nicht fotografisch festgehalten (und zumeist auch: gepostet) haben, wirklich durchlebt wurde. Ja ein reales Durchleben wird erst durch die Möglichkeit des stets wieder­kehrbaren Bilderlebnisses (auf dem Bildschirm des Handys) als real legitimiert. Anders formuliert: Was nicht fotografiert und dadurch konstant zugänglich gemacht, ist final nicht erlebt. In diesem Sinne wird das Topische erst durch sein atopisches Abbild real.

Folgen wir dann der Einladung des Raumes ihn abzubilden, so scheint er uns auch das Wie seines Abgebildetwerdens ebenso wie unseres Abgebildetwerdens in ihm vorzugeben. Aus einer Hashtag-strukturierten visuellen Recherche auf Instagram können folgende Schlüsse gezogen werden: Der Eiffelturm bedarf der Froschperspektive; die Skyline von New York der Vogelperspektive. Vor dem Eiffelturm ist es angebracht, entweder freudig in die Luft zu springen, ein Picknick zu machen, oder, falls mit dem Partner unterwegs, sich verliebt an­­sehend zu umarmen. So haben es schon eine Vielzahl von Touristinnen getan, deren Abbilder wir im Kopf haben, wenn wir dann selbst eingepfercht zwischen dem eisernen Riesen und einer Fotokamera stehen. Vor der Skyline von New York ist es piktorial empfohlen, einen Arm seitlich auszustrecken und die flache Hand so zu positionieren, als würde ganz Manhattan auf ihr schwimmen. Die Hängebrücke im costaricanischen Dschungel verlangt es, dem Partner meinen Rücken kehrend ihm führend meine Hand zu reichen, sodass er jene dann mitsamt einer Rückansicht von mir porträtieren kann. Und natürlich muss sich nur mit einer Hand lässig am Straßenschild festgehalten und um es herum (im Regen?) ge­­tanzt werden. Diese (oder ähnliche) Vorgaben leiten sich ab aus den bereits existierenden, uns bekannten, und dadurch in den Raum eindringenden (als Erwartung bzw. Bilderdruck) atopischen Bildern jenes. Befolgen wir jene, d. h. geben wir dem Bilderdruck nach, repliziert sich das Atopische selbst im und durch den Raum.

Tatsächlich sind die meisten Räume heute bereits fotografiert, wodurch ihnen eine piktoriale Verbrauchtheit (um nicht zu sagen: Verruchtheit) anlastet, die zu ihrer Statik beiträgt und ihre Normativität intensiviert. Man könnte sagen: Raum ist ontologisch abgebildet. Bewegen-durch-Raum heißt heute ein Bewegen-durch-Bilder, vom hippen Café, in die niedliche Gasse, zum coolen Gra­ffitti, auf die hübsch-beblümte Parkbank, zum beeindruckenden Monument, der perspektivischen Straßenschlucht, etc. Alles, was dazwischen kommt und sich nicht zum Abbilden eignet, sammeln wir schlicht unter der Kategorie „Transit“ und verdrängen es wieder. Und darin sind wir ganz erfolgreich, denn: was nicht abgebildet, ist nicht erlebt, ist nicht (oder nur peripher) existent. In einem Begreifen genau dieser zwischen Bilder fallenden Räume als neu der Kategorie von Foucault’s „anderen Räumen“ (Foucault 1992) bzw. Augés „Nicht-Orten“ (Augé 1994) zugeordnet, liegt das Potenzial eines weiteren Papers.

5. Mögliche Erklärungen für Raumbilder

Die Reduktion des Raumes auf das Piktoriale wird hier als eine Auswirkung der Bildmedien auf uns und unsere Lebenswelt gesehen. Warum wir bereitwillig die eigene Existenz auf die Summe seiner Abbilder beschränken, ja Bildern (das Bildermachen ebenso wie das Wirken-auf-Bildern und das Wirken-durch-Bilder) mehr Wert zusprechen als dem Leben-als-Werden (dem Erlebten ebenso wie dem Lebendigen), gilt es noch zu begreifen. Erste, im Rahmen der Erarbeitung dieses Papers angestellte Überlegungen ergaben folgende drei potenziell zu vertiefende (und sicherlich voneinander nicht unabhängige) Erklärungen:

1. Bilder bieten uns die Möglichkeit, mit oft ineinander verworrenen und sich rapide spinnenden Erlebnissträngen begreifend-rational mitzuhalten. Nach einem ereignisreichen Wochenende, einer spannenden Reise, oder einer intensiven Arbeitswoche fragt man sich: Wie war das noch gewesen? Bilder können hier als Gedächtnisstütze ebenso wie als Verarbeitungsinstrument dienen. In einer Zeit, in der das Leben der Einzelnen immer schneller empfunden wird, da immer mehr simultan geschieht, ist es nur sinnig, dass wir nach Ankerpunkten suchen, um die Orientierung zu behalten. Gerade durch ihre Statik (siehe oben) eignen sich Bilder besonders gut zu diesem Zweck.

2. Während Erfahrungen, sind sie einmal durchlaufen, sich wieder verflüchtigen und nur noch als Erinnerungen bleiben, existieren Bilder in einem möglicherweise immerwährenden Präsenz: Einmal von etwas ein Bild geschossen (d. h. etwas auf und als Bild fixiert), besteht die Möglichkeit, es potenziell zeitlebens zu betrachten, ja es gar noch für die nächsten Generationen als zugänglich zu erhalten. Die Zeitigkeiten von Moment und Bild sind daher entgegengesetzt: Einmal erlebt sind Momente vorbei, einmal geschossen sind Bilder für immer. Das macht Bilder attraktiv und kreiert in uns das stetige Bedürfnis, auch nur die kleinsten Alltagsgeschehnisse piktorial festhalten zu wollen. Dies zeichnet sich insbesondere bei Kindern ab: Hat man noch vor einer Generation nur zu besonderen Ereignissen die einzige Kamera der Familie hervorgeholt und auf das Kind gerichtet, so lassen sich heutige Kindheiten zukünftig gewiss nahezu Tag für Tag anhand von (und aufgrund einer vertieften Praxis des Bildermachens: auch anhand von ästhetischeren) Bildern zurückverfolgen. Die konkrete Situation des Abbildens gestaltet sich jedoch eben durch die Zeitigkeit von Erfahrungen äußerst schwierig. Potenziell kann jeder Moment zu einem erinnerungs- d. h. bildwürdigen Moment werden, doch das weiß man erst, nachdem man diesen Moment durchlaufen hat (das klassische a posteriori). So gesehen besteht ein konstanter Druck, die Kamera nicht nur stets griffbereit zu haben, sondern sie auch immer schon (a prio­­­ri)
auf die eigene Lebenswelt zu richten. Das ganze Leben wird ein Bild, die Kamera zur Grundvoraussetzung fürs Leben. Pervertiert sich dieser Zugänglichkeitsaspekt von Bildern im Gedankengut des Einzelnen, neigt jener dazu, nicht nur via Bilder auf Erfahrungen zurückgreifen können zu wollen, sondern ständig auf sie zuzugreifen. Das heutige Phänomen des Binge-Watchings lässt sich nicht nur auf das Betrachten der Bilder anderer beziehen (der Serienmarathon ebenso wie das auch nur umgangssprachlich gemeinte „Stalken“ anderer Akteure in den sozialen Medien). Es kann auch propriozeptiv erfolgen, etwa in dem Sinne, dass der eigens generierte Bilder-Feed wieder und wieder durchgesehen wird. Wird die Akzessibilität des Bildes in der Praxis tatsächlich ausgeschöpft, so hat dies zum Effekt das Fahl-Werden der Momentaufnahme als Erlebnis, und somit auch das Abnutzen der Erinnerung an sich, welche zum Bild erstarrt, und final scrollen lässt.

3. Die dritte hier vorgebrachte Erklärung unserer heutigen Neigung, den eigenen Lebensraum auf Bilder zu reduzieren, wird im Zwischenmenschlichen verortet. Soll eine Erfahrung mit jemandem geteilt werden, so bedarf sie es, erzählt zu werden. Ein Erzählen nimmt Zeit in Anspruch (von der wir immer weniger haben in einer Welt der infiniten Selbstoptimierung, konstanten Erreichbarkeit und Wissensgenerierung, etc.) und kostet Mühe (die wir ja bereits in eben genannte Aktivitäten investieren). Im Gegensatz dazu kann, wie oben erwähnt, ein Bild schnell, einfach und ohne Worte präsentiert werden. Die Geste des Teilens von Erfahrungen hat sich vom Narrativen (der Spannungsbogen) hin zum Demonstrativen („Schau mal hier!“, oder sogar schlicht: „Da!“) verschoben, d. h. Bilder neigen heute dazu, Worte als Erklärungen zu verdrängen (die damit verbundenen Gefahren führen uns derzeitige Kriegsszenarien als Nebeneffekt vor Augen, siehe Grabbe/Held 2023). Uns selbst, ja unser Selbst zu präsentieren ist heute wohl wichtiger denn je (im Beruflich/Privaten, denn die Grenzen verschwimmen auch hier), und das Präsentieren funktioniert mit Bildern hemmungslos, jedoch nicht ohne Hürden. In ihrer Verwendung als Präsentation erscheinen Bilder unmissverständlicher, ja haben einen faktischeren Charakter als das Wort, denn auch in Zeiten von Photoshop, CGI und KI behält das Bild einen höheren Legitimierungswert und -effekt als das Gesprochene alleine (man beachte hier den Komparativ). Um für den anderen zugänglich zu sein und von ihm als authentisch (hier eröffnet sich ein anderer Diskurs) angesehen zu werden, reduziert der Einzelne daher paradoxerweise bereitwillig sein Sein auf die atopischen Bilder jenes, und wird in diesem Zuge selbst zum Bild (im Topischen), Baudrillard hätte gesagt: zum Simulakrum (siehe Baudrillard 1978: 6).

6. Zurück zum Topischen Bild

Es scheint, als ob Platon’S Definition von Bildern als unverortbar (atopoi, siehe Einleitung) dem Präsenz nicht mehr Stand halten kann, denn wie im vorliegenden Text argumentiert, sind hierhin Räume bzw. Orte ontologisch (auch) Bilder geworden. Wenn es nicht nur Bilder an Orten gibt, sondern wenn Orte selbst Bilder sind, dann sind Bilder ja topisch, bzw. dann gibt es ja eine Art von Bildern, die topisch, also örtlich ist. Jene Unterart von Bildern wurde hier in direkter Provokation zu Platon als „topisches Bild“ bezeichnet. Betrachten wir unseren Forschungsgegenstand noch einmal genauer.

Als topisches Bild wird hier eine bildhafte Komponente von Räumen be­zeichnet, d. h. ein Empfinden von Räumen als Bilder, weshalb diese hier erfasste Bilderart auch als „Raumbild“ betitelt wurde. Auch wenn der Raum selbst keine Bilder beinhaltet, befinden wir uns heute im Raum immer bereits im Bild, sehen also „im“ Raum ein Bild (Wollheim’s „seeing-in“, welches von Alloa bereits aufgegriffen wurde, siehe Alloa 2021: 489ff.), so die hier vorgelegte These.

Jedoch ist das Bild nicht der Raum als manifestes Ding. Das Bild ist nicht die Ansammlung von Stühlen, Tischen und Gerichten im Restaurant, es ist weder die Kellner noch die Gäste. Das Bild ist auch nicht das Konglomerat aus Waren und Reklamen, Flanierenden und Probierenden im Einkaufszentrum. Vielmehr ist das Bild etwas Abgesondertes hiervon, was nur durch das Haptische, Materielle, Dinghafte hindurchscheint (Vorsicht ist hier geboten mit den Begriffen „Architektur“ und „Design“, denn hierin ist das Bild heute ja stets mitgedacht, siehe oben, weshalb sie nicht verharmlost werden dürfen): eine Qualität, eben das von Alloa aufgegriffene „Diaphane“ (Alloa 2011: 92f.). Das Bild ist das Zusammenspiel aus soeben genannten Aspekten, welches als Idee erkannt wird oder zumindest erkannt werden kann. Im hier behandelten Kontext ist das Bild eine piktoriale Potentialität, die sich im Raum befindet. Es entsteht im Zusammenspiel aus einem sich situativ ergebenden Ensemble von Dingen einerseits und einem momentanen Erkennen der Bildfähigkeit dieses Ensembles (oder eines Teils davon) andererseits, und bleibt damit als Konglomerat selbst prekär.

Das Raumbild ist die Idee eines potenziellen Klick des Fotografierens, eine Einladung zum Festhalten, welches erfolgen soll (ein Aspekt des Bilderdrucks), aber Stand jetzt nicht erfolgen muss. Ontologisch befindet sich das Raumbild daher im Zwischenraum von Räumen (Raum-Dingen) und insbes. Fotos(-von-Räumen). Es ist weder der Raum noch das Bild-vom-Raum, sondern der Raum-als-Bild, wobei letzteres Konzept analog zu Wittgenstein’s Bildersehen als „seeing-as“ verstanden werden kann (siehe ebenfalls Alloa 2021: 485ff.): In beiden Begriff­lichkeiten hält sich im „-als(-)“ die Idee versteckt. Im Rückbezug auf Platon heißt das: Auch im Topischen bleibt das Bild eine Idee.

Räumen haftet eine Idee von Bild an. Das Bild ist eine Weise, in der sich Raum manifestiert und uns sinnlich aufdrängt. Die Bildidee, also das Bild als Idee, ist Teil des Raumes, jedoch kein dinghafter, sondern eher ein Teil, der als „atmo­sphärisch“ beschrieben werden könnte. Das Raumbild befindet sich also im Raum. Jedoch ist dieses „im“ kein gewöhnliches „im“ wie das Wasser „im“ Glas (für diesen Vergleich siehe Heidegger 2006: 54). Es handelt sich um ein alternatives „im“ (wie auch Heidegger’s „in“ in „In-der-Welt-Sein“, ebd.), welches nicht als schlichte Lokalangabe, sondern vielmehr als Attribut verstanden werden soll: ein Wohnen-bei (ebd.), ein Strömen-aus.

Das topische Bild ist im Topischen kein Ding, evoziert jedoch atopische Dinge. Denn eine Wirkung des Raumbildes ist es, dass wir ein Ding im Raum sehen, d. h. den Raum als Ding sehen, um dann oft den Raum zum Ding (dem Foto) zu machen, indem wir ein Bild von ihm „schießen“. Die Gewalt dieser Tat (der „Schuss“) zeigt sich bereits in diesem nicht nur im Deutschen gängigen Verb (vgl. das Shooting, der Snapshot). Der Griff zum Handy wird hier eine Drohgebärde, die Kamera zur Waffe. Es hat etwas Übermächtiges, Überwältigendes, Aneignendes an sich, dieses Bilder-Schießen.

Platon beschrieb das Bild als weder ganz Ding (es ist nicht das Abgebildete) noch ganz Nichts (da eben Bild) (siehe Platon, Sophistes, 240b), was ihn dazu führte, das Bild als „atopoi“ zu definieren. Zusammenfassend wurde das hier behandelte Bild, da als Raum existierend, keck als „topisch“ bezeichnet. Es handelt sich um eine örtliche Art des Bildes. Jedoch ist, wie hier nun final erarbeitet, auch das topische Bild nicht der Raum, sondern nur eine Idee des Raumes. Aus diesem Grund ist auch das topische Bild atopisch. Die hier untersuchte Art von Bild ist also ein „topisch-atopisches“, bzw. ein „a/topisches“ Bild, so könnte man den hier präsentierten Gedankengang schließen.

Auch in einem Heute der piktorialen Durchdringung von Orten und dem Verschwimmen der Grenzen zwischen Bild und Abgebildetem, d. h. konkret: auch in einem Heute der Raumbilder behält Platon also Recht mit seiner Definition von Bildern als atopisch, und das ist für sich allein genommen schon bemerkenswert. Jedoch, und hier kommt nun der Einwand als Raison-d’Être dieses Papers, ist das Raumbild nicht ebenso atopisch wie andere Bilderarten. Der Grund hierfür ist, dass topischen Bildern der dinghafte Charakterzug gänzlich fehlt, der atopi­schen Bildern als Dinge im Raum anhaftet. Dies unterscheidet den Raum-als-Bild vom Bild-im-Raum wie hier definiert.

Zum einen muss das Raumbild nicht fotografiert (oder gar gemalt, in Stein gehauen, oder virtuell konzipiert) werden, um zu sein. Es ist bereits als ein Konglomerat aus örtlichen Faktoren. Zum anderen löst sich das Raumbild ebenfalls schneller wieder auf, als atopische Bilder es können. Einmal Fotografiertes ist fotografiert (es wird eventuell noch nachbearbeitet, aber spätestens wenn es gepostet wurde, ist es als Post verewigt). Wenn jedoch Leute im Restaurant zahlen und gehen, andere Leute sich an ihren Tisch setzen, andere Gerichte bestellen, eine andere Tageszeit anbricht, ein anderer Kellner seine Schicht beginnt – immer dann verändert sich das Raumbild. Das atopische Bild bleibt. Das to­­pische Bild wird, und erschafft dadurch die Möglichkeit immer wieder neuer atopischer Bilder. Topische Bilder sind weniger statisch als andere Arten von Bildern. Dadurch sind sie paradoxerweise atopischer als atopische Bilder, d. h. als solche Bilder, die bisher als atopisch bezeichnet wurden. Raumbilder stellen demnach eine gesteigerte Form des Atopischen dar.

Alloa sieht in bzw. zieht aus Platon’s oben erwähnter Aussage die These, dass Bilder eine dritte ontologische Kategorie eröffnen. Er schreibt: „Das Bild schillert […] zwischen Sein und Nichtsein“ (Alloa 2011: 20). Der Fokus muss hier auf dem Verb liegen: Für Alloa ist das Bild ontologisch ein Schillern (daher: diaphan). Und genau damit existiert es im und als Dazwischen. Ist also das atopische Bild ein Nicht/Sein, ein Ja/Nein, so lässt sich das topische Bild als ein „Doch/Nicht“ klassifizieren: Es schillert noch intensiver an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein.

In seinem Sein ist das Raumbild ein Sein des Nicht/Seins, das durch das Nicht/Sein entsteht (atopische Bilder der Bildmedien) und Nicht/Sein (Fotografien) nicht nur zulässt, sondern aktiv provoziert. In seinem Nichtsein ist das Raumbild noch konstanter und drängender als andere Bilder, weil es niemals ganz und einfach nur ist, auch wenn es solche Tendenzen in unserem Verspüren auslöst (hier als „Bilderdruck“ beschrieben). Und genau in dieser verstärkten Form des Nicht/Seins bedürfen Raumbilder als topische-atopischere Bilder einer bild­theoretischen Untersuchung sui generis, wofür hier plädiert wird.

7. Das Präsente und Zukünftige Anliegen

Das Anliegen des nun vorliegenden Papers bestand darin, 1. das Konzept des Raumbildes zu präsentieren, es 2. in seiner Akuität zu beweisen und 3. einige der Gedankenstränge zu initiieren, welche das Raumbild als Konzept eröffnet und ermöglicht.

Um nur ein paar der sich auf Basis dessen eröffnenden Arbeitsfelder zu nennen: Im vorliegenden Text heißt es bereits, dass Raumbilder oft auch nur Abbildungen von Teilen bestehender Räume provozieren. Es bleibt dabei noch ungeklärt, inwieweit es direkt der Raum ist, der bestimmt, was (auch: welcher Ausschnitt) bildwürdig ist und was nicht (hier landen wir bei so antiken Themen wie etwa der Symmetrie als Kriterium des Bildermachens), und inwieweit diese Macht auch den atopischen Bildern jenes zufällt, d. h. auf welche Weisen das ontologische Abgebildetsein des Raumes abzubildende Ausschnitte vorgibt. Ob Raum-als-Ding oder Raum-als-Idee (Raumbild), in beiden Fällen erscheinen Ausschnitt und Perspektive nicht vom Menschen gewählt, sondern vom Raum determiniert. In dieser Thematik beinhaltet ist sicherlich auch die Frage nach den Rahmungspraktiken des Raumes: Was fällt hintenüber? Was ist piktorialer „Müll“ (vgl. Foucault und Augé, jeweils siehe oben)? Und was kann ein subversives Ins-Bild-Setzen jenes uns über die Beschaffenheit, Entstehungs- und Wirkungsweisen von Raumbildern lehren?

Eine weitere bereits im Text erwähnte Fragestellung ist, wie sich die Piktorialität von Räumen auf die darin lebenden Menschen auswirkt. Wie passen wir Aufmachung und Benehmen konkret der konstanten Möglichkeit des Bildermachens und Abgebildet-Werdens an, welche im Selfie zusammenfallen? Eine mögliche vorläufige These ist, dass diese Situation einen Dress- und Verhaltens­code evoziert, der sich nur noch im Digitalen entschlüsseln lässt, im Realen jedoch bisweilen (noch) Befremdlichkeit auslösen kann. Warum läuft eine Person etwa mehrmals über ein und dieselbe Ampel? Warum ist eine Frau an einem wochentäglichen Vormittag so stark geschminkt, wie es derzeit eigentlich nur im Nachtleben üblich ist? Und warum singt und tanzt jemand mitten im Park? Nicht weil derjenige Geld erhalten möchte, sondern weil er den Content seines neuen Posts kreiert. Es handelt sich hierbei um eine körperästhetische Frage­stellung, die sicherlich zusätzlich auch einer Methodik aus diesem Bereich bedarf; quasi eine Fortführung im Westlich-Digitalen von Stephen Davies ethno­graphischer Analyse der „self-decoration“ (siehe Davies 2020) bzw. ein In­kludieren der Aspekte „Mode“ und „Medien“ in den von Shusterman initi­ierten Bereich der Somästhetik (siehe bspw. Shusterman 2018).

Außerdem wäre es sicherlich spannend zu erkunden, inwieweit sich das Konzept des topischen Bildes dazu verwenden lässt, virtuelle bzw. augmentierte Realitäten zu begreifen. Drei Faktoren werden hierfür interessant: 1. VR/AR-generierte Bilder sind bestrebt, als Raum (topisch) zu erscheinen (sie sind immersiv, d. h. man soll in sie eintauchen und/oder die Grenze zwischen Raum und Bild nicht mehr erkennen (wollen)). 2. Sie lassen eigene Räume (virtuelle Umwelten) entstehen. 3. Und sie lassen oft auch den Raum komplett als Bildfaktor außenvor (für eine initiierte Analyse jener Thematik siehe Martach 2024a, 48-49).

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Citation

Swantje Martach: Das Topische Bild. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 40, 7. Jg., (2)2024, S. 267-283

ISSN

1614-0885

DOI

10.1453/1614-0885-2-2024-16438

First published online

Oktober/2024