Von Lars C. Grabbe und Manuel van der Veen
Die Augmented Reality ist bildtheoretisch gesprochen ein Modus der Erweiterung von digitalen Bildern, wobei hier entweder das Digitale als ein Superadditum des Wirklichen gilt oder aber das Virtuelle selbst durch Hinzufügen von physikalischen Interfaces und Interpositionen als augmentiert erscheint (vgl. Milgram et al. 1994). Bildtheoretisch notwendig erscheint die Frage, im Spannungsfeld von Augmented Reality und Augmented Virtuality, wie sich die Erweiterung als eine Frage des Bildes oder des Bildverstehens analytisch fassen und bestimmen lässt. Die Augmentation stellt neben den Begriffen der Extension und der Expansion eine Erweiterung, Ausdehnung, eine Fortsetzung, Verlängerung oder sensorische Kontagierung (vgl. Grabbe 2024) des Bildlichen in Aussicht. Eine Ausweitung der Realitätszone wird somit auf die Übertragung bestimmter Wirklichkeitseigenschaften in einen anderen Bereich hindeuten. Die unidirektionale Erweiterungsmetaphorik der Realität verunsichert gleichzeitig das Geschehen und fordert zu einer genaueren Bestimmung einer Augmented Virtuality heraus. Welche Bereiche treffen aufeinander? In welche Richtung, wo und wie finden die Übergänge statt? Zusammen mit der Augmentation erscheint somit das große X der Crossed Realities (Dresscher/Verhoeff 2020) an deren Schnittmengen, die Frage nach dem Bild zu stellen ist. Der Sammelband rückt daher explizit verschiedene Art und Weisen des Übergangs in den Fokus.
Das erweiternde Moment der digitalen Bildaugmentation verweist auf technische Abhängigkeiten, denn ohne eine spezifische Technologie wäre das digitale Bild nicht an eine Wirklichkeit (oder deren Areal) heranzuführen, und andererseits auf eine semantische Prozedur der logischen Verwendung, denn ohne verwirklichte Handlungsprozesse wäre der Nutzwert augmentierter Bilder nicht gegeben. Mit Augmentations-Apparaten stehen zudem natürliche und technische Weltwahrnehmung mindestens in einem Verhältnis – wirkliche Gegenstände werden in das berechnete Bild der Umgebung eingefügt wie auch digitale Bilder in die wirkliche Umgebung. Dadurch ergeben sich eine Vielzahl an Interaktionsmöglichkeiten: zwischen verschiedenen Wahrnehmungsprozessen, Prozessoren, Displays, Interfaces und Umgebungen, Eingriffen in das Bild und/oder bestehende Objekte.
Da sich in der westlichen Kunstgeschichte für Bilder herausentwickelt hat, dass diese ihre eigene Abgrenzung zur Welt markieren (durch den Rahmen, die Leinwand, die Monitorgröße etc.), müssten bildtheoretische Modelle der Augmented Reality die artifizielle Ebene der Erweiterung produktiv nutzbar machen können. Die Augmentation stellt zentrifugale Kräfte in Aussicht, die auf das Außerhalb der Bilder wirken – eine Aussicht, die letztlich den Begriff des Bildes einer Revision unterziehen lässt. Schließlich werden Grenzen durch Augmentationen nicht konsequent verneint, sondern bedürfen der Berücksichtigung von Schwellen, Übergängen, Kaschierungen und beweglichen Grenzen. Welche alternativen Rahmenkonzepte aus der Bild- und Mediengeschichte sind zu bedenken, um dem Aufspaltungsinteresse und den Substitutionsträumen produktive (Dis-)Kontinuitäten entgegenzusetzen?
Das augmentierte Bild zeigt sich darüber hinaus als ein dynamisches Artefakt, welches sich kontinuierlich über unterschiedliche Verarbeitungszustände realisiert, die ihrerseits nicht fixiert sind, wie es bspw. bei dem Motiv einer Fotografie der Fall wäre. Die Überlagerung ist zwar ein Zustand, allerdings kein Endzustand, sondern stets ein prozessual offenes Bildkonstrukt. Wie ist Interaktion zu beschreiben, wenn die Konstellation Anwender:innen–Interface–Bild (Code), um tatsächliche Objekte, physikalische Kräfte, optische und taktile Phänomene, Realdistanzen, körperliche Bewegungen und psychologisch relevante Proportionen erweitert wird. Sowohl tatsächliche Orte als auch räumliche und zeitliche Abstände werden zu dynamischen Faktoren, welche die Handlungs- und Wahrnehmungsprozesse beeinflussen. Welche psychologische Affizierung resultiert aus der kaschierten Grenze zwischen Bild und Umgebung? Dient die Schnittstelle als Schutzschirm, Gebrauchsanweisung, Interface, als Persönlichkeitserweiterung oder zur Dosierung von Perzeptionsprojektilen? Welche rezeptionsästhetischen Ansätze lassen sich auf die neue Bildkonstellation erweitern und inwiefern werden dafür Rezeption, Interaktion und Produktion überlagert? Da sich der Verbund aus Bild und Augmentation durch Technologien realisiert, die Zeit und Raum, Bild, Beobachter:innen und Milieu handlungslogisch aufeinander beziehen, ist die sensorische Reizverarbeitung der Rezipierenden eine weitere differentia specifica als ein wahrnehmungstheoretisches Merkmal, welches klassische Bilder in dieser Form technisch nicht ermöglichten.
Die Erweiterung, so die These der Herausgebenden, erfordert Überlagerungen zwischen Bild- und Realitätsebenen: Diese Überlagerungen müssen eine kausale Beziehung herstellen zwischen Realobjekt und Bildobjekt, gleichzeitig aber muss diese Kausalbeziehung in eine Relation aus Positionsbestimmung und technischer Kalibrierung eingebunden sein. Die Überlagerung erfordert je ausgeprägte Formen der interaktiven Aneignung und eine vollständig realisierte Echtzeitorientierung, wobei das digitale Bild gleichzeitig auf die telemetrische Verarbeitung, teil-physikalische Abstimmung und systemische Integration von raumbezogenen Daten angewiesen ist. Erneut wird dadurch ersichtlich wie nicht nur die Realität einer Erweiterung unterzogen wird, sondern auch die Realität in das interveniert, was hier durch die Mitwirkenden als Zusammenschluss von Bild und Augmentation vielfältig skizziert wird.
Die Besprechung der erweiterten Realität wird mit einer Aufteilung beginnen, die im Titel angedacht ist. Diese Aufteilung in Bild und Augmentation wird dem Zusammenschluss von Erweiterung und Realität als Augmented Reality (AR) vorgezogen, da letztere nur eine Richtung provozieren kann und von dieser aus soll nicht weniger erweitert werden als die Realität im Ganzen. Was jedoch Erweiterung dabei bedeuten kann, womit erweitert wird und was dieser Vorgang hinter sich lässt, geht in der Verführungskraft gängiger Realitätsdebatten verloren. Wird die Realität zugunsten einer illusionären Umgebung aufgelöst oder wird ihr eine zweite Realität aufgezwängt (vgl. Chalmers 2022)? Lässt sich Realität überhaupt erweitern? Was bedeutet noch Erweiterung, wenn diese als Illusion ununterscheidbar von der Realität erscheinen soll? Wie hilfreich sind Begriffe wie die „reale Realität“ (Esposito 1998: 270) gegenüber ihrer Augmentation? Mit was und wie wird die Realität augmentiert? Durch eine Überlagerung der Virtualität oder durch eine Verquickung des Physischen mit dem Digitalen? Aber ist das Digitale nicht ebenso physisch abhängig wie die Virtualität real ist? Die in diesem Band als Reaktion vollführte Aufteilung in „Bild und Augmentation“ agiert in diesem Sinne entgegen der Befürchtung und Hoffnung einer künftigen Untrennbarkeit zwischen Sein und Schein. Statt sich mit überkommenen Dichotomien wie real und virtuell oder digital und analog aufzuhalten, werden hier zwei konkrete Begriffe untersucht, die nicht im Gegensatz stehen, sondern eine bildlogische Allianz aufweisen. Mit der Aufteilung in Bild und Augmentation soll die Diskussion um Realität durch ein konkretes Anliegen ersetzt, der Begriff der Augmentation für eine Bestimmung geöffnet und eine These vorangestellt werden. Schließlich steckt zwischen Erweiterung und Realität ebenfalls ein alter Streit zwischen Fläche und Tiefe, der einer einfachen Lösung harrt. Wird denn nicht ganz simpel mit AR die Realität, das ist meist der phänomenale Raum, mit einem Bildraum überlagert? Doch auch diese nüchterne Beschreibung wird beständig von dem Versprechen der drei Dimensionen bedrängt, in denen einige Techniker:innen und Theoretiker:innen die Erfüllung von AR spüren (vgl. Ströbele/Kölmel 2023). Dieser Übergang von den zwei zu drei Dimensionen wird von einer ausufernden Rahmenlosigkeit und damit von einem entgrenzten Bildversprechen begleitet. „Bild und Augmentation“ stellt also zwei Begriffe zur Revision bereit, die in ihrer tangentialen Berührung eine aktuelle Technologie sowie deren Besprechung umreißen können.
Mit der terminologischen Aufteilung dieses Bandes erfolgt ebenso eine Ablösung des Begriffs der Augmentation von einer bestimmten Technik (AR). Insofern geht die Ablösung mit einer Verschiebung einher, die aktuell in der Technologielandschaft der Extended Realities (XR) stattfindet und dazu auffordert bestimmte Übergänge und Verbindungen zwischen verschiedenen Techniken zu diskutieren. Die Produktivität dieser Verschiebung tritt am klarsten hervor, wenn man die bisherige Besprechung der XR (vgl. Verhoeff/Dresscher 2020), also der Virtual, Augmented und Mixed Reality, betrachtet. Während die Techniken in den 1990er-Jahren als Kontinuum ausgelegt wurden, waren die Analysen in den 2000er-Jahren auf eine klare Trennung bedacht (vgl. Manovich 2002; Fahle 2006). Für die konzeptuellen Übergänge in den 1990er–Jahren ist das Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum tragend geworden: Die Aufteilung einer Mixed Reality zwischen Realität und virtueller Realität (VR), wobei die Mixed Reality ein Gemenge zwischen augmentierter Realität und augmentierter Virtualität (AV) umfasst, welches die Ränder Realität und Virtualität nicht berührt (vgl. Milgram/Kishino 1994). Das Kontinuum kündigte eine produktive Unschärfe an, die jedoch ebenso für Verwirrung sorgte. Denn die Unschärfe ist ebenfalls in frühen Beispielen zu finden, wie im „Golden Calf“ (ebenfalls von 1994) des Künstlers Jeffrey Shaw, dessen AR gar nicht die aktuelle Umgebung zeigt (vgl. Schröter 2009) oder Ivan E. Sutherlands ultimatives Display, das zwar die aktuelle Umgebung zeigt, aber als VR benannt wurde (vgl. Sutherland 2007; Günzel 2022). Über das Kontinuum wurden somit unterschiedliche Techniken und teils entgegengesetzte Anliegen lückenlos aneinandergereiht, die jeweils auf verschiedene kunst- und bildhistorische Fragestellungen abzielen. Schließlich steht mit der Immersion einer VR der Bildbegriff grundlegend infrage, während mit AR kaschierte Grenzen zu untersuchen wären. VR und AR verweisen daher auf unterschiedliche kunsthistorische Traditionen (vgl. Beitin 2018). Das Kontinuum hatte folglich Ordnungsfragen bildtheoretischer, historischer und konzeptueller Art bereits übersprungen. Wie hängen Immersion und Augmentation überhaupt zusammen und wann schlägt die augmentierte Realität in die augmentierte Virtualität um? Der am Anfang gesetzte nahtlose Übergang hat in gewisser Weise verhindert, dass die einzelnen Spezifika ausbuchstabiert werden konnten und sorgt noch heute in der Umgangssprache für eine Verwirrung zwischen den Techniken und Konzepten. Allein die Frage nach der Rahmenlosigkeit variiert mit den verschiedenen Geräten wie Smartphones, Tablets und HMDs (Head-Mounted Displays), welche derzeit alle im Einsatz für AR konkrete Verwendung finden. Geräte, die ebenfalls für VR genutzt werden und dadurch zwei Konzepte einerseits aneinander annähern und andererseits gerade dadurch differenzieren lassen. In der Zwischenzeit wurden verschiedene Differenzierungsvorschläge gemacht, die als Trennungen zwar produktiv, aber in Konfrontation mit neuesten Entwicklungen nicht mehr umfassend gültig sind. Auf das konzeptuelle Kontinuum folgten also Differenzierungsvorschläge, die heute erneut mit Kontinuitäten konfrontiert sind. Kontinuitäten, die jedoch dieses Mal vonseiten der Technik herrühren.
Die aktuelle Verschiebung in der Technologielandschaft kündigt nämlich erneut eine Aufhebung der Trennung zwischen AR und VR an wie auch der verschiedenen Bereiche dazwischen (vgl. Urban/Reich/Van Der Veen 2023). Ein simpler double tap an die Seite der VR-Brillen lässt die Sprünge zwischen verschiedenen „Realitäten“, zwischen einer Durchsicht auf die direkte Umgebung und dem Blick auf eine virtuelle Landschaft kinderleicht erscheinen, als ob diese unmittelbar benachbart wären. Ein Feature, das jedoch eine technische Erweiterung von VR-Brillen voraussetzte, die bis vor kurzem auf sich warten ließ. Während VR in der Vergangenheit nur rudimentäre Raumerkennung ermöglichte, werden die Brillen nun mit Sensoren und Scannern ausgestattet, die bislang für die Zwecke der AR an Smartphones und Tablets angebracht waren. Nun geht es darum, die Wahrnehmung des Außenraums in die eigentlich hermetische VR zu integrieren, um das Kontinuum durch einen Sprung (double tap) zu ersetzen. Augmentierte und virtuelle Realität sind heute technisch gesehen näher als je zuvor. Aber nicht nur AR und VR teilen sich jetzt eine Brille, denn genauso gut kann darin eine augmentierte Virtualität stattfinden. Diese stellt einen besonderen Fall dar, die wie die AR auf Raumerkennung fußt, aber wie die VR den Blick von eben jenem Außenraum abschirmt. Dass es sich dennoch um ein Spiel zwischen den „Realitäten“ handelt, ist dann meist nur an kleinen Momenten der Dopplung ersichtlich, welche die Trennung durchschlagen. Bspw. wird der Controller, den wir in Händen halten, von einem animierten Double überlagert, das durch die virtuelle Welt gestikuliert und unseren tatsächlichen Bewegungen folgt. Ein Phänomen, das in einer Vielzahl aktueller VR-Spiele und in der zeitgenössischen Kunst Verwendung findet, dort aber häufig von dem Begriff der virtuellen Realität absorbiert wird. Es gab also auf der einen Seite ein Bedürfnis, die verschiedenen Techniken und Konzepte um VR, AR und AV auseinanderzuhalten und auf der anderen Seite immer wieder Versuche und Phänomen, welche diese Trennungen kaschieren. Wie verändert sich die Fragestellung, wenn auf den Übergang die Trennung und auf die Trennung ein Übergang folgte? Dieser Band setzt an diesem Punkt der Verschiebung an: Was bedeuten die Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Verfahren, wie sie aktuell in die Technik eingebettet werden, nachdem die Verfahren im Anschluss an die Kontinuitätsbeschreibung auseinanderdifferenziert wurden?
Dieser Auftakt möchte folglich eine Überlegung zuspitzen, um die es im Folgenden geht. Dass es überhaupt möglich ist, alle diese verschiedenen Techniken in einem einzigen Gerät zu vereinen, führt vor, wie diesen etwas gemeinsam ist, was über eine bloße graduelle Steigerung eines „Virtualitätsanteils“ im Kontinuum hinausgeht. Diese Gemeinsamkeit ist versuchsweise hier unter dem Begriff der Augmentation angestrebt. Sei dies die Augmentation der VR durch die Raumerkennung der AR, diejenige der AR durch die Videodurchsicht einer Mixed Reality Brille (passthrough), die Erweiterung der AV durch manuelle Flächenverteilung im Raum (wenn der Raum nicht gescannt, sondern händisch nachgezeichnet wird), die Erweiterung der AR um zufällige Randerscheinungen, multiple Zeitlichkeiten oder die Körper der Betrachtenden, der VR durch multimodale Interfaces oder der virtuellen Welten um ganze Setups vor Ort. Damit ist jedoch längst nicht die Untersuchung der Augmentation als Gemeinsamkeit der XR abgeschlossen, sondern nur das Offensichtliche benannt. Den vielzähligen Aufschlüsselungen mit Hilfe der im Titel angekündigten Begriffe sind die verschiedenen Aufsätze dieser Ausgabe gewidmet, denn schließlich geht das, was erweitert wird, nicht in den technischen Mitteln auf.
Verschiedene Annäherungen, die sich in dieser Ausgabe als markant erwiesen haben, sollen hier in der Einleitung kontextualisiert und an die einleitenden Überlegungen rückgebunden werden. Das ist erstens die Augmentation, welche den Außenraum betrifft und zugleich umfasst, was dazwischen ist – der Körper der Betrachtenden, User, Künstler:innen und Entwickler:innen. Neben dem Begriff der Augmentation, welcher hier kurz angesprochen wurde, ist eine zweite übergreifende Herausforderung der Begriff des Bildes, der infrage steht. Wie verändert sich dieser im Nebeneinander mit der Augmentation zwischen Raum und Körper, wenn räumliche und körperliche Bilder bereits einen Angriff auf klassische Bildkonzeptionen bedeuten? Dies fordert nicht nur eine philosophische und eine historische Differenzierung heraus, welche nach Vorläufern von „Bild und Augmentation“ fragt, sondern auch den Rand des Bildes, dessen Grenze, an welcher sich der Außenraum und die Körper der Betrachtenden befinden.
1. Begriff und Geschichte des augmentierten Bildes
Eine Motivation, die Entwicklung von AR-Technologie voranzutreiben, welche unter vielfältigen spielerischen Realitätserweiterungen häufig vergessen wird, ist der Arbeitssektor. Das ist die Integration von AR im Arbeitsalltag von Industrie, Forschung und Produktion, die bis zur Bewerbung der Produkte reicht. So wird AR bspw. häufig zur Wartung von Maschinen eingesetzt, aber auch von Künstler:innen in der Produktion „klassischer“ Skulpturen verwendet oder wie von dem KünstlerInnenduo Christa Sommerer und Laurent Mignonneau in „AR(t)chive“ (2022) zur Archivierung der eigenen Werke. VR dagegen wird meist im Unterhaltungssektor hervorgehoben, da diese bereits eine Karriere im Gaming aufzuweisen hat, obwohl VR ebenfalls zur Therapie, zum Training, zur Grundlagenforschung und zum Entwerfen (vgl. Nakas/Reinfeld 2022) genutzt wird. Die jüngsten Entwicklungen zeigen somit verstärkt Versuche, den der AR und VR impliziten Alltagswert zu betonen. Dies beinhaltet außerdem das Versprechen, das eigene Zuhause zu augmentieren. Unter anderem betrifft dies das Bestreben, mit AR-Brillen herkömmliche Monitore und Screens zu ersetzen, um, wie mit der Apple Vision Pro, Bildschirme in den Raum zu projizieren und den Arbeitsalltag am PC räumlich zu erweitern. Ein Versprechen, das parallel zum vielfältigen Vermittlungsangebot verschiedener Museen und Ausstellungen verläuft, die mit AR experimentieren, um entweder die augmentierte Anreicherung bestehender Werke durch überlagerte Informationen voranzutreiben oder um eben jene Werke zur freien Platzierung im Eigenheim verfügbar zu machen. Im Kunstbetrieb kursiert dies als „Kunst für Zuhause“. Ein Phänomen, das über AR hinausreicht und bereits ältere Medien begleitete. So forderten vor allem in der Hochzeit der Covid 19-Pandemie zwischen 2020 und 2023 einige Ausstellungen dazu auf, die dort platzierten Werke auch im Eigenheim zu platzieren. Sei dies als Alternative zu Ausstellungen im öffentlichen Raum wie in Jenny Holzers Kunstprojekt „You Be My Ally“ 2020 in Chicago, in dem ihre Werke des öffentlichen Raums auch über AR auf die eigenen Möbel projiziert werden konnten, als Augmented Exhibition wie in KAWs Ausstellung „NEW FICTION“, die über die AR-Applikation „Acute Art“ eine Erweiterung im Eigenheim fand, das zur Ausstellungsfläche mutierte oder einfach nur als Angebot wie von derselben App beworben, virtuelle Skulpturen in den eigenen vier Wänden zu skalieren.
Diese Bewegung vom Ausstellungsraum zum Eigenheim ist deshalb so produktiv, weil sie erstens den Betrachtenden und ihrer Lebenswelt buchstäblich entgegenkommt und zweitens, weil die Bewegung eine Bildtradition in den Vordergrund rückt, welche bislang in der Peripherie verharrte und mit dem Trompe-l’œil einen Namen findet. Eine Bewegung, welche zugleich die Frage nach der Kunst stellt und was mit dieser während des Transports geschieht. Das Trompe-l’œil ist verallgemeinernd gesprochen, ein Bild, das nicht als Bild, sondern als Alltagsgegenstand erscheinen soll. Anstatt also ein Bild an der Wand zu erkennen, sieht man zuerst einen Alltagsgegenstand neben anderen. Eine Bildtradition, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert den Bereich des Alltags infiltriert und seitdem kaum eine visuelle Veränderung durchlaufen hat. Für die Gegenüberstellung ist maßgeblich, dass beide Bildpraktiken, Trompe-l’œil und AR, verwandte Fragestellungen aufwerfen. Worin liegt die Differenz zwischen Bild und Umgebung, wenn beide zuerst visuell ununterscheidbar ineinander übergehen? Wie soll man sich in einem Raum verhalten, der durch Bildobjekte und physische Objekte strukturiert wird? Was bedeutet dies für unseren Begriff der Augmentation? Eine Verwandtschaft, die ebenfalls für die Produktion ergiebig ist. Denn wie in AR ist es mit dem Trompe-l’œil Aufgabe der Künstler:innen, nicht nur über die Wiedergabe eines einzelnen Gegenstandes zu sinnieren, sondern ebenfalls eine Umgebung mitzudenken wie auch die verschiedenen Modi ein Bild in eine Umgebung einzubetten oder interaktiv miteinander in Beziehung zu setzen. Schließlich findet sich auf den meisten Trompe-l’œils sowohl ein Gegenstand wie eine Geige, ein Kamm oder eine Brille als auch ein Stück der Wand oder der Tür. Ein Umstand, der das Trompe-l’œil weiter zurückverfolgen lässt bis zur illusionistischen Deckenmalerei der Quadratura (GANZ 2011). Diese Technik unterscheidet sich von einem Trompe-l’œil-Gemälde, das den Alltag ins Bild setzt, insofern die illusionistische Deckenmalerei einen Übergang vom Gewöhnlichen zum Außergewöhnlichen erzeugt. Wenn am Rand der Deckenöffnung erst Architektur gemalt wird, dann blauer Himmel und schließlich fantastische Wesen. Eine piktorale Übergangszone zwischen der wirklichen Umgebung, der ermalten Architektur und dem „fiktiven“ Bildinhalt. Der Übergang zwischen dem Raum der Betrachtenden und dem Bildraum wird hier im Bild wiederholt und thematisiert. Dabei ist es nicht das Ziel, die Architektur lediglich fortzusetzen und zu reproduzieren, sondern sie mithilfe des Bildes im entscheidenden Moment zu verformen. Weiterhin wäre in der Reihe eines kaschierten Übergangs zwischen Bild und Umgebung die Phantasmagorie zu nennen. Der Kunst- und Medienwissenschaflter Noam M. Elcott hat hierfür bereits unter dem Namen des phantasmagorischen Dispositivs eine Verbindung zwischen Projektionstechniken wie in Gary Hills Kunstwerk „Tall Ships“ (1992) und der bekannten phantasmagorischen Attraktion „Peppers Ghost“ hergestellt, die er ebenfalls in Beziehung zum Trompe-l’œil und zur AR setzt (vgl. Elcott 2016).
In diesem kunsthistorischen Streifzug ist eine Variante des klassischen Trompe-l’oeils erwähnenswert, welche geradezu gegenläufig bewusst auf die Integration des Außenraums im Bild verzichtet: das Trompe-l’œil-Cut-out. Gemeint sind bspw. die sogenannten „Dummy Boards“ – auf Holz gemalte Figuren, deren Umraum abgeschnitten wurde. Dadurch erlangen die Bilder einen hohen Grad an Mobilität und lassen sich an verschiedensten Orten geschickt einfügen. Eine Freistellung des „Bildgegenstandes“, welche anschließend ermöglicht, das Bildobjekt wie in gegenwärtigen Montagetechniken von Bildbearbeitungsprogrammen in einen beliebigen Kontext zu versetzen. Ein traditionelles Verfahren, das erneut vom Trompe-l’œil bis zur AR reicht, wenn im „Hintergrund“ der Programme stetig die virtuelle Umgebung hinaus und die physische Umgebung hinein gerechnet werden muss. Mit der verkürzten Erwähnung von Trompe-l’œil, illusionistischer Deckenmalerei, der Phantasmagorie und Cut-outs ist bereits das Terrain von „Bild und Augmentation“ betreten, dass eine Aktualisierung der Besprechung von digitalen Bildern erfordert.
Maja-Lisa Müllers Beitrag Schnittstellen. Figurationen der Erweiterung und des Übergangs in Intarsien in diesem Band erweitert die Reihe um das Verfahren der Intarsie. Ein Verfahren, in dem das Ausschneiden und Einbetten essenzieller Bestandteil der Technik ist. Darin verknüpft die Autorin Bild- und Objektwissenschaften, um über eine historische Untersuchung den Bildbegriff zu verunsichern. Mit dem Fokus auf den Rahmen, der in dominierenden Konzeptionen als Grenze und Abgrenzung des Bildes dient, fördert sie ein Rahmenkonzept vormoderne Werke hervor, dass als Schwellensituationen ebenfalls eine Untersuchungsfolie für die gegenwärtig kursierenden augmentierten Bilder, Objekte und „Realitäten“ anbietet. In der aktuellen Besprechung von AR fällt dies ins Gewicht, da unter der prominenten Auflösung von Realität durch die Techniken der XR sowie den verschwommenen Abgrenzungen dazwischen ein geeigneter Werkzeugkasten aus der begrifflichen Unsicherheit herauszuhelfen verspricht. Nur wenn man sich weiterhin am dominanten Rahmenbegriff der stabilen Grenze klammert, fallen die augmentierten Bilder aus dem Rahmen einer vergleichbaren Untersuchung. Ein Vorhaben, dem sich ebenfalls die Texte von Niklas Fabian Becker und Swantje Martach widmen.
Martachs Beitrag Epistemologien der Kunst in Augmentierter Realität und Virtualität erweitert den Begriffsapparat innerhalb von „Bild und Augmentation“, indem sie eine Differenzierung zwischen der Augmentierten Realität („augmentierter Wahrnehmungsfokus + nicht-augmentiertes Wahrnehmungsfeld“), und der Augmentierten Virtualität („nicht-augmentierter Wahrnehmungsfokus + augmentiertes Wahrnehmungsfeld“) vornimmt, wobei sie nicht bei einer begrifflichen Feinjustierung stehen bleibt, sondern die damit einhergehende veränderte Praktik zwischen der Gestaltung und Selektion von Fokus/Feld nachgeht. Für die Betrachtung verschiedener AR/AV Werke, die sie als Bilder in Instagram-Posts untersucht, dient dann erneut ein kunsthistorisches Verfahren als Brücke: das objet trouvé. Dieses liest die Autorin als selektierten Fokus, dessen Bedeutung eben durch die Re-Lokalisierung verändert wird.
In Augmentierende Bilder stellt Niklas Fabian Becker dagegen konzise eine historische Bewegung in den Bild- und Medienwissenschaften heraus, in dem er Virtualität, Simulation, Illusion und Immersion bildphänomenologisch auseinanderdifferenziert. Nicht nur können dadurch die „Randphänomene“ Leib und Außenraum, welche mit AR ins Zentrum rücken, in die phänomenologische Beschreibung integriert, sondern über ernst zu nehmende Relationen aufeinander bezogen werden. Dem Begriff der Immersion, welcher hin und wieder theologisch auf das Eintauchen (immergere) während einer Taufe zurückgeführt wird, stellt Becker den Begriff der Aspersion entgegen, um Augmentation als Besprenkelung der Realität mit Bildobjekten zu deuten. Bild- und Augmentationsbegriff müssen demnach gemeinsam eine Veränderung durchlaufen. Ein Unterfangen, dem die genannten Beiträge Rechnung tragen, indem sie Körper, alternative Rahmenkonzepte und Umgebungsrelationen in das, was ein Bild sein kann, einbetten.
2. Umgebungen der Augmentation
Versucht man derzeit einen Überblick über die verschiedenen Aktionen, Anwendungen und Ausstellungen rund um XR zu gewinnen, dann tritt immer wieder ein Statement hervor, laut dem diese Technologien neue Räume erschließen – und zwar in gleichem Maße neu konstruierte, auf sich langsam ausdehnenden virtuellen Karten – wie auch bereits vorhandene, die augmentiert werden. Ausstellungen, die einen Ort haben, werden aufgeteilt, um ihre Erweiterung in den privaten Räumen der Betrachter:innen zu finden und öffentliche Räume wie Parks und hochfrequentierte Marktplätze werden erobert. Hier wäre die AR-Biennale des Düsseldorfer NRW Forums anzusprechen, welche 2023 bereits in die zweite Runde ging und den Zusammenschluss von Park und AR nutzte, um über „Hybrid Natures“ zu reflektieren oder die Ausstellungs-App WAVA (Withstanding Audio Visual Augmentations), die zur Geopositionierung virtueller Kunstwerke an spezifischen Orten dient (bspw. den öffentlichen Plätzen und Gebäuden in der Frankfurter Innenstadt).
Wenn es um die neueren Apparaturen der XR geht, wäre als Medienspezifik daher die Technik der Raumwahrnehmung vorzuschlagen. Während die fotografischen Medien eine kausale Verbindung zu ihren Objekten und damit auch zu den Aufnahmeorten behalten, die unter dem Begriff des Index umfassend untersucht wurde, scheinen die digitalen Medien gegenteilige Mechanismen zu befördern. Zu nennen wäre die Distribution, da die digitalen Bilder schließlich auf verschiedensten Endgeräten gleichzeitig an verschiedensten Orten abgerufen werden können, weiterhin ihre Editierbarkeit, welche Metaphern des Flüssigen und Unabgeschlossenen provozieren (vgl. Engell 2000; Ruf 2018) und letztlich die erneut beschworene creatio ex nihilo des Digitalen. Mit AR jedoch wird ein Paradox offengelegt, schließlich können diejenigen Bilder, die eigentlich überall erscheinen könnten, an bestimmten Orten platziert werden, wobei die Interaktion und Manipulation dieser Bilder zwar in einigen Fällen bestehen bleibt, jedoch nicht mehr als differentia spezifica gelten kann. Vielmehr scheint von Belang, dass diese Bilder häufig auf bestimmte Orte referieren, von denen sie stammen und/oder via Umgebungsscans in die unmittelbare Umgebung eingebettet werden. Die Situierbarkeit zwischen Bild und Augmentation ist auf vielfältige Art und Weise produktiv und geht weit über die bloße Zuordnung von Koordinaten hinaus. Hierbei ergeben sich unterschiedliche fruchtbare Fragestellungen die Ortsspezifik dieser Bilder betreffend, welche sich immer zur eigentlichen Mobilität der Bildträger verhalten muss. Wenn also diese Bilder um eine Ortsspezifik erweitert werden, dann kann diese unterschiedlich thematisiert und für die jeweiligen Apparate adaptiert werden. Für XR stehen dafür verschiedene Grade der Spezifik von Koordinaten über Flächenerkennung bis hin zum Raum-Scan zur Verfügung. In AR dienen diese Funktionen unter anderem der Platzierung virtueller Objekte, wobei die Umgebung als solche sichtbar bleibt. In VR ist eine rudimentäre Bodenerkennung tragend, um den ganzen Raum anschließend umzugestalten. Für die AR sind die Raumdaten notwendig, um die Umgebung mit einer eigenen Gestaltung zu kaschieren, welche die räumlichen Informationen teils übernimmt und teils erweitert. Allen gemeinsam ist jedoch, dass über die Raumerkennung in je verschiedenen Maßstäben und Detailgraden der Bildträger und das Bild positioniert werden. Dies führt zu jenem eigenwilligen Diktum einer basalen Ortsspezifik, wodurch das Bild immer an Ort und Stelle bleibt, ganz gleich wie sehr der Bildträger auch bewegt und rotiert wird. Die raumerkennende Soft- und Hardware kann jedoch genauso gut dazu dienen, ganze Räume in Modelle zu transferieren und somit als virtuelle Zimmer erneut transportabel zu machen. Ein Umstand, den ebenfalls einige VR-Applikationen nutzen, die via Digital Twin (Scan eines bestehenden Raumes) das virtuelle Modell mit dem tatsächlichen Raum in eins setzen, um so Übergänge dazwischen zu ermöglichen.
Zwischen Fluidität und Verortung ergeben sich also Bildräume mit unterschiedlichen Augmentationsübergriffen auf die tatsächliche Umgebung. Dass gerade deshalb ein Großteil der AR-Applikationen und künstlerischen Projekte den Ortsbezug zum Thema machen, ist nur im Sinne der Technik (vgl. Geroimenko 2018). Das eigene Zuhause kann dadurch ebenso virtuell eingerichtet werden, wie auch zum Spielzimmer mutieren; der öffentliche Raum umgestaltet, individualisiert wie auch aktivistisch hinterfragt werden (vgl. Modena/Pinotti/Pirandello 2021). Es werden, anders gewendet, neue Räume für Ausstellungen erobert, die einen „un-jurierten“ Raum des Virtuellen über einen jurierten legen, um beide miteinander ins Gespräch zu bringen.
Jens Fehrenbacher untersucht in seinem Beitrag AR als Relationale Intervention eben jene Augmentation der Bilder um den diesen umgebenden Raum. Jedoch geht es ihm nicht um die berechenbaren Modelle und voreingestellten Raumbezüge, sondern darum, dass mit der Integration der Umgebung das Bild um Zufälligkeiten erweitert wird. Am Rand, dem somit in AR ein besonderer Stellenwert zugewiesen wird, dringen Geschehnisse, Ereignisse und Beiläufigkeiten in die Nähe der Augmentationen, sodass diese zwangsweise zusammenbetrachtet werden müssen. Anhand von Anekdoten, die Fehrenbacher aus solchen AR-Erfahrungen generiert, liest der Autor die Zufälligkeit parallel zur Intention, um beide in eine komprimierte Interpretation zu transferieren. Somit stellt Fehrenbacher nicht nur eine alternative Werkzeugkiste zur Interpretation von AR bereit, sondern hebt zugleich das hervor, was unter der Bewerbung technischer Optimierung häufig unter den Tisch fällt: den Zufall.
In Bilder auf Zeit, dem Beitrag von Svetlana Chernyshova, werden die Geschehnisse am Rand der AR um den Aspekt der Zeit erweitert. Dafür analysiert die Autorin einige Werke des Künstlers Pascal Sender, der ganz buchstäblich Bild und Augmentation zusammenführt, indem seine Gemälde auf dem Bildschirm ihre Erweiterung finden. Da diese Bilder um multiple Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten erweitert werden, weist Chernyshova darauf hin, dass in der Untersuchung von AR von einer zeitlichen Diversität auszugehen ist und zur Frage überleitet: wo und wann diese Werke sind. Eine zeit-räumliche Zerschichtung, die letztlich auch spürbar ist. Die Überlagerung verschiedener Räume und Zeitlichkeiten unterläuft dabei ein chronologisches oder lineares Verständnis und regt somit zur stetigen Umschichtung als Alternative zur Kontinuität an.
Während die Relevanz des Außenraums für AR leicht nachvollziehbar ist, scheint diese mit VR intuitiv im Gegensatz zu stehen (vgl. Günzel 2022). Dass dies nur für eine bestimmte Idee von VR zutrifft, welche unter dem Schlagwort einer hermetischen Immersion beworben wird, zeigt Verena Elisabet Eitel mit ihrem Beitrag In Bewegung begriffen – Bewegtbild und erweiterte Aufführungs-Anordnungen. Unter dem Genre der Aufführungskünste setzt die Autorin zwischen Bild und Augmentation das Publikum. Während AR und VR Anwendungen größtenteils für einzelne Betrachter:innen ausgerichtet sind, nimmt Eitel solche Beispiele des XR Theaters in den Blick, in denen eine Betrachter:innengruppe gerahmt von virtuellen und wirklichen Bühnenbildern zusammenfinden. Sie ergänzt die Debatte somit schlagkräftig um den Hinweis, dass auch VR an Objekte und sinnliche Eindrücke vor Ort geknüpft sein kann, wie auch AR eine Interaktion von Schauspieler:innen mit virtuellen Objekten ermöglicht. Es sind jedoch letztlich gerade die Bewegungen der Rezipient:innen, Performer:innen, der Technik, der Brillen, Körper und virtuellen Erweiterungen, welche Eitel herausarbeitet, die zuvor sichere Trennungen zwischen physisch und virtuell leichtfüßig unterlaufen.
3. Körper inmitten von Bild und Augmentation
Mit den Körpern zwischen Bild und Augmentation ist der dritte thematische Schwerpunkt dieses Bandes bereits angesprochen und mit diesem zugleich eine technische Leerstelle. Die raumerkennenden Kameras und Sensoren von Brillen, Tablets und Smartphones weisen in ihrer Wahrnehmung der Umgebung nämlich tatsächlich einen blinden Fleck auf – den der eigenen Position. Die Unsicherheit entsteht durch die gleichzeitige Lokalisierung und Kartierung der Umgebung durch die Apparate (SLAM; Simultaneous Localization and Mapping). In Bezug auf AR und VR braucht der Bildträger also eine Karte, um zu lokalisieren, und er muss lokalisieren, um zu kartieren. Da sowohl der Träger als auch die Umgebung in Bewegung sind, erzeugt diese Weltmodellierung Wahrscheinlichkeitswerte und damit ein stets fragmentarisches Modell (vgl. Sprenger 2019: 485-490). Wobei die Position der Apparaturen im Fall der AR und VR zugleich die Position der Körper darstellt, welche diese Apparaturen in den Händen und auf dem Kopf tragen. Die Körper der Nutzenden und Betrachtenden sind insofern von Beginn an gespalten in ihre phänomenologische wie auch physische Körperwahrnehmung und die Körperwahrnehmung durch die Technik, welche den Körper als Bild darstellen kann oder um zusätzliche Features erweitert (vgl. Krämer 2002). Die Rolle, Funktion und Erscheinungsweise von Körpern ist mit den XR also grundlegend neu zu bestimmen. Ein Beispiel sind die mittlerweile gut bekannten schwebenden Körper in Social VRs wie „RecRoom“, die einen Rumpf mit Kopf, aber ohne Beine und davon unabhängig fliegenden Händen aufweisen. Zum einen bieten diese Körper neue Erscheinungsweisen in ebenjenen virtuellen Öffentlichkeiten und zum anderen ist auch der fragmentierte Körper auf die technologische Bedingung zurückzuführen. Schließlich erscheinen nur die Körperteile, welche mit Controllern in den Händen und der Brille auf dem Kopf eine apparative Entsprechung finden, wie die Künstlerin Rebecca Allen bereits in der Besprechung ihres Werkes Life Without Matter von 2018 betonte (vgl. Luckraft/Neilson 2020: 30).
Mit Blick auf die Virtualitätsdebatten in den 1990er-Jahren, welche ein Verschwinden und eine Auflösung der Körper ausriefen, sind wir heute mit einer kontraintuitiven und damit gegenteiligen Beobachtung konfrontiert: die Körper und die körperliche Erfahrung sind fester Bestandteil der XR (vgl. Rieger/Schäfer/Tuschling 2020). Dies beginnt bei den intensiven körperlichen Erfahrungen und Affekten, welche sich durch VR mitteilen, verläuft über die teil-physikalische Abstimmung in Mixed Realities bis hin zu multimodalen Ausstellungs- und Gaming-Setups, die eine ganze Bandbreite neuerer Interfaceoptionen, welche den Körper, Objekte und damit verbundene Materialitätsbeschaffenheiten zur Geltung bringen. Die Unsicherheit über die eigene Position, welche mit der Frage „Wo bin ich?“ der Apparaturen permanent und in jedem Moment neu gestellt wird, kreuzt sich so mit einer aktuellen Rejustierung diskursiver Topiken zum Körper: Fragen der Identität, posthumanistischer Ausbuchstabierung und der Auflösung von Geschlecht (vgl. Papagiannis 2017). Körper und Apparatposition teilen sich in diesem Sinne ein und denselben Ort. Doch auch wenn sich beide eine Stelle teilen, können die davon ausgehenden Konzeptionen in gänzlich verschiedene Richtungen weitergetragen werden. Beschränkt man sich auf Körperbilder und deren Augmentation, dann werden die Ästhetik dieser Körper, ihre Reproduktion und Erfassung umrissen. Während man in gängigen Social VRs einen Avatar auch von Grund auf bauen kann, setzen immer mehr Anwendungen und auch Künstler:innen wie Charlotte Triebus in ihrer AR-Performance „kin_“ (2021) beim eigenen Körperscan an – nicht ohne diesen anschließend vielfältig zu augmentieren. Den Körper zu scannen ist jedoch nur eine Seite der Medaille, die Produktion betreffend, schließlich werden in VR ebenfalls stetig Bewegungen erfasst und berechnet. Ebenjene aufwendig und mit hoher Rechenkapazität erfasste Bewegungsdaten sind bis dato auch der Grund, warum die virtuellen Welten nur wenige „Bewohner:innen“ zulassen können und die virtuelle Öffentlichkeit somit auf eine kleine Teilnehmer:innenanzahl limitiert ist.
Katharina Fuchs untersucht sowohl die sozialen Aspekte als auch körperliche Schnittstellen, indem sie das neuere Genre des interaktiven VR-Films in den Blick nimmt. In Gegen die Glaswand schreien: Der Gebrauch der Zuschauerstimme in VR-Filmen zwischen in und off, ihrem Beitrag zu diesem Band, ist es gerade die Stimme der ansonsten so häufig schweigenden Zuschauer:innenschaft, welche als soziales wie auch in die virtuelle Welt übergreifendes Werkzeug dient. Die Autorin unternimmt damit den Versuch, die Stimme als ein Dazwischen zu benennen. Da die eigene Stimme zwischen virtueller Umgebung und physischem Raum gleichermaßen schwingt, hält diese beide aufrecht – ohne der Immersion oder der Emersion ein Übergewicht zuteilwerden zu lassen. Fuchs ergreift somit populäre Hauptmerkmale von VR und nimmt diesen die Schärfe. Das sind die Immersion und die Interaktion, welche in ihren untersuchten Beispielen zwar angeboten, doch zugleich an entscheidender Stelle verweigert werden. Dadurch verdeutlicht die Autorin präzise, was hier im Zwischen von Bild und Augmentation gefasst werden will.
Dass ein Körper im Virtuellen bereits keine einfache Entität mehr darstellt, ist ebenfalls im Beitrag des Künstlers und Theoretikers Simon Pfeffel Die Schnittstelle der Virtual Reality und ihr Körper- und Raumbezug im Zusammenhang der Bildrezeption ein zentrales Thema. Dabei konzentriert er sich auf den Körperbezug in der Produktionsphase verschiedener Werke, um anschließend die multidmodale Rezeptionserfahrung in den Blick zu nehmen. Als Ausgangspunkt bezieht sich Pfeffel auf die affektbeladene Motion Sickness, die eigentlich als Störfaktor und ungewollter Nebeneffekt von VR kursiert und aufgrund einer Dissonanz zwischen virtuellem und physischem Körper entsteht. Diese Dissonanz verfolgt der Autor mit einem Vergleich körperzentrierter Arbeiten der 1970er-Jahre mit aktuellen VR-Werken. Die Verzögerung zwischen der Aufnahme und Wiedergabe der verschiedenen Körper, welche in VR auch deckungsgleich erfolgen kann, ist dabei ebenso relevant wie die Aufspaltung und Vervielfältigung der aufgenommenen Körperbilder. Indem Pfeffel von der Störung über die Verzögerung zur Vervielfältigung übergeht, konzentriert er jene Unsicherheit, die aktuell eine deskriptive Herausforderung ist und macht diese mit seinen Beispielen für breitere Diskussionen anschlussfähig.
Dass in den Beiträgen größtenteils künstlerische Untersuchungen von XR betrachtet wurden, stellte sich im Prozess der Zusammenstellung dieser Ausgabe als produktives Phänomen heraus. Ein Phänomen, das auf die immer noch anhaltende experimentelle Phase der neueren Technologien verweist und darauf, dass die Kunst ein Labor, Diskursfeld und Echtzeit-Reflexionsmotor darstellen kann. Kunst und Wissenschaft können somit gemeinsam das untersuchen, was derzeit als Bild und Augmentation herausfordert.
Literaturverzeichnis
Monografien
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Sammelbände
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Beiträge aus Sammelbänden
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Grabbe, Lars C.: Kontagierte Bildnarrative. Storytelling im Kontext des leiblichen Spürens in virtuellen und augmentierten Bildmedien. In: Lars C. Grabbe; Patrick Rupert-Kruse; Norbert M. Schmitz (Hrsg.): Neue Erzählformen in dynamischen Bildtechnologien – Formprobleme zwischen Populärkommunikation und autonomer Kunst. Marburg [Büchner-Verlag] 2024, S. 37–54
Günzel, Stephan: Von der erweiterten Realität zur erweiterten Identität. Medienkultur der Augmented Identity. In: Carolin Höfler; Philipp Reinfeld (Hrsg.): Mit weit geschlossenen Augen. Virtuelle Realitäten entwerfen. Paderborn [Brill/Fink] 2022, S. 105–129
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Schröter, Jens: Ästhetik der virtuellen Welt. Überlegungen mit Niklas Luhmann und Jeffry Shaw. In: Ders.; Manfred Bogen; Roland Kuck (Hrsg.): Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld [transcript Verlag] 2009, S. 25–36
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Beiträge aus Zeitschriften
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Milgram, Paul; Fumio Kishino: A Taxonomy of Mixed Reality Visual Displays. In: IEICE Trans. Inf. & Syst., Vol. E77-D No. 12, 1994, S. 1321–1329
Modena, Elisabetta; Andrea Pinotti; Sofia Pirandello: Virtual Reality and Augmented Reality New Tools for Art and Politics. In: Paradigmi XXXIX, 1/2021, S. 87–106
Sutherland, Ivan E.: Das ultimative Display. In: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, 2/2007, S. 29–32
Urban, Annette; Julia Reich; Manuel Van Der Veen: passthrough. Von
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Citation
Lars C. Grabbe / Manuel van der Veen: Einleitung. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 39, 20. Jg., (1)2024, S. 2-18
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2024-16211
First published online
März/2024