Von Niklas Fabian Becker
Abstract
Der Artikel skizziert zunächst tradierte und doch viel diskutierte Konzepte wie Illusion und Immersion aus bildphänomenologischer Perspektive und unter Einbezug bildtheoretischer und medienphilosophischer Diskurse der 1990er-Jahre zu Simulation und Virtualität bzw. ‚virtuellen Realitäten‘. Anschließend werden vor diesem Hintergrund sowie der Kontrastfolie der Virtual Reality bildliche Erscheinungsweisen von Phänomenen der Augmented Reality diskutiert, wobei neben ihren technologischen Bedingungen die Leiblichkeit des bilderlebenden Subjekts in den Fokus rückt.
The article outlines long-serving and still much discussed concepts like illusion and immersion from an image-phenomenological perspective and taking into account the image-theoretical as well as media-philosophical discourse from the 1990s around simulation and virtuality, respectively ‘virtual realities.’ Subsequently, pictorial manifestations of phenomena of Augmented Reality will be discussed against this background and the contrasting foil of Virtual Reality. Here, in addition to its technological conditions, the corporeality of the image-experiencing subject is brought into focus.
„Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein – sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeignetes Gerät. […] [S]o werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde […] hin entstehen und vergehen“ (VALÉRY 1960: 47).
1. Zur Einführung:
Simulation und Virtualität – die Auflösung des Bildlichen?
Es erscheint heute nicht mehr allzu zweckdienlich, Computer und Welt als zwei differente Sphären zu charakterisieren und ihr Aufeinandertreffen zu problematisieren (vgl. Winkler 1997: 223), da sich diese Entitäten mittlerweile in nahezu allen Bereichen sozio-kulturellen menschlichen Seins berühren, kreuzen und überschneiden. Dennoch aus einer solchen Perspektive blickend, ist Augmented Reality (AR) als Technologie auszumachen, die beide Sphären in der Wahrnehmung eines Subjekts kollidieren lässt. Auch wenn die von AR-Technologien hervorgebrachten Phänomene zum größten Teil als Bilder adressiert werden sollten, mag jene Kollision dazu verlocken, sie als ‚virtuelle Objekte‘ zu beschreiben. Da das begleitende Adjektiv ‚virtuell‘ hier bereits auf einen ontologischen Status des physisch Inexistenten zu verweisen scheint, der auch Bildern immanent ist, könnte die hier implizite Kritik als nichtig abgetan werden. Allerdings zeigt(e) sich im theoretischen Diskurs um ‚Simulationsbilder‘, unter die auch Bildphänomene der AR subsumiert werden müssen, dass diesen tendenziell ihr Bildstatus abgesprochen wird: so spricht Gottfried Boehm von der „ikonoklastischen Aufhebung“ (Boehm 1994: 16) der Simulationsbilder und davon, dass diese „im Dienste eines Illusionismus, von dem es heißt, daß er sogar […] die Differenz zwischen Darstellung und Wirklichkeit einzuebnen vermöchte“ (ebd.: 12), stünden. Diese Gedanken lassen sich parallel zu dem medienphilosophischen Diskurs der 1990er-Jahre um virtuelle Realitäten lesen, in Zuge dessen „‚Simulation‘ und ‚Virtualität‘ zu den neuen […] Matadoren der Gegenwart avanciert [sind]“ (Welsch 1998: 169). Diese Konzepte – so Wolfgang Welsch weiter – „scheinen […] die alte Wirklichkeit zu überholen oder abzulösen“ (ebd.), sodass wir – nun mit Vilém Flusser sprechend – „in einer Pluralität von Welten leben werden, von denen keine konkreter oder weniger konkret als die andere sein wird“ (Flusser 1993: 70). Drei Jahrzehnte später lässt sich konstatieren, dass weder Wirklichkeit noch Bildlichkeit durch die neuen Medientechnologien aufgelöst wurden. Mit den ‚Medientechnologien des Virtuellen‘ – Virtual und Augmented Reality – entstehen jedoch durchaus radikal neue Manifestationen von Bildlichkeit. Um diesen Bildphänomenen als solchen zu begegnen und nicht der Versuchung anheimzufallen, Argumentationslinien der Neunzigerjahre zu VR zu reproduzieren, werden im Folgenden Gedanken zur Weise der bildlichen Erscheinung(en) durch AR-Technologien entwickelt. Hierbei dient die VR und der Theoriediskurs um diese als Vergleichspunkt und Kontrastfolie.
Ausgangspunkt für die folgenden Gedanken war das Konzept des ‚Als-ob‘. Dieses öffnet, wie sich zeigen wird, ein weites Feld vielfach diskutierter Begriffe und Konzepte, die aus manchen bildtheoretischen Perspektiven zwar unproblematisch sein mögen, aus derjenigen der Bildphänomenologie, die diese Zeilen prägen, allerdings durchaus zu problematisieren sind. Die bildphänomenologische Ausrichtung dieses Textes folgt einerseits der Auffassung, dass hinsichtlich neuer (Medien )Phänomene eine Beschäftigung mit ihren spezifischen Charakteristika und ihrer Wahrnehmbarkeit und somit den Relationen zwischen Medieninhalt, Subjekt und – insbesondere im Fall der AR – Realität anderen (medien )philosophischen Zugriffen auf den Gegenstand vorausgehen sollte. Andererseits spielt insbesondere bei der Bildwahrnehmung in VR und AR der Leib des betrachtenden Subjekts eine essentielle Rolle. Dieser Rolle wird meines Erachtens eine bildphänomenologische Betrachtungsweise in hervorzuhebendem Maße gerecht.
Dieser Text plädiert also explizit für eine Perspektive auf AR-Phänomene, die diese als Bilder adressiert, und somit auch für die Beschäftigung der Bildwissenschaften mit ihnen. Abschließend möchte ich jedoch auch darauf hinweisen, warum insbesondere hinsichtlich des Gegenstandsfeldes ‚Augmented Reality‘ eine weitreichendere theoretische Beschäftigung nicht nur sinnvoll, sondern dringend geboten scheint.
2. ‚Als-ob‘ – Ein weites Feld und große Begriffe:
bildtheoretische Zugänge zu Virtualität, Illusion & Immersion
Was folgt, lässt sich als die theoretische Grundlage für die Argumentationen dieses Textes bezeichnen und stellt zunächst einen nur schwer zu kartierenden Irrgarten dar. Die Konzepte und Terminologien, die zur Charakterisierung von Bildlichkeit bemüht werden, werden zuweilen schon seit Anbeginn der Philosophie des Bildes zu diesem Zwecke genutzt, was auch bedeutet, dass sie stets wieder auf bildliche Phänomene angewandt werden, die im Laufe der Mediengeschichte durch äußerst differente Bildmedien in Erscheinung treten. Solange solche Medien Bildphänomene hervorbringen, ist es nicht nur legitim, sondern wünschenswert, dass die gleichen Konzepte und Terminologien zu deren Beschreibungen herangezogen werden, allerdings erhalten so ebendiese Konzepte und Terminologien auch stets neue Bedeutungsdimensionen durch die sich transformierenden medialen Konstitutionsbedingungen von Bildlichkeit, was eine Entwirrung des Irrgartens tendenziell erschwert.
So ist im Folgenden nicht die Entwirrung Programm, sondern der Versuch, einen Faden zu verlegen, der sinnvoll erscheint hinsichtlich des Gegenstandes, der anschließend betrachtet werden soll. Dementsprechend werden hier Konzepte zuweilen nur angerissen und Brücken anekdotisch geschlagen, sodass dieser Teil des Textes nicht als Aufarbeitung des Theoriestandes betrachtet werden sollte und sicherlich keinen Anspruch auf eine Vollständigkeit hinsichtlich der zusammengebrachten Konzepte und Terminologien erhebt.
2.1 Virtualität und das Als-ob
Auf die Terminologie der Virtualität – sowohl auf ihre philosophische (Ideen-)Geschichte und ihre diversen und differenten Aspekte als auch auf ihre Geschichte in medientechnologischen Kontexten – wurde vielfach eingegangen, was im Rahmen dieses Aufsatzes nicht wiederholt werden soll.[1] Stattdessen wird im Folgenden ein spezifischer Aspekt der (medialen) Virtualität fokussiert und andere Implikationen und Konzepte werden nur soweit skizziert, wie es für die bildtheoretische Argumentation sinnvoll erscheint.
Virtualität eröffne – so Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger in ihrem 2020 erschienen Handbuch Virtualität – „der technischen Realisierung einen Horizont für künstliche Welten, für Fiktionen und Gedankenexperimente, für Illusionen […] und damit für all das, was sich im Modus des Als ob vollzieht“ (2020: 6). So wird (mediale) Virtualität in ein Spannungsverhältnis eingebunden, dessen Diskurse die Philosophie und mit ihr die Bildtheorie seit Langem sowie die Medienwissenschaft seit nicht so Langem beschäftigen. Auch wenn Kasprowicz und Rieger keinen direkten Bezug herstellen, so steht eine philosophische Beschäftigung mit dem Als-ob[2] immer auch in gewissem Maße in der Tradition von Hans Vaihingers Hauptwerk Philosophie des Als Ob (1922). Vaihinger erarbeitet unter diesem Begriff ein „System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit“ – so der Untertitel seines Buches. Der Begriff der Fiktion sollte, wird er im Kontext neuer(er) Medientechnologien genutzt, differenziert betrachtet werden: Aus einer erzähltheoretischen Perspektive ließe sich womöglich verkürzt schließen, man habe es bei einem fiktionalen Medium mit einer (Text-)Gattung zu tun (ein fiktionales Buch o. ä.) und Fiktivität beziehe sich auf die non-realen Inhalte eines solchen Mediums. Versteht man durch – nicht nur aber auch Bild- – Medien erscheinende Phänomene im Sinne einer „artifiziellen Präsenz“ (Wiesing 2005), so erlangt die Terminologie der Fiktionalität eine andere resp. zusätzliche Bedeutungsdimension. Geht es um die ontologischen Eigenschaften von Medien, muss und sollte ‚Fiktionalität‘ nicht in einem ausschließlich erzähltheoretischen Sinne verstanden werden. Es ist hier nicht relevant, ob ein medial transportierter Inhalt erfunden ist; das non-reale Moment, das der Begriff ‚Fiktionalität‘ impliziert, wird bereits durch die artifizielle Präsenz seiner medialen Erscheinung erfüllt. Aus dieser Perspektive stellen Medien(technologien) immer einen Raum mit ‚neuen und differenten Regeln‘ frei,[3] da sie einen Raum physikloser Phänomene erzeugen. Die Begriffe ‚Fiktionalität‘ und ‚Medialität‘ können also im Kontext von medialen Phänomenen als artifizielle Präsenz bereits eng zusammengeführt werden. Der hier vorgeschlagenen Argumentationslinie folgend, scheinen so auch die Termini ‚Medialität‘ und ‚Virtualität‘ verquickt zu werden, was zunächst fragwürdig anmuten sollte.
Medienwissenschaftliche oder -philosophische Darstellungen der ideengeschichtlichen Genealogie des Virtualitätsbegriffs weisen meist bis zum Dynamis-Begriff bei Aristoteles zurück, um anschließend über seine Verwendung in der Scholastik (vgl. Paschalidou 2011: 79ff.) und das Begriffspaar Virtualität/Aktualität bei Henri Bergson und Gilles Deleuze (2019) hin zu seiner informatischen und anschließend medienwissenschaftlichen Begriffsdimension zu verweisen. Im Kontext der beiden letztgenannten Nutzungshorizonte des Virtualitätsbegriffs finden sich dann auch explizite ‚Als ob‘-Beschreibungen. Philosophische Virtualitäts-Vorstellungen, die ein Als-ob zumindest implizieren, finden im Als-ob des informatischen Phänomens virtueller Speicher, die „mit der Trennung des logischen Adressraums vom tatsächlichen materiellen Speicherraum [operieren]“ (Schröter 2018: 113) ihre technologische Aktualisierung. Dieses „Als ob […] begreift das Virtuelle nicht als fiktiv oder unreal, sondern als Medium eines Zugriffs auf das (noch) nicht-physische, aber Mögliche“ (Kasprowicz/Rieger 2019: 12) und lässt sich somit parallel zu den Virtualitätskonzepten Bergsons und Deleuzes denken. Im „medientheoretischen Diskurs [wird] das Phänomen der Virtualisierung […] fast ausschließlich als Epiphänomen der Digitalisierung reflektiert“ (Münker 2005: 248) und „[d]abei wird häufig das Virtuelle mit Begriffen wie Schein oder Simulation assoziiert“ (ebd.: 244). So rücken Theorien zum Virtuellen auch in das diskursive Feld zu Illusion und Immersion, das explizit auch bildtheoretische Diskurse (mit-)bestimmt und das im Folgenden skizziert wird.
2.2 Illusion, Immersion & Bildlichkeit
Der bildtheoretische Diskurs um Bildlichkeit an sich beherbergt mannigfaltige Aspekte und Perspektiven. Nachdem im vorangegangenen Teil eine Nähe der ideengeschichtlichen und terminologischen Diskurse um Virtualität, Als-ob (und damit Fiktion), Medialität und Illusion bereits angedeutet wurde, soll diese Nähe zunächst (anekdotisch) exemplifiziert werden. Anschließend wird auf eine kontrastierende Besprechung der Illusionstheorie des Bildes und eine ihr gegenüberstehende bildphänomenologische Perspektive fokussiert werden, um dann mit dem Begriff der Immersion auf neue(re) Medientechnologien, die sich verkürzt als solche ‚der Virtualität‘ beschreiben lassen, einzugehen.
Ein anekdotischer Brückenschlag: Als-ob und Illusion
Um zunächst eine Brücke zwischen dem Begriff des ‚Als-ob‘ und demjenigen der ‚Illusion‘ zu bauen, treten wir einen Schritt zurück und blicken in aller Kürze auf eine Arbeit des Kunsthistorikers Konrad Lange (1855-1921). Langes Buch Das Wesen der Kunst erschien in der ersten Auflage von 1901 mit dem Untertitel „Grundzüge einer realistischen Kunstlehre“, der in der zweiten, neu bearbeiteten Auflage von 1907 in „Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre“ verändert wurde. Spätestens in dieser zweiten Auflage erklärt Lange die Illusion oder „bewusste Selbsttäuschung“ (Lange 1907: 246) zu einem (wenn nicht dem) Kerncharakteristikum bildender Kunst. Auf ebendieses Buch verweist auch Hans Vaihinger in den „Vorbemerkungen zur Einführung“ seiner Philosophie des Als Ob und nimmt damit zumindest implizit eine Gleichsetzung des Als-ob mit der Illusion vor. Vaihingers Philosophie des Als-ob entstand in den 1870er-Jahren und war zunächst als „Opus Postumum“ (Vaihinger 1922: XV) geplant; allerdings sah Vaihinger zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Zusammentreffen seines philosophischen Systems mit Strömungen anderer (Teil-)Disziplinen wie zum Beispiel der Ästhetik:
„In […] der Ästhetik, hat die ‚Philosophie des Als Ob‘ ebenfalls schon ihre Vertretung. Denn die Ästhetik hat das Glück, ein grundlegendes Werk zu besitzen, in welchem die Fiktion, die Als-Ob-Betrachtung unter dem Namen der ‚bewussten Selbsttäuschung‘ als Prinzip des künstlerischen Schaffens und Geniessens dargestellt worden ist: es ist dies Konrad Lange’s ‚Wesen der Kunst‘, eine mustergültige Darstellung des Als Ob in der Ästhetik, oder der Ästhetik des Als Ob.“ (ebd.: XVII)[4]
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich also bereits eine gedankliche Verknüpfung zwischen der philosophischen Beschäftigung mit dem Als-ob und Illusionstheorien des Bildes. Letztgenannte haben in der Bildtheorie eine Tradition, die insbesondere aus phänomenologischer Perspektive einer stetigen Kritik unterzogen wird. Während sich Gedanken zur ‚ikonoklastischen Aufhebung‘ von Bildern im Digitalen tendenziell in Richtung einer Illusionstheorie bewegen und potentiell eine bildtheoretische Beschäftigung mit ebendiesen Bildern erschweren, versucht ein bildphänomenologischer Blick sie anhand ihrer bildlichen Potentiale zu beschreiben, ohne ihnen einen Illusionsstatus zuzuschreiben.
Die (phänomenologische Kritik an der) Illusionstheorie des Bildes
Eine Illusion ist – mit Kant gesprochen – „dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist“ (Kant 2015: 65). Das wohl populärste Beispiel für solch ein „wissensresistentes Wirklichkeitsbewusstsein von etwas, das nicht wirklich existiert“ (Wiesing 2013: 56), ist die vermeintliche Krümmung oder Gebrochenheit von halb in Wasser getauchten Objekten wie Stöcken oder Ruderblättern (Rötzer 1995: 14; Wiesing 2013: 55f.).[5] Die Vorstellung, dass das Wesen von Bildern (also ihre Bildlichkeit) in ihrem vermeintlichen Illusionismus begründet liegt, findet sich nicht nur bei Lange, sondern wurde später prominent von Ernst Gombrich vertreten und lässt sich bis in die antike Philosophie Platons zurückverfolgen. Eine phänomenologische Bildtheorie im Anschluss an Edmund Husserl widerspricht jedoch der Idee, dass der Umstand, dass „Bilder etwas zeigen können, obwohl das, was sie zeigen, gar nicht wirklich zu sehen ist,“ darin begründet liegt, dass sie optische Illusionen seien (Wiesing 2013: 55). Ein Grund für die Analog-Setzung von Bildern und Illusionen liege – so Lambert Wiesing – in ihrer Gemeinsamkeit, Erscheinungen hervorzubringen, die „in einem physischen Sinne nicht real gegenwärtig [sind]“ (ebd.). Husserl selbst stellt in seinen Vorlesungen zu Phantasie und Bildbewußtsein hingegen eindeutig fest: „Das Bild ist keine Illusion“ (HUSSERL 2006: 186). Für die Unterscheidung von Illusion und Bild ist es entscheidend, nach der Art des Widerstreits[6] zu fragen. Husserls Blick auf den Widerstreit im Fall der Illusion lässt sich an seinem Beispiel einer Wachsfigur darstellen. Eine solche Figur stellt für ihn eine Illusion dar, weil sie als Mensch gesehen wird resp. gesehen werden kann; der Widerstreit findet zwischen „zwei Wahrnehmungen bzw. zwei Wahrnehmungsobjekten“ (ebd.: 187) statt. Werden hingegen Bilder gesehen, „haben wir aber nur eine Wahrnehmung […] und das andere ist eine blosse ‚Bild‘-Anschauung“ (ebd.). Die Kerndifferenz zwischen Illusion und Bild besteht aus phänomenologischer Perspektive also im perzeptiven Wissen um das Nicht-Präsente; in beiden Fällen wird zwar etwas Abwesendes wahrgenommen, doch anders als beim Bildbewusstsein „[ist] die Nicht-Anwesenheit des Illusionsobjekts […] nicht gesehen“ (Wiesing 2013: 64). Husserl stellt in seinen bildphänomenologischen Vorlesungen auch einen recht konkreten Bezug zwischen Illusion und Als-ob her:
„Bestände allseitige Gleichheit, so bestände allseitige Deckung. Wir müssten dann ein Bewusstsein haben, dass das abgebildete Objekt voll und ganz vergegenwärtigt ist. Uns müsste in ihm so zumute sein, als ob das Objekt selbst, das ganze und volle Objekt da wäre. Natürlich könnte es zu einem solchen ‚als ob‘ nicht kommen, wenn nicht hinreichend Momente für die Ermöglichung einer Verdopplung des Bewusstseins als Bild- und Sujetbewusstsein beständen.“ (Husserl 2006: 34)[7]
Wie zuvor beschrieben, neigen auch Bildtheoretiker*innen, die nicht per se Bilder als Illusionen betrachten, dazu, in der Simulation eine ikonoklastische Aufhebung der Bildlichkeit zu erkennen. Diese Perspektive steht in Engführung mit solchen auf die Virtualität, die eine (zukünftige) Ununterscheidbarkeit (digital-)virtueller Welten und der realen Welt prognostizieren. Viele Texte zur Virtualität – insbesondere solche zu Virtuellen Realitäten/Welten aus den 1990er-Jahren – behandeln dementsprechend das Verhältnis vom Virtuellen zur Illusion oder beschwören gar eine Substitution des ‚Realen‘ durch das ‚Virtuelle‘. Hierbei spielt auch und insbesondere das leibliche Verhältnis von Subjekt und Medientechnologie resp. ihrer Phänomene eine tragende Rolle. In der bildtheoretischen Beschäftigung mit solchen ‚Medientechnologien des Virtuellen‘ werden hier neben der Illusion der Begriff und die Idee der Immersion relevant. So soll im Folgenden zunächst diese thematisiert und diskutiert werden, bevor anschließend detaillierter auf die Rezeptionsweisen von Bildlichkeit(en) in der VR und vor allem der AR eingegangen wird.
Immersion(en): Der Leib im Bild-Erleben
Spätestens hinsichtlich neuerer digitaler, bildgebender Medientechnologien „[beerbt] [d]er Begriff der Immersion den älteren Terminus der Illusion“ (GÜNZEL 2014: 303). Die entgrenzte Anwendung des Immersionsbegriffs macht diesen tendenziell problematisch und eine Ausdifferenzierung verschiedener Ansätze zur Immersion notwendig. So lässt sich diesbezüglich zunächst eine Differenzierung von notwendiger bzw. perzeptueller und psychischer Immersion beschreiben (ebd.: 309). Es kommt zu Ersterer, „wenn der Rahmen des Bildes […] nicht sichtbar, überdeckt oder nicht vorhanden ist […], so dass der Unterschied zwischen Bild und Nichtbild allein gewusst, nicht aber mehr gesehen werden kann“ (ebd.). Perzeptuelle Immersion ist demzufolge mindestens insofern als ‚Erbin‘ des Illusionsbegriffs zu betrachten, als dass die ‚Wissensresistenz‘ des Wirklichkeitsbewusstseins ‚von etwas, das nicht wirklich existiert‘ (s. o.), konstitutive Bedingung beider Konzepte darstellt. Psychische Immersion hingegen beschreibt ein Vergessen der stattfindenden Bildwahrnehmung, sodass „die Verwechslung also tatsächlich stattfindet“ (ebd.). Eine solche psychische Immersion kann nicht nur – wie es bei der perzeptuellen Immersion der Fall ist – „bei Bildern, einschließlich dreidimensionaler Plastiken oder Scheinkulissen“ (ebd.) auftreten, sondern ebenso bei nicht-bildlichen Medien; sie lässt sich mit Christiane Voss auch als „fiktionale Immersion“ beschreiben. Diese liege vor, wenn ein fiktiver Medieninhalt „ein[en] Großteil unserer Aufmerksamkeit […] absorbiert“ (Voss 2008: 69), wobei – und das ist entscheidend – hierbei nicht nur (oder überhaupt nicht) sinnlich wahrnehmende Aufmerksamkeit gemeint ist. Mit Blick auf Bilderscheinungen, ob sie nun als vermeintliche optische Illusionen oder als immersiv beschrieben werden, soll der Fokus hier auf der Frage nach den Konstitutionsbedingungen perzeptueller Immersion liegen. Im Anschluss an Matthew Lombard und Theresa Ditton beschreibt Patrick Rupert-Kruse deren Konzept der perceptual immersion als
„[d]as möglichst komplette Überfluten der Sinne der Rezipienten mit vermittelten Informationen und die damit verbundene Verdrängung der Wahrnehmung der Realität […]. Nicht der Körper als physisches Objekt ist das Ziel, sondern die Sinne sind es und damit der Leib als etwas, das man in seiner Beziehung zur Welt spürt.“ (Rupert-Kruse 2012: 12)
Für solch eine perzeptuelle Immersion ist – wie oben bereits erwähnt – die vermeintliche Rahmenlosigkeit oder „Ent-Rahmung“ (ebd.: 15) äußerst relevant, denn ohne den ‚Verlust des Rahmens‘ als Marker von Differenz könnte es kaum zu einer Undifferenzierbarkeit von Bild und Nichtbild kommen. So stellt beispielsweise das Panorama den Versuch dar, „ein rahmenloses Bild ohne ikonische Differenz zur Umgebung aufzubauen“ (Wiesing 2005: 107). In dieser Tradition lassen sich auch Bildräume der Virtual Reality verorten, die mittels eines Head Mounted Displays als idealiter „unerkennbare[…] Wahrnehmungssimulation[en]“ (ebd.: 108) beschreibbar werden. Wiesing plädiert dafür, nur von ‚virtueller Realität‘ zu sprechen oder zu schreiben, wenn in ihr ein „Bildobjekt […] künstlich materialisiert und damit zu einem scheinbar physikalischen Ding [wird]“ (ebd.: 121). Um einem Bildobjekt diese Qualität zuzuschreiben, scheint die perzeptuelle Immersion als notwendige Bedingung.
Konzeptualisierungen perzeptueller Immersion gehen – dem etymologischen Ursprung des Begriffs im Sinne eines Eintauchens entsprechend – meist davon aus, dass das bildbetrachtende Subjekt in seiner Wahrnehmung (und dementsprechend scheint es sinnvoller von den Sinnen jenes Subjekts zu sprechen) vom Bild(raum) umgeben wird. Der Terminus des ‚Überflutens‘ im obenstehenden Zitat von Rupert-Kruse schreibt hingegen der Medientechnologie eine (noch) aktive(re) Rolle im Immersionsprozess zu. Während Immersion im theologischen Kontext „wörtlich das Eintauchen bei einer Taufe bezeichnet“ (ebd.: 107) und somit ein vergleichsweise aktive(re)s Subjekt impliziert (zumindest, wenn man von freiwilliger Erwachsenentaufen ausgeht), versetzt die Idee der Überflutung das Subjekt in eine passivere Rolle und die Technologie in eine aktive(re).
So oder so spielt die Leiblichkeit des Subjekts hierbei eine tragende Rolle, da „Immersion […] ein kognitiv wie auch leiblich umfassend affizierendes Erlebnis [verspricht]“ (Kasprowicz/Breyer 2019: 7). Über diese Idee und ihre Verwirklichung durch Technologien der VR wollen wir uns im Folgenden annähern an die Beantwortung der Frage, welcher Status den (Bild-)‚Objekten‘ der Augmented Reality zugeschrieben werden kann (oder muss).
3. Bildphänomene digital-virtueller Medientechnologien
und der Leib in der Betrachtung
Ausgehend von Überlegungen zu Illusions- und Immersionspotentialen
digital-virtueller Bildtechnologien sollen diese Konzepte nun auf AR angewandt werden, wobei VR-Technologien als Kontrastfolie dienen. Hierfür wird zunächst vergleichend auf die Formen der (Ent-)Rahmung in VR und AR eingegangen, bevor der Blick auf die differenten Rollen des Leibes in Wahrnehmungssituationen der VR und der AR gerichtet wird.
Ent-Rahmung(en) digital-virtueller Medientechnologien
„Which technologies will break through the frame and have us climb through the virtual window? And which will have us stay fixed […] in front of the windows, caught in the hold of an image, framed in display?” (Friedberg 2006: 242)
Der Begriff des Rahmens ist in der Bildphänomenologie eng verknüpft mit demjenigen des Bildträgers beziehungsweise dem des Bildes als physisches Ding. Dies ist insbesondere für analoge Bildmedien schlüssig, da der physische Rahmen hier einerseits als Teil des Bildträgers erscheint und er zudem die Grenzziehung zwischen der physischen Realität und der Welt des Bildobjekts als „eine Welt für sich“ (Husserl 2006: 48) markiert:
„Da ist der Rahmen. […] Wir blicken durch den Rahmen gleichsam wie durch ein Fenster in den Bildraum, in die Bild-Wirklichkeit hinein. […] [D]ie Umgebung bis an die Grenze des Bildes hin, bis dahin, wo eben die Zeichnung und die Bildauffassung anfängt, ist wahrgenommen, es ist hier Wahrnehmungsauffassung ohne jedes Bildlichkeitsbewusstsein.“ (ebd.: 48f.)
Es lässt sich ebenfalls argumentieren, dass es für eine Rahmung der Bildobjekte nicht zwingend einen in der Wahrnehmung vorhandenen Rahmen braucht:
„[…] Rahmung [meint] nicht zwangsläufig jenes Ding, das ein Bild einfasst und sein Innen vom Außen trennt, sondern das Dispositiv, d. h. jenes System von materiellen und nicht-materiellen Bedingungen, welche auf vielfache Weise […] eine Grenze markieren.“ (Mersch 2007: 57)
So kann das Wissen des Subjekts um die technologische Präsentation von Bildobjekten bereits eine Rahmung darstellen, die ihm die erscheinenden Phänomene eben als Bildobjekte bewusst werden lässt: Nutze ich eine VR– oder AR-Hardware, dann weiß ich um ebendiese Nutzung und gegebenenfalls weiß ich auch um die (materiellen) Infrastrukturen und Algorithmen, die sowohl meine Nutzung dieser Hardware als auch ihr Erscheinen-Lassen von Phänomenen überhaupt erst ermöglichen.
Aus wahrnehmungstheoretischer Perspektive hingegen wird die konzeptuelle Verbindung zwischen Rahmen und Bildträger – wie sich im Folgenden zeigen wird – spätestens im Fall von AR-Technologien unterminiert. Ebenfalls eng verbunden mit dem bildtheoretischen Konzept des Rahmens ist jenes des Fensters, das seit Leon Battista Albertis Metapher des aperta finestra (‚offenes Fenster‘) für bildtheoretische Überlegungen prägend ist (vgl. Wiesing 2005: 99f.). Mit Blick auf Computer und insbesondere das Betriebssystem Windows konstatiert Wiesing:
„Ein Monitor ist ein Display zur Präsentation von Dingen – doch nicht zur Präsentation von realen Dingen, sondern von virtuellen Dingen. Windows sind in diesem Sinne wirkliche Schaufenster, durch die man in einen Raum mit artifiziell anwesenden Dingen sieht.“ (ebd.: 105)
Blicken wir auf (bzw. ‚durch‘) VR-Brillen, so ist der physische Bildträger zwar durchaus leiblich wahrnehmbar präsent (es lässt sich kaum vollständig ausblenden, ein solches System am eigenen Leib zu tragen), allerdings bewirkt das Head Mounted Display (HMD) in der Wahrnehmungssituation, dass das betrachtende Subjekt „[d]urch keine Bewegung des Kopfes […] seinen Blick über einen Rahmen hinaus aus dem Bild führen“ (ebd.: 108) kann. Hinsichtlich VR (und ebenfalls Panorama-Bildern) sind es nicht nur Bewegungen des Kopfes, die den Blick nicht aus dem Rahmen herausführen können; stattdessen kann das Subjekt durch keine leibliche Bewegung aus dem Rahmen bzw. aus dem Bildraum heraustreten. Dementsprechend muss auch die sinnliche Leiblichkeit des Subjekts in solchen (Bild )Wahrnehmungssituationen im Fokus stehen.
Hinsichtlich der VR sowie auch des Panoramas lässt es sich jeweils als noch möglich beschreiben, einen Rahmen zu adressieren, auch wenn er seine Anwesenheit durch Bedingungen, die einen Blick ‚am Rahmen vorbei‘ unmöglich machen, verschleiert. Für idealtypische AR-Hardwaremanifestationen wie optical see-through HMDs[8] lässt sich nun konstatieren, dass der Rahmen in der Wahrnehmung des Subjekts tendenziell[9] aufgelöst wird. Es mag sogar von einem Wegfallen des Bildträgers gesprochen werden (van der Veen 2021: 1190). Dies ist auf Ebene der Wahrnehmung zwar schlüssig, doch stellt auch ein Halbsilberspiegelsystem eines solchen HMD noch einen physischen Bildträger dar; nur wird dieser derart transparent, dass er in der Wahrnehmung nicht mehr in Erscheinung treten kann und so tatsächlich Husserls Widerstreit bei dieser bildgebenden Technologie ‚auf dem Spiel steht‘ (vgl. ebd.: 1191). Die Umwelt scheint dann der Bildträger zu sein – es ließe sich vom perzeptiven Bildträger sprechen – und wird so zur (Ko-)Bedingung der Bilderscheinung (vgl. ebd.). So lässt sich weniger von einem Wegfallen des Bildträgers sprechen, sondern von einer Verdopplung, da wir es nun mit einem perzeptiven Bildträger und dem noch immer physisch anwesenden empirischen Bildträger in Form des HMD zu tun haben.[10] Diese – zumindest partiellen – Verschleierungen oder perzeptuellen Auflösungen des Rahmens durch die beiden ‚Medientechnologien des Virtuellen‘ haben Auswirkungen auf die leibliche Bildwahrnehmung des Subjekts in den jeweils verschiedenen Rezeptionssituationen. Dies rückt im Folgenden in den Fokus der Betrachtung.
Leibliche Bildwahrnehmung digital-virtueller und ‚erweiterter‘ Welten
Mit Blick auf ‚Virtuelle Realitäten‘ schreibt Philippe Quéau dem digital-virtuellen Simulationsbild einen Illusionscharakter zu, während er den menschlichen Körper dabei als „unsere sicherste Verbindung zur Realität“ (Quéau 1995: 62) beschreibt:
„Der Körper bleibt der Garant des Wirklichen, wird aber auch zur Schnittstelle zwischen dem Reellen und dem Virtuellen […] Der Körper ist nicht virtuell, er ist fleischlich, die Verkörperung des Wirklichen selbst, unseres Gefühls ‚auf der Welt‘ zu sein. Doch er ist auch die Beute der Illusionen unserer Sinne.“ (ebd.)
Eng verbunden mit der Differenz von ‚fleischlicher‘ Realität und virtueller ‚Illusion‘ zeigt sich nach Quéau die Differenzierung von Ort und Raum. Während der Raum in verschiedenen Manifestationen auftreten kann, sei das Konzept des Ortes geknüpft an das (reale) Vorhandensein von etwas: „Der Ort gehört zur Sache, die sich ‚da‘ befindet, er ist ein Attribut der Sache“ (ebd.: 63). Phänomenologische Termini der Beschreibung menschlichen Daseins, wie Heideggers In-der-Welt-Sein und Merleau-Pontys Zur-Welt-Sein, explizieren durch diese Verortung des Menschen in der Welt auch die Verknüpfung des ‚Vor-Ort-Seins‘ mit dem Sein, das immer in der Realität zu verorten ist und dem kein (virtuelles) Als-ob anhaftet. „Der virtuelle Raum“, so Quéau, sei „gewiß kein Ort, kein topos“ (ebd.: 64), denn der Ort, der zum Subjekt gehört, dort, wo das Subjekt ist, ist nicht ‚virtuell ‘: „Im Virtuellen sind wir nicht da, wo wir sind, wir sind dort, wo wir handeln, wo wir betrachten, da, wo wir denken, wo sich das Objekt unseres Begehrens oder unseres Willens befindet“ (ebd.). Hier wird deutlich, wieso das Virtuelle der Virtual Reality oftmals als Illusion adressiert wird, denn die Trennung des menschlichen Daseins vom eigenen Handlungs- und Wahrnehmungsraum scheint in einer ‚normalen‘ Auffassung kaum möglich.
Quéau betrachtet digital-virtuelle Realitäten als Bilder, vor denen wir nicht mehr stehen, sondern in die wir „eintreten und in ihnen leben“ (ebd.: 62). VR-Technologien werden insbesondere in den 1990er-Jahren so als ein Mittel für einen mentalen oder perzeptuellen Eskapismus beschrieben, in deren Nutzung sich das Subjekt von der Realität abkoppele, um in eine andere Welt einzutauchen (vgl. Rötzer 1995: 21). Ein solcher Eskapismus ist auf Ebene der Wahrnehmung eben nur dann möglich, wenn wir es bei VR mit einer tatsächlich immersiven (Bild-)Technologie zu tun haben. Dieses immersive Potential wird durch die Verschleierung oder Auflösung des Rahmens in der VR konstituiert, da der Blick nicht mehr vom Bild(objekt) abgewandt werden kann. Der Gedanke des ‚Eintretens‘ in Bilder tritt jedoch nicht erst mit den immersiven Bildern des Digitalen zutage. Allerdings wird die von Husserl beschriebene Möglichkeit, sich „in das Bild hinein[zu]phantasieren“ (Husserl 2006: 175), durch die Immersionspotentiale der Virtual Reality zu einem medientechnologischen Effekt.[11]
„Das kann aber nur sagen, dass ich den Bildraum über mich und meinen Umgebungsraum ausdehne, und mich selbst unter Ausschluss der wirklichen Dinge, die ich sehe, mit ins Bild aufnehme […]. Dann ist meine Teilnahme die Teilnahme eines bildlichen Zuschauers (sie gehört zum Bildobjekt) […].“ (ebd.)
Ergänzend fügt Husserl hinzu, dass „die sinnliche Erscheinung eo ipso einen Ichstandpunkt voraussetzt“, das Subjekt der Bildbetrachtung also „immer als Bild-Ich im Bild“ ist (ebd.). Während das Bild-Ich bei klassischen Bildformen ausschließlich eine betrachtende Position einnehmen kann, konstituiert die perzeptuelle Immersion der VR ein handelndes Bild-Ich, dessen Handlungspotentiale in der Bewegung durch den Bildraum und (ergänzend dazu) in der Interaktion mit digital-virtuellen Elementen der jeweiligen VR-Anwendung zum Ausdruck kommen. Das Subjekt ‚phantasiert‘ sich hier also weniger in das Bild hinein, als dass die VR viel eher die Nutzer*innen dazu auffordert, Teil des Bildobjekts zu sein. So sind wir – mit Quéau gesprochen – in der VR eben dort, wo wir handeln und betrachten, nicht aber dort, wo wir sind. Das ‚Als-ob‘ der VR verweist so auf eine artifizielle Präsenz. Hinsichtlich eines Bildträgers, dessen vermeintliche Rahmenlosigkeit eine visuell-perzeptuelle Abkopplung des Subjekts von seiner Umwelt bewirkt, scheint es jedoch produktiv, nicht auf die artifizielle Präsenz der digital-virtuellen Bildobjekte (was zweifelsohne ebenfalls eine legitime Beschreibungsmöglichkeit der Bildsituation in VR darstellt) abzuzielen, sondern stattdessen auf die vermeintliche Präsenz des Subjekts im digital-virtuellen Bildraum. Da dieser Bildraum eben artifiziell ist und ein nicht-artifizielles Subjekt in einem solchen nicht präsent – also ‚vor Ort‘ – sein kann, verweist das Als-ob der VR aus dieser Perspektive auf die artifizielle Präsenz des Subjekts in ebendiesem Bildraum. Dies ist dann die Erfüllung perzeptueller Immersion durch Technologien der VR.[12]
So wie die ‚Auflösung‘ des Rahmens im Fall von AR-Technologie different zu derjenigen im Fall von VR beschrieben werden musste, so verhält es sich auch mit der (leiblichen) Bildwahrnehmung des Subjekts in einer AR-Wahrnehmungssituation. Werden digitale Bildobjekte für das sie wahrnehmende Subjekt durch perzeptuellen Wegfall von Rahmen und empirischem Bildträger in dessen reale Umwelt projiziert, die so nun auch als perzeptiver Bildträger fungiert, so kann von einem Bildraum – wie demjenigen der VR – kaum mehr die Rede sein. Während der Bildschirm der VR „nur einen künstlichen, […] paradoxalen Horizont [kennt]“ (Quéau 1995: 65), erscheint in der Nutzung von AR-Technologien die reale Umwelt des Subjekts als Horizont. Das bedeutet auch, dass wir – mit Quéau gesprochen – in der Bildwahrnehmung der AR nicht nur dort sind, wo wir handeln und betrachten, sondern ebenfalls dort, wo wir sind: in der uns umgebenden Realität. Ließe sich hier noch von einem ‚Bild-Ich im Bild‘ sprechen, so fände die Ausdehnung des Bildraums über das Subjekt und seine Umgebung nicht mehr ‚unter Ausschluss der wirklichen Dinge‘ statt, sondern dezidiert unter Einbezug dieser. Dies impliziert auch der Gedanke der realen Umwelt als Horizont der Bildbetrachtung. Allerdings lässt sich eben nicht von einem Bildraum der AR sprechen. Die digital-virtuellen Elemente können aufgrund ihres virtuellen Charakters nicht ‚vor Ort‘ sein und doch wollen sie uns – zugespitzt formuliert – mittels ihrer artifiziellen Materialisierung an dem Ort, an dem wir uns befinden, glauben machen, sie seien im physischen Sinne anwesend – sie seien keine Bildobjekte, sondern nur noch Dinge. AR-Medien lassen das Digital-Virtuelle in die Realität eindringen, indem sie dem Subjekt ihre Phänomene direkt vor Augen stellen. So bestünde der potentielle Illusionscharakter von AR-Phänomenen gerade nicht in der Abkopplung einer (digital-)virtuellen von der empirischen Realität, wie es bei VR der Fall ist, sondern in der Kollision des Digital-Virtuellen mit dem Realen. Das Als-ob von AR-Phänomenen besteht also ebenfalls in einer artifiziellen Präsenz und zwar in derjenigen der Phänomene in der realen Umwelt. Dieses Als-ob ist unzweifelhaft, wenn es im oben beschriebenen Sinne der Fiktion verstanden wird; wenn das Als-ob hier jedoch im Sinne einer (optischen) Illusion verstanden werden will, dann muss die Frage, ob
solchen AR-Phänomenen ein Illusionscharakter zu eigen ist, in den Blick genommen werden. Hierbei kann der zuvor eingeführte Begriff des Horizonts helfen.
Der Horizontbegriff nach Maurice Merleau-Ponty setzt die Wahrnehmung eines Gegenstandes stets in (dessen) Relation(en) zu den ihn umgebenden anderen Objekten. Ein Gegenstand ließe sich nur betrachten, „indem er andere verdeckt“, da „die Gegenstände ein System bilden“ (Merleau-Ponty 2008: 91). So würden „die umgebenden Gegenstände zum Horizont“, wenn ein Gegenstand aus ihrer Mitte zum Gegenstand der Wahrnehmung werde (ebd.: 92):
„Der Horizont also ist es, der im Forschen des Blickes die Identität des Gegenstandes gewährleistet […]. Sehen heißt ein Feld von sich zeigendem Seienden betreten […]: einen Gegenstand anblicken, heißt […] von ihm aus alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken. Doch insofern ich also auch sie sehe […] und virtuell auch schon bei ihnen mich aufhaltend, erfasse ich auch bereits den zentralen Gegenstand meines augenblicklichen Hinblicks unter verschiedenen Gesichtswinkeln. So ist jedes Ding der Spiegel aller anderen.“ (ebd.)
Im Rahmen phänomenologischer Überlegungen zu AR-Phänomenen stellt sich nun die Frage, inwiefern solche in das System der Gegenstände eingebunden sind oder ob sie ausschließlich als Irritationen in diesem System erscheinen. Gehen wir von der artifiziellen Präsenz der AR-Phänomene aus, die deren Status als Bildobjekte und somit als Nicht-Seiendes, als „ein Nichts“ (Husserl 2006: 48), widerspiegelt, so kann ein derartiges AR-Phänomen kaum als eingebunden in ein Feld von Seiendem erscheinen. Hier zeigt sich eine große Hürde, die AR-Bildphänomene nehmen müss(t)en, um als Illusionen adressiert werden zu können: Da sich ihre Erscheinung an derjenigen der realen Umwelt messen lassen muss und die Phänomene einem solchen visuellen Vergleich standhalten müssen, um ihre Artifizialität in der Wahrnehmung des Subjekts zu verschleiern, lassen sich AR-Phänomene kaum als illusionistische Erscheinungen beschreiben. So wie ‚technische Perfektion‘ als Bedingung der Möglichkeit immersiven Erlebens in ‚medialen Erlebnisräumen‘ eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Rupert-Kruse 2012), so müssten auch bildgebende AR-Technologien eine solche Perfektion erreichen, um ihre Phänomene als Illusionen erscheinen zu lassen. Dementsprechend lassen AR-Anwendungen Phänomene in Erscheinung treten, denen – auch wenn sie Kriterien wie beispielsweise die korrekte Platzierung im (Real-)Raum erfüllen – eine wahrnehmbare Irrealität zu eigen ist, die das ‚Spiegeln der anderen Dinge‘ und somit auch jegliches Illusionspotential unterläuft.
Digital-virtuelle Phänomene aus der Taufe heben: Immersion und Aspersion
In seinem Handbucheintrag zu Illusion und Immersion im Band Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (Günzel/Mersch 2014) erwähnt Stephan Günzel am Rande seiner Ausführungen ein Konzept, das als komplementär zu demjenigen der Immersion beschrieben werden kann. Während eine frühe Verwendung des Immersionsbegriffs – wie oben erwähnt – das Eintauchen von Täuflingen beschreibt, sei „[d]ie gegenläufige (Tauf-)Bewegung […] die der Aspersion (von lat. aspergere: ‚besprenkeln‘), mit der das Wasser auf die Täuflinge kommt“ (Günzel 2014: 308). Es sei, so Günzel in Anschluss an Wiesing, „das Phänomen gegeben, dass Bilder – analog dem Aspersionsgeschehen – zu einem Teil der Lebenswelt werden, sprich: in ihr (künstlich) anwesend sind“ (ebd.: 309).
Werden AR-Bildobjekte ‚in‘ die Umgebung des Subjekts projiziert und eignen zugleich aufgrund ihrer scheinbaren Präsenz in ebenjener Umgebung sowie der ästhetischen Differenz zwischen den Phänomenen und der Realität weder Zuschreibungen der Immersion noch solchen der Illusion, so scheint die Denkfigur der Aspersion das In-Erscheinung-Treten dieser Bildphänomene nahezu mustergültig zu beschreiben.[13] Dies wird womöglich noch nicht deutlich genug bei der Vorstellung eines einzelnen digital-virtuellen Bildobjekts, das in die Umgebung(swahrnehmung) des Subjekts projiziert wird, doch spätestens das simultane Erscheinen mehrerer digital-virtueller Elemente ‚vor Augen‘ des Subjekts verdeutlicht das Bild einer ‚Besprenkelung‘ der Umwelt.[14] Das Resultat dieser Besprenkelung – also das ‚Besprenkelt-sein‘ der Umwelt – präsentiert sich dem*der jeweiligen Nutzer*in in Form von im Realraum verteilten digital-virtuellen Elementen. Wird ein Vergleich aus der ‚analogen‘ bildenden Kunst bemüht, so lässt sich das Besprenkeln einer Leinwand mit einem in Farbe getauchten Pinsel anführen: das Resultat hiervon sind auf der Leinwand, also dem empirischen Bildträger, verteilte Farbflecken. Von einer Besprenkelung des empirischen Bildträgers kann im Fall von AR nicht die Rede sein, da diese Beschreibung die medial-technologischen Operationen und Prozesse einer solchen Hardware ignorieren würde. Die Umwelt des Subjekts hingegen, also der perzeptive Bildträger, erscheint in der Betrachtung durch ebendiese (in weiten Teilen transparente) Hardware ‚besprenkelt‘. Hierbei ist zu beachten, dass nicht die Umwelt selbst besprenkelt ist, sondern dem Subjekt so erscheint. Tatsächlich scheint es sinnvoller, von einer Aspersion des Sehsinns des*der Nutzer*in zu sprechen, auch wenn für ebendiese*n seine*ihre Umwelt besprenkelt erscheint.
Betrachten wir abschließend zur Reflexion über dieses Konzept der Aspersion von Bildobjekten durch AR-Technologien und sein Verhältnis zu demjenigen der Immersion das fiktionale Beispiel einer antizipierten technologisierten Kultur, in der eine massive Überlagerung der realen Umwelt durch AR-Phänomene zum Standard geworden ist.[15] Im Kurzfilm Hyper-Reality des Designers Keichii Matsuda (2016) blicken wir aus der Perspektive der Protagonistin auf eine nahezu vollständig digital-virtuell augmentierte Stadtkulisse. In manchen Bildkompositionen lässt sich kaum mehr die Umgebung der Protagonistin hinter den diversen digital-virtuellen Elementen erkennen und erst wenn das AR-System einen Defekt hat und die AR-Phänomene verschwinden zeigt sich ein im Vergleich tristes Bild jener Umgebung.
Abbildung 1: Digital-virtuell augmentierte Stadtszene im Kurzfilm Hyper-Reality (Matsuda 2016).
Abbildung 2: Perspektive der Protagonistin nach Ausfall der AR-Systems im Kurzfilm Hyper-Reality (ebd.).
Die Vorstellung einer derart massiven digital-virtuellen Augmentation der realen Umwelt durch diverse Elemente und Bildobjekte wirft wiederum die Frage auf, ob das Konzept der Aspersion hier noch eine sinnvolle Anwendung finden kann. Lassen AR-Anwendungen ein einzelnes oder ein paar wenige (Bild-)Objekte erscheinen, so scheint die Beschreibung einer ‚Besprenkelung‘ der Umwelt mit ebendiesen Phänomenen eine treffende Denkfigur darzustellen. Ist die Umwelt hinter den augmentierenden Elementen nicht oder kaum mehr wahrzunehmen, könnten hingegen (berechtigte) Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer solchen Beschreibung entstehen. Die These, die hier in den Raum gestellt werden soll, lautet, dass – zumindest hinsichtlich des Gegenstandes Augmented Reality – Aspersion durch quantitative Steigerung der ‚besprenkelnden‘ Elemente zu Immersion wird beziehungsweise werden kann. Lässt sich die (reale) Umwelt nicht mehr wahrnehmen durch eine massive Überlagerung diverser digital-virtueller Phänomene, so nähert sich Augmented Reality perzeptuell der Virtual Reality an. Dies bedeutet auch, dass bei einer solchen vorstellbaren Augmentation nun doch eher von Immersion als von Aspersion zu sprechen sein müsste. Findet also eine visuelle ‚Überflutung‘ der Umwelt durch AR-Phänomene statt, so werden auch die Sinne (bzw. vor allem der Sehsinn) des betrachtenden Subjekts zunehmend ‚überflutet‘. In der Metaphorik des (Tauf-)Wassers: Wenn ausreichend besprenkelt wurde, lässt sich eintauchen.
Das determinierende Spezifikum von Augmented Reality als (nicht nur, aber doch insbesondere) Bildmedium, das AR-Technologien auch von solchen der VR unterscheidet und die Verwobenheit des Virtuellen mit dem Realen ermöglicht, ist die perzeptive Auflösung des empirischen Bildträgers. Der Bildträger einer VR-Technologie ist eben auch – und vor allem – nach einer Lesart, der zufolge wir ‚im Bild(raum) leben‘, in seinem Verhältnis zur realen Umgebung opak, sodass die perzeptive Abkopplung des Subjekts von der Realität überhaupt erst ermöglicht wird. Hier von einer perzeptiven ‚Auflösung‘ des Bildträgers zu sprechen, scheint mindestens kontraintuitiv. Die Opazität des VR-Bildträgers ist Konstitutionsbedingung der perzeptuellen Immersion in der VR-Nutzung.
Das (vermeintlich) transparente Trägermedium der Augmented Reality und die daraus resultierende Einbettung ihrer (Bild-)Phänomene in die reale Umgebung des Subjekts mag manche*n bereits jetzt dazu verleiten, AR-Bildobjekte als (virtuelle) Objekte zu adressieren und ihnen so zumindest implizit einen Illusionsstatus zuzuschreiben. Wird zunächst – und somit dem aktuellen und kurz- bis mittelfristig erreichbar scheinenden Entwicklungsstand entsprechend – von einer Aspersion der wahrgenommenen Umwelt durch AR-Bildphänomene ausgegangen, so verweist die ästhetische Differenz jener Phänomene und dieser Umwelt eindeutig auf den artifiziellen und somit auf den zumeist bildlichen Charakter der Erstgenannten. Diese Argumentation müsste allerdings einer Überprüfung unterzogen werden, wenn die Entwicklung von AR-Technologien und Anwendungen tatsächlich in einer möglichen Zukunft massive digital-virtuelle Überlagerungen der Umwelt wie im obigen Beispiel zum Standard werden lassen sollte. Auch ohne das Erreichen einer ‚technischen Perfektion‘, die das Erscheinungsbild von AR-Phänomenen an dasjenige der empirischen Dinge angleichen würde, könnte die ästhetische Differenz zwischen empirischen und virtuellen Dingen allein durch die Quantität der AR Phänomene dem Auge zunehmend entgehen. Wenn diese in der Wahrnehmung des Subjekts eine Dichte erreichen würden, für die Termini wie ‚Immersion‘ oder ‚Überflutung‘ treffender wären als derjenige der Aspersion, da weite Teile der realen Umgebung von ihnen überlagert würden, so wäre die Legitimation einer Rede vom (perzeptuellen) Verschmelzen einer digital-virtuellen Sphäre mit der materiell-physischen zumindest denkbar.[16] Dass so der ihnen immanente Bildstatus einer Auflösung unterläge, bleibt hingegen zweifelhaft, da die ästhetische Differenz im (Wahrnehmungs-)Bewusstsein des Subjekts weiterhin Bestand hätte.
4. Plädoyer anstelle eines Fazits:
AR und die Aufgabe(n) und Grenzen der Bildwissenschaft
AR-Technologie lässt digital-virtuelle Phänomene, die in den meisten Fällen als Bildobjekte adressiert werden können, in der realen Umgebung eines Subjekts verortet in Erscheinung treten. Dabei unterläuft sie – wie (partiell) bereits die VR – die der Bildwahrnehmung immanente Duplizität, „etwas als Bild [zu] sehen sowie das [zu] sehen, was ein Bild zeigt“ (Mersch 2006: 56).
Eine bildtheoretische beziehungsweise -wissenschaftliche Perspektive auf Technologien der AR fokussiert primär auf deren Phänomene unter Einbezug der materiellen Technologie, die das Subjekt am Leibe trägt und die diese Phänomene direkt in Erscheinung treten lässt. Die aus dem Wegfall jener Duplizität resultierende Verwobenheit ihrer Phänomene mit der Umwelt als Spezifikum der AR lässt ihre Bildobjekte in direkte Relation mit ebendieser Umwelt treten – eine Relation, die über solche von Bildobjekt und Bildsujet oder Zeichen und Bezeichnetem hinausgeht. Weitere technologische Entwicklungsschritte digital-virtueller Technologien werden diesen Umstand voraussichtlich gewichtiger werden lassen: es scheint hierbei zunehmend schwieriger, Bildwahrnehmung und Dingwahrnehmung trennscharf zu differenzieren. Dementsprechend sollte die sich durch jene Technologien transformierende (resp. neu-konstituierende) Wahrnehmung nicht auf Bildwahrnehmung(en) reduziert werden. Stattdessen scheint grundlegende theoretische Arbeit, die auf die Transformation der Wahrnehmungs- und (daraus folgend) Seinsweisen des Subjekts in einer ‚augmentierten Realität‘ blickt, geboten.
Wenn die grenzmarkierende – und somit bildkonstituierende – Rahmung im Fall von bildgebenden AR-Technologien auch bereits im Wissen um ihre algorithmische und infrastrukturelle Bedingtheit besteht, so ist es auch für die Bildwissenschaft umso erstrebenswerter, diese Bedingungen ebenfalls in theoretische Untersuchungen der AR einzubeziehen und sich so einer Wesensbestimmung der Augmented Reality zumindest anzunähern. Das bedeutet nicht, dass die Bildwissenschaft ihre disziplinären Grenzen ausweiten sollte, sondern, dass eine breitere geisteswissenschaftliche Perspektive auf AR in ihrem Interesse ist; denn ein – aus einer solchen resultierendes – besseres Verständnis der technologischen Determiniertheit von AR-Bildträgern und Phänomenen kann wiederum neue Impulse für die bildwissenschaftliche Beschäftigung mit AR geben. Dies gilt nicht ausschließlich für AR, sondern für digitale Medientechnologien, die (auch) Bildphänomene hervorbringen, im Allgemeinen. So sollte die Konklusion, die William Uricchio bereits 2011 mit Blick auf algorithmische (Bild-)Anwendungen auch in AR zieht, als zunehmend dringliche Aufforderung verstanden werden.
„[T]he […] algorithmic intermediation, a reconfiguration of subject-object relations, and new dynamics for the generation of meaning and value […] suggest that something larger is at stake. […] [W]e might also begin to reflect more critically about the differences in emerging modes of representation. If nothing more, these differences offer compelling heuristic entry points to interrogate our assumptions regarding representation and to reflect upon the implications of the alternatives.” (Uricchio 2011: 34)
AR unterzieht nicht nur Subjekt-Objekt-Relationen einer Rekonfiguration, sondern ebenfalls Objekt-(Um-)Welt-Relationen und schließlich tendenziell auch Subjekt-(Um-)Welt-Relationen. Die Trias Subjekt-Medientechnologie-Welt stellt im Fall von AR-Technologien ein nicht ausschließlich in visueller Dimension komplexes relationales Gefüge dar, das auch aufgrund der drei ad hoc auszumachenden Ebenen der AR (rechnerisch-algorithmische, materielle und phänomenale) einer multiperspektivischen Betrachtung unterliegen sollte. Die Bildwissenschaft stellt in hervorzuhebender Weise Werkzeuge zur Analyse der phänomenalen Ebene der AR zur Verfügung. Zusätzlich bedarf es für ein umfassenderes Verständnis des Wesens der AR einerseits technikphilosophischer Perspektiven, um die AR in einer technologisch determinierten Sinnkultur (vgl. Hörl 2011) zu kontextualisieren, und andererseits medienphilosophischer sowie -anthropologischer Perspektiven, um ein sich potentiell konstituierendes ‚Subjekt-Technologie-Ensemble‘[17] im Zusammenspiel mit dessen Umwelt adäquat zu beschreiben.
Augmented Reality kann als mustergültige Exemplifikation einer technologischen Existenzweise dienen, in der „wir mehr denn je verflochten, verwebt, absorbiert und überschwemmt [sind] von einer außergewöhnlichen […] metamorphischen Masse, die uns immer weniger ermöglicht, zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ zu trennen und zu unterscheiden, genauso wenig wie zwischen ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ oder ‚Welt‘“ (Nancy 2011: 65). Hierbei spielen die Bildphänomene, die durch sie hervorgebracht werden und die unter den „für die Menschheitsgeschichte zweifelsohne epochalen Schritt der neuen Bilder“ (Wiesing 2005: 124) subsumiert werden können, fraglos eine wesentliche Rolle. Eine Bildwissenschaft, die diese Phänomene (als Bilder) verstehen will, sollte deren medial-technologischen Konstitutionsbedingungen stets berücksichtigen und zudem einer Extension bildlicher Charakteristika unvoreingenommen gegenüberstehen, um den neuen Bildern nicht a priori ihre Bildlichkeit abzusprechen.
Quellenverzeichnis
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Fussnoten
1 Mit Blick auf Phänomene der Virtual Reality sowie auf solche der Augmented Reality, um die es im Folgenden gehen wird, wird die Virtualitäts-Terminologie zumeist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit genutzt, um diese Phänomene von solchen der ‚Realität‘ zu differenzieren. Auch hier soll (und kann) keine weitreichende Kritik des Virtualitätsbegriffs und seiner Verwendung erfolgen. Um im Folgenden eindeutig zu machen, ob sich die Nutzung jener Terminologie an der jeweiligen Stelle auf allgemeinere, philosophische Virtualitätskonzepte bezieht oder auf Phänomene, die durch digitale Technologien hervorgebracht werden, sollen hinsichtlich Letzterer die Begriffe jeweils um denjenigen des ‚Digitalen‘ ergänzt werden. So wird bei der Thematisierung von VR– und AR-Phänomenen beispielsweise von ‚digital-virtuellen‘ Überlagerungen
o. ä. die Rede sein.
2 Die verschiedenen Schreibweisen des Terminus ‚Als-ob‘ sind den verschiedenen genutzten Quellen und ihren jeweiligen Schreibweisen geschuldet. Wenn im Folgenden nicht auf eine andere Quelle Bezug genommen wird, so soll die Schreibweise ‚Als-ob‘ genutzt werden.
3 Hartmut Winkler würde dieser Perspektive auf Medialität vermutlich nicht unumwunden zustimmen, doch lässt sich das folgende Zitat, auf das hier bereits Bezug genommen wurde, eben auch vortrefflich aus einer medienphänomenologischen Perspektive lesen: „Fiktionalität ist nur möglich, wenn ein Raum freigestellt wird, in dem, wie im Labor, ‚neue und differente Regeln gelten‘“ (Winkler 1997: 235).
4 Es bleibt hier anzumerken, dass Langes Illusionsbegriff und derjenigen, der hier hinsichtlich neuer Medientechnologien angewendet wird, nicht absolut homogen sind. Lange hat hinsichtlich der ‚Illusion‘ im Kontext bildender Kunst vor allem eine besondere Art der Abbildlichkeit im Auge. Diesbezüglich muss allerdings kein ‚perfekter‘ Realismus vorliegen, da es insbesondere um die Wirkung beim bildbetrachtenden Subjekt geht: „Aber wir schauen dieses nicht nur als materielles Kunstwerk an, sondern wir stellen uns gleichzeitig bei seiner Anschauung etwas anderes vor, nämlich das was seinen Inhalt bildet. […] Wir übersetzen das Bild mit unserer Phantasie in die Wirklichkeit“ (Lange 1907: 63). Langes Perspektive ist somit relativ typisch für Vertreter*innen einer Illusionstheorie des Bildes, die im Folgenden thematisiert wird.
5 Hierbei bleibt anzumerken, dass der Fokus im Kontext bildtheoretischer Überlegungen auf optischen beziehungsweise visuellen Illusionen liegt.
6 Der Widerstreit nimmt in Husserls Bildphänomenologie eine zentrale Stellung ein (vgl. Haardt 1995; Wiesing 1996) und lässt sich (verkürzt) als die gleichzeitige und potentiell oszillierende Wahrnehmung von physischem Bildträger und erscheinendem Bildobjekt beschreiben, die sich bei Gottfried Boehm (1994) im Begriff der „ikonischen Differenz“ wiederfindet.
7 Auf den ersten Blick stellt sich die Frage, ob Langes ‚Illusionstheorie‘ und Husserls bildphänomenologische Perspektive sich überhaupt widersprechen oder ob Langes Beschreibung der „bewußte[n] Wahrnehmung seiner illusionsstörenden Elemente [der des Kunstwerks – N.F.B.]“ als „integrierender Bestandteil des ästhetischen Genusses“ (Lange 1907: 247) womöglich durchaus mit Husserls Beschreibung des Widerstreits ‚in Einklang‘ zu bringen wäre. Dieser Frage nachzugehen, bedürfte einer tiefergehenden vergleichenden Analyse, der an dieser Stelle kein Platz eingeräumt werden kann.
8 Von ‚idealtypischen‘ AR-Hardwaremanifestationen sollte nur gesprochen werden im Fall von Hardware, die explizit für Augmented Reality entwickelt und hergestellt wird. Dass Mobile Screens, wie das allgegenwärtige Smartphone, zwar eine mögliche AR-Hardware darstellen, allerdings (auch) hinsichtlich der Bildlichkeit der von ihnen hervorgebrachten Phänomene different betrachtet werden sollten, wurde an anderer Stelle diskutiert (Becker 2023).
9 Auf der Grundlage des heutigen Entwicklungsstandes ist die Rede von einem gänzlich aufgelösten Rahmen in der Wahrnehmung des Subjekts auch hinsichtlich genuiner AR-Hardware noch nicht vollumfänglich zutreffend. Hier wird jedoch eine Tendenz skizziert, die sich in der Entwicklung(sgeschichte) von AR-Interfaces darstellt. Sollte beispielsweise die Entwicklung von AR-Kontaktlinsen, die derzeit von verschiedenen Firmen vorangetrieben wird, erfolgreich abgeschlossen werden, wäre hier potentiell die vollständige Auflösung des wahrnehmbaren Rahmens erreicht, sodass die Hardware auch im peripheren Blick nicht mehr in Erscheinung treten würde.
10 Auch diese Verdopplung wurde bereits im Vergleich verschiedener AR-Hardware hinsichtlich der jeweils von ihr hervorgebrachten Bildlichkeit beschrieben (Becker 2023).
11 Das ‚Hineinphantasieren‘ in das Bild lässt sich eher in den Kontext der psychischen oder fiktiven Immersion stellen als in den der perzeptuellen Immersion, die vom Bildträger determiniert wird.
12 Ich nehme explizit auf das Konzept der ‚artifiziellen Präsenz‘ Bezug und nicht auf das der ‚Telepräsenz‘. Dies liegt einerseits darin begründet, dass Letztere meines Erachtens unter Erstere subsumiert werden kann, während dies umgekehrt nicht der Fall ist. Andererseits laufen theoretische Ansätze zu medialer Telepräsenz tendenziell Gefahr, Telepräsenz und Medialität nahezu synonym zu verwenden, was den Versuch, einen Ariadnefaden durch das Gewirr zuweilen problematischer Terminologien zu spannen, nur weiter verkomplizieren würde. Diese Gemengelage wird zudem durch die Quantität differenter Präsenz-Konzepte deutlich, die wiederum mit zum Teil spezifischen Illusionskonzepten einhergehen (vgl. Skarbez/Brooks/Whitton 2017).
‚Virtual Reality‘ mittels des Terminus der Telepräsenz zu definieren (Steuer 1992), scheint zwar schlüssig, wenn die Vorsilbe ‚tele ‘ nicht ausschließlich auf das mediale ‚Heranrücken‘ entfernter, tatsächlicher Entitäten bezogen wird, sondern ebenso auf die medial vermittelte Wahrnehmung einer „animated but nonexistent virtual world synthezised by a computer“ (ebd.: 76). Allerdings wird sich im Folgenden zeigen, dass – auch aufgrund des starken Subjektbezugs dieses Konzepts der Telepräsenz – spätestens bei der Hinwendung zu AR-Technologien der Begriff der artifiziellen Präsenz zweckdienlicher scheint.
13 Eine ausführliche Seminardiskussion über das Konzept der Immersion und dessen Grenzen hinsichtlich VR– und insbesondere AR-Technologien mit Studierenden der TU Berlin im Wintersemester 2021/22 führte zu dem Vorschlag, eher den Aspersionsbegriff auf AR-Bildphänomene anwenden zu können als den der Immersion. Ich danke insbesondere Tobias Schiller für diesen beachtenswerten Vorschlag.
14 Hierbei ist der Akt des Besprenkelns zunächst zu vernachlässigen, da dieser für die Nutzer*innen von AR-Hardware im Sinne der (durchaus zu problematisierenden) ‚Black Box‘-Metapher im Verborgenen bleibt.
15 Ein fiktionales Beispiel wird an dieser Stelle der Darstellung einer tatsächlichen AR-Anwendung vorgezogen, um – auch und gerade in der Zuspitzung des Beispiels – die folgende Argumentation zum Verhältnis von Aspersion und Immersion in AR möglichst klar zu illustrieren. Bei ‚realen‘ AR-Anwendungen ist die gleichzeitige Darstellung diverser inhaltlich voneinander unabhängiger Elemente (noch) eher selten; allerdings kann eine solche die Idee der digital-virtuellen Besprenkelung in AR durch den impliziten Einbezug der semantischen Dimension noch vertiefend akzentuieren. So scheint das gewählte Beispiel auch die Möglichkeit zu bieten, einen antizipierenden Blick in die Zukunft augmentierter Umgebungen zu werfen.
16 Die Frage danach, ob es sich um einen graduellen Übergang von Aspersion zur Immersion handeln müsste oder ob dieser durch einen differenzmarkierenden Schwellenwert gekennzeichnet wäre, lässt sich hier nicht ohne Weiteres beantworten. Es scheint aus einer externen analytischen Perspektive kaum möglich, zu bestimmen, welche Quantität digital-virtueller Bildobjekte erreicht sein müsste, um ein Immersionserleben in AR hervorzubringen, da auch davon auszugehen ist, dass der Übergang von Aspersion zu Immersion auch von individuell-subjektiven Wahrnehmungsdispositionen, der „präobjektiven Sicht“ (Merleau-Ponty 2008: 104) des Zur-Welt-seins des Subjekts, abhängig ist.
17 Als Inspirationsquelle für dieses hier in den Raum geworfene Konzept dient weniger dasjenige des ‚Aktanten‘ der Akteur-Netzwerk-Theorie als viel eher Max Benses Idee eines ‚Mensch-Maschine-Teams‘, das er hinsichtlich der ‚Verschmelzung‘ von Auto und Fahrer*in als „eine existentielle Partnerschaft zwischen Störungen und Ängsten, zwischen maschinellen Aktionen und menschlichen Reaktionen, zwischen Signalen und Impulsen […]“ (Bense 1998: 292) beschreibt.
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Citation
Niklas Fabian Becker: Augmentierende Bilder. Zu bildlichen Erscheinungsweisen in Augmented Reality. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Band 39, 20. Jg., (1)2024, S. 53-76
ISSN
1614-0885
DOI
10.1453/1614-0885-1-2024-16217
First published online
März/2024